Der Worte sind genug gewechselt

Wachsende Städte, fehlende Sozialwohnungen, ungünstige soziale Mischungen, steigende Energiekosten: Über die Konturen der heutigen "Wohnungsfrage" besteht Klarheit. Kluge Konzepte gibt es auch. Jetzt müssen Taten folgen

Im 19. Jahrhundert, zur Zeit der Industrialisierung, analysierte Friedrich Engels die „Wohnungsfrage“ am Beispiel Englands als zentrale Facette der „sozialen Frage“ in kapitalistischen Gesellschaften. Wie es scheint, hat die Wohnungsfrage die Jahrhunderte überlebt: Von der Nachkriegszeit abgesehen spitzt sie sich in größeren Städten, deren Bildungs- und Arbeitsgelegenheiten bis heute Menschen von überallher anlocken, immer wieder zu. Die letzte große gesellschaftspolitische Diskussion über Wohnungspolitik fand in den siebziger und achtziger Jahren statt. Es war die Zeit der Proteste gegen Sanierungsfolgen, der Hausbesetzungen und der Wiederentdeckung kollektiven Wohnens. In der heutigen Debatte geht es um neue strukturelle Herausforderungen.

So hat sich in vielen Großstädten der Bestand an Sozialwohnungen aufgrund ausgelaufener Belegungsbindungen und unzureichenden Nachbaus dramatisch verringert. Genossenschaften, die Wohnraum zu moderaten Preisen anbieten, beginnen erst allmählich, ihre Bestände durch Neubauten zu erweitern. Die Abschaffung der Gemeinnützigkeit im Wohnungsbau hat Preissteigerungen bei vormals günstigen Mietwohnungen nach sich gezogen. Kommunale und staatliche Wohnungsbestände verkaufte man vielerorts an globale Finanzinvestoren und setzte sie damit dem freien Marktmechanismus aus – in der Hoffnung, auf diese Weise die öffentlichen Haushalte sanieren zu können. Hinzu kommt, dass im Verlauf der globalen Finanzkrise Wohnraum zum begehrten Anlageobjekt privater Investoren mit Renditeerwartungen geworden ist, was angesichts fehlender Preisregulierung zu einem rasanten Anstieg von Miet- und Kaufpreisen führt.

Das alte Ressortprinzip hilft nicht mehr weiter

Eine weitere aktuelle stadtpolitische Herausforderung besteht darin, dass gestiegene Energiekosten die Nebenkosten des Wohnens in energetisch ungünstigen Gebäuden und in Vororten, in denen es nur wenige Arbeitsangebote gibt, erhöhen. Das Wohnen in zentralen städtischen Lagen ist aufgrund komplexer Alltagsanforderungen wieder sehr attraktiv, aber nur für diejenigen bezahlbar, die sich die vergleichsweise hohen Preise der begehrten Standorte leisten können. Andere Menschen müssen mit nachteiligen Randlagen Vorlieb nehmen. Gleichzeitig führen verbreitete Niedriglöhne, Einbußen bei den realen Einkommen von Rentnern oder verlängerte Ausbildungszeiten dazu, dass immer mehr Menschen auf bezahlbaren Wohnraum angewiesen sind.

Besonders deutsche Großstädte mit prosperierenden Arbeitsmärkten sowie attraktiven Ausbildungs-, Kultur- und Dienstleistungsangeboten verzeichnen vor dem Hintergrund dieser Entwicklungsdynamik einen Bevölkerungszuwachs aller Generationen. Zwar unterscheiden sich die Ausgangsniveaus der Miethöhen, aber im Jahr 2012 betrugen die durchschnittlichen Preissteigerungen in deutschen Städten bis zu 27 Prozent. Neues Wohneigentum wandert vielfach in die Hände internationaler Anleger. Es wird – wenn überhaupt – zu saftigen Marktpreisen vermietet oder infolge der hohen Bodenpreise mühsam und unzureichend von Baugemeinschaften und lokalen Investoren erstellt.

Was die heutige „Wohnungsfrage“ kennzeichnet, ist die Überlagerung all dieser Entwicklungstendenzen. Somit hat sie eine Komplexität erreicht, die mit traditionellen wohnungspolitischen Interventionen nach dem Ressortprinzip nicht mehr adäquat bearbeitet werden kann. Staatliche Akteure reagieren darauf, indem sie die Förderung des sozialen Wohnungsbaus wiederbeleben, überzeugend konzipierte Baugemeinschaften durch begünstigte Grundstücksvergaben unterstützen und bei Wohnungsbaugenossenschaften dafür werben, sich am Neubau bezahlbaren Wohnraums zu beteiligen. Die Not des großstädtischen Wohnens ist vielfach erkannt, doch fehlt es oft an bezahlbaren Grundstücken, an verständnisvollen Nachbarn im Umfeld von Neubauvorhaben sowie an privaten Investoren, die am längerfristigen städtischen Gemeinwohl interessiert sind.

Unter diesen Voraussetzungen und angesichts des enormen Handlungsdrucks bleiben konzeptionelle Finessen vielfach auf der Strecke. In den Vordergrund rücken die Anzahl von Baugenehmigungen und die Produktion von Quadratmetern in politisch definierten Zeitabschnitten; in den Hintergrund dagegen rücken notwendige qualitative Überlegungen und Strategien, um zeitgemäßen Wohnraum zu verwirklichen. Beispielsweise setzt bezahlbares Wohnen angemessene Lösungen für den häuslichen Energieverbrauch voraus, deren Entwicklung sich noch im Experimentierstadium befindet. Und wie wichtig die soziale Mischung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen in einem Stadtgebiet ist, wissen all diejenigen, die in der Vergangenheit erfahren haben, wie teuer die Segregation einkommensschwacher Haushalte in städtischen Randgebieten langfristig werden kann.

Die Belegung von Wohnraum ist jedoch nur dann politisch steuerbar, wenn es sich dabei um öffentliches Eigentum handelt. Die Städte müssen erst wieder lernen, der Verfügung über Wohnraum höhere Priorität einzuräumen als der Beteiligung an anderen privatwirtschaftlichen Aktivitäten, schon weil sie gesetzlich verpflichtet sind, für die Kosten von Wohnungslosigkeit und wohnungsbedingter Verarmung aufzukommen. Diese Verpflichtungen schränken den kommunalen sozialpolitischen Handlungsspielraum ein und bringen somit Schwierigkeiten auf anderen Ebenen der Regulierung des urbanen Alltags mit sich.

Segregation führt zum Gegenteil von Urbanität

Darüber hinaus wird die Mischung städtischer Funktionen wieder offensiv propagiert und erprobt: Die Trennung von Schlaf- und Arbeitsstätten sowie Kultur, Bildung und Freizeit trägt nicht zu attraktiven urbanen Lebensräumen bei. Die Mischung der Funktionen ist jedoch nicht einfach zu verwirklichen: Sie erfordert Vorgaben in Bebauungsplänen für unterschiedliche kleinteilige Nutzungen, motivierende Verhandlungen mit Investoren, die Festlegung und Verwirklichung urbaner Lebensstandards und nicht zuletzt die Mitwirkung von wohnenden, besuchenden und arbeitenden „Stadtnutzern“. Kurz gesagt: Auf der Ebene der Wünsche und Erfordernisse besteht weitgehend Klarheit, Schwierigkeiten bereitet dagegen die ausreichende Verwirklichung quantitativer Notwendigkeiten – bei gleichzeitiger Berücksichtigung wesentlicher qualitativer Anforderungen.

Vor dem Hintergrund wachsender quantitativer wirtschaftlicher und räumlicher Nöte des Wohnens sind es vor allem Menschen mit niedrigen Einkommen in Großstädten mit Bevölkerungszuwachs, die vom Risiko der Verdrängung aus attraktiven, teuren Wohnlagen bedroht sind – oder die enorme Schwierigkeiten haben, überhaupt bezahlbaren Wohnraum zu finden. Betroffen sind ältere Menschen mit niedrigen (und kaum mehr veränderbaren) Einkommen, Auszubildende und Studierende ohne elterliche Zusatzbudgets, Alleinerziehende und größere Familien sowie alle Erwerbstätigen mit niedrigen Haushaltseinkommen. Im Fall einer Verdrängung aus ihrer vertrauten Wohnumgebung droht häufig ein Abbruch der gerade für diese Bevölkerungsgruppen so wichtigen sozialen Unterstützungsnetze. Steigende Mietpreise führen dazu, dass laut einer Umfrage von TNS Infratest 24 Prozent aller Mieter in Deutschland in eine günstigere Wohnung umziehen wollen. Dabei handelt es sich durchaus nicht nur um Geringverdiener: Zwei Drittel von ihnen verfügen über ein mittleres Einkommen.

Das Schlagwort „Gentrifizierung“ beschreibt die Risiken solcher Verdrängungsprozesse nicht präzise, auch weil es kaum fundierte empirische Studien zur Verdrängung von Haushalten aus ihrem bevorzugten Wohnumfeld gibt. Wenn es sie gäbe, würde man sehen, dass Ursachen und Folgen dessen, was unter diesem Begriff gefasst wird, sehr unterschiedlich und deshalb kaum verallgemeinerbar sind. Existierende Veröffentlichungen zu Prozessen der Gentrifizierung konzen­trieren sich entweder auf die inakzeptable Verdrängung von Bewohnern mit niedrigen und – neuerdings – mittleren Einkommen als Folge von Mietsteigerungen, Privatisierung oder des Abrisses von Wohnraum. Oder sie analysieren die Inwertsetzung vormals unattraktiver Wohnbausubstanz in zentralen, hoch nachgefragten Lagen. Zu Verdrängungsprozessen durch ausländische Kapitalanleger fehlt für Deutschland bislang ein systematischer Überblick.

Zudem rücken die Auswirkungen zunehmender – erwünschter beziehungsweise erzwungener – Berufs- und Freizeitmobilität auf dem Wohnungsmarkt allmählich in das wissenschaftliche und politische Blickfeld. Stichwort: „multilokale Lebenswelten“. Multilokale Wohnverhältnisse gehen in der Regel mit einer Mehrfachbelegung von Wohnraum einher. Dabei geht es entweder um eine steigende Zahl „kalter Betten“, um Mehrfachnutzungen im Rahmen von „Couch Surfing“ oder um informelle Vermietungen, gegen die die Hotelbranche zunehmend protestiert. Im Schatten der aktuellen öffentlichen Diskurse und Handlungsstrategien bleibt, abgesehen von wiederkehrender skandalisierender Medienberichterstattung, das prekäre Wohnen von Flüchtlingen und Obdachlosen, die sich in Hamburg sogar in Einrichtungen für temporäres Wohnen begegnen.

In den Städten entscheidet sich die Zukunft

Die Wohnungsfrage ist längst nicht nur ein Problem für Einzelne oder ganze Bevölkerungsgruppen, sondern auch eine stadtpolitische Herausforderung. Städte mit angespannten Wohnungsmärkten sind für dringend benötigte qualifizierte Zuwanderer nur dann attraktiv, wenn überdurchschnittliche Einkommen die hohen Wohnungskosten abfedern. Außerdem benötigen alle Städte Dienstleistungen in den Bereichen Bildung und Erziehung, Gesundheit, öffentliche Verwaltung, Handel und Gastronomie oder Sicherheit. Das Problem: Die Beschäftigten in diesen Sektoren bekommen nur niedrige oder mittlere Löhne und Gehälter. Viele Städte überlegen deshalb fieberhaft, wie sie für diese Berufsgruppen gezielt den notwendigen Wohnraum bereitstellen können, da Wohnungsnot oder lange Anfahrtswege zu den Arbeitsorten in der Stadt gerade diese wichtigen Arbeitskräfte abschrecken – und so die urbane Lebensqualität aller Bewohner einschränken.

Das System der kommunalen Finanzen bietet jedoch nur begrenzten Spielraum für lokales Handeln. Ohne rechtliche und finanzielle Unterstützung der Bundesländer und der zuständigen Bundesministerien können Großstädte die zunehmend komplexe Herausforderung der Wohnungsversorgung kaum lösen. Vor diesem Hintergrund ist es unverzichtbar, dass dem Thema Stadtentwicklung und Wohnen auf landes- und bundespolitischer sowie auf europäischer Ebene in Zukunft eine höhere praktische Relevanz verliehen wird. Gute Absichten und kluge Konzepte existieren zur Genüge. Jetzt kommt es darauf an, sie vor Ort in die Tat umzusetzen.

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