Det Mysterium der Übahangmandate

Wie wunderlich ist eigentlich das deutsche Bundestagswahlrecht? Die Nachwahl von Dresden hat gezeigt: Mandate können Parteien in Deutschland auch dann verlieren, wenn sie zu viele Stimmen gewinnen. Doch wie sehen die Alternativen aus?

In der Berliner Morgenpost gibt es eine Rubrik, in der „Kasupke sagt, wie es ist.“ Kasupke ist ein Berliner Taxifahrer. Nach der Dresdener Nachwahl hat er sich über „det Mysterium der Übahangmandate“ geäußert: „In Dresden wollte die CDU nich so ville Zweitstimmen, weil se dann een Mandat wenja jehabt hätte. Det ist zwar unlogisch, aba die Rechnung is uffjejangen.... Vastehn Sie det? Ick nich.“

Fühlen auch Sie mit Kasupke? Zu viele Stimmen für die CDU führen zu weniger CDU-Mandaten? Besonders einleuchtend sind die unter Wahlrechtsexperten so genannten „negativen Stimmgewichte“ wahrlich nicht.

Was könnten wir dagegen unternehmen? Man müsste das System der Überhangmandate angehen. Sie sind die „Störenfriede des Proporzes“ und letztlich die Auslöser der negativen Stimmgewichte. Beispielsweise könnten wir einführen, dass auch im Bundeswahlrecht Überhangmandate künftig ausgeglichen werden, indem die anderen Parteien entsprechend zusätzliche Sitze erhalten. So wird das in einigen Bundesländern gemacht. Dann müsste man aber einen noch größeren Bundestag hinnehmen.

Wir könnten andererseits Mandatsüberhänge länderübergreifend anrechnen und damit negative Stimmgewichte verhindern. Das würde allerdings dazu führen, dass Bundesländer ohne Überhangmandate weniger Abgeordnete stellen könnten, als es ihren Zweitstimmen entspricht. Denn bei diesen Ländern müssten die in anderen Ländern gewonnenen Überhangmandate wieder „eingespart“ werden.

Richtig zwingend sind diese Vorschläge nicht. Der Gesetzgeber ist ihnen jedenfalls auch bei der letzten großen Wahlrechtsreform 2001 nicht gefolgt. Stattdessen hat er die Wahlkreise neu geordnet.

Warum eigentlich kein Bierdeckelwahlrecht?

Unverhofft stehen wir wieder vor einer Bierdeckelfrage. Ginge das alles nicht einfacher? So, dass es auf einen Bierdeckel...? Ja, es ginge.

Es gibt auch im Wahlrecht einen Vereinfachungsexperten. Er heißt Hans Herbert von Arnim und ist Ordinarius für Parteienkritik. Zu den wichtigsten Aufgaben der neuen Bundesregierung gehört nach seiner Meinung die Einführung des Mehrheitswahlrechts nach britischem Vorbild. Von Arnim ist es nämlich ein Gräuel, dass die Parteien über ihre Landeslisten mitentscheiden, wer in den Bundestag kommt.

Wäre uns damit geholfen? In Großbritannien ist das Wahlrecht wirklich einfach. Es gibt keine Landeslisten, keine Überhangmandate und keine negativen Stimmgewichte. In jedem Wahlkreis ist derjenige Kandidat gewählt, der mehr Stimmen hat als jeder andere. Fertig. Bei drei Kandidaten beispielsweise zieht der ins Parlament ein, der 34 Prozent der Stimmen auf sich vereint, wenn die beiden anderen jeweils nur 33 Prozent erhalten haben. Wenn wir dieses einfache Wahlrecht haben wollten, müssten wir also nur die Zweitstimme abschaffen. Allerdings müssten dann die meisten sozialdemokratischen Wähler in Bayern und die christdemokratischen in Brandenburg womöglich ihr ganzes Leben lang für den Papierkorb wählen. Außerdem: Kleinere Parteien haben bei diesem Wahlrecht keine Chance.

Wollen Sie ein solches Wahlrecht? Ich nicht. Persönlich könnte ich zwar notfalls ohne PDS/Linkspartei leben, aber ohne die Grünen, die FDP und vor allem Ludwig Stiegler würde mir doch etwas fehlen.

Deshalb sollten wir die Zweitstimme und damit das Verhältniswahlrecht besser behalten. Auch bayerische Nicht-CSU-Wähler entscheiden so mit über die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages. Auf die Erststimme und damit auf das britische Element sollten wir aber ebenfalls nicht verzichten. Auch in Deutschland gewinnt in jedem der 299 Wahlkreise der Kandidat oder die Kandidatin mit den meisten Stimmen.

Über Reformen dieses Zweistimmenwahlsystems werden wir weiter nachdenken. Aber was wir auch tun: Grundlegend einfacher wird unser Wahlrecht nicht werden. Trotzdem ist es – für uns – besser als das einfache britische. Und wie so oft im Leben ist der Bierdeckel eben doch nicht die geeignete Grundlage für ein gutes Recht. Lassen wir ihn, wo er hingehört.

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