Der Strategiewechsel (2)

Warum wir Innovation endlich als sozialen Prozess begreifen müssen

Innovationen lassen sich nicht systematisch erzeugen, sondern sind auf ein bestimmtes Klima angewiesen, in dem Menschen miteinander umgehen: Die jeweilige Unternehmenskultur ist der Nährboden, auf dem neue Ideen und Innovationen wachsen – oder nicht. Genau hier liegt das Problem: In deutschen Unternehmen bleiben gute Ideen oft auf der Strecke. Denn die bei uns vorherrschende Unternehmenskultur und das Menschenbild vieler Führungskräfte stammen noch aus einer Zeit, als Militär und Kirche die Vorbilder für Entscheidungsstile lieferten.

Dass Innovationsblockaden als Vermächtnisse des industriellen Zeitalters unsere zentrale Schwachstelle im Wettbewerb sind, wird besonders dann deutlich, wenn man einmal einigen der zahlreichen Fälle nachgeht, bei denen in Deutschland geborene Erfindungen nicht bei uns, sondern zuerst in anderen Ländern zu erfolgreichen Produkten weiterentwickelt wurden. Ob Computer oder Mikroprozessor, ob Tintenstrahldrucker oder Telefax, wesentliche Elemente all dieser und vieler anderer Erfindungen stammen ursprünglich aus deutschen Labors, vielfach sind hieraus mittlerweile Milliardenmärkte erwachsen, die jedoch nicht bei uns, sondern vor allem in den Vereinigten Staaten und in Asien für zahllose neue Jobs und neue Prosperität sorgen. Ein typisches Beispiel ist der zurzeit sensationell erfolgreiche iPod: Die technische Basiserfindung MP3 stammt aus Deutschland, sie wurde in den Vereinigten Staaten zu einer Produktinnovation entwickelt, die wiederum in Asien millionenfach produziert wird. Warum bekommen gute Ideen und Erfindungen bei uns oft keine Chance?

Innovation ist das Erdenken und Ausprobieren des heute noch Unbekannten. Was man noch nicht kennt, kann man auch nicht „managen“. Innovationen erhält man nicht mit Zielvereinbarungen. Unternehmenskultur und Kreativität kann man nicht verordnen, das Neue lässt sich auch mit noch so viel Aufwand nicht erzwingen. Ideen lassen sich weder befehlen noch gibt es sie für Geld. Deshalb verpuffen auch die ganzen „Innovationsoffensiven“, „Innovationspreise“, „Innovationsmanagementseminare“ und all die anderen Innovationsvehikel zumeist als folgenlose Schauveranstaltungen. „Menschen streben von Natur aus nach Neuem“ schrieb schon Aristoteles. Diese Entdeckerneugier kann man eigentlich nur behindern. Und genau das passiert in Unternehmen. Management (und Politik) kann Innovationen nicht durch Beschlüsse und Incentives forcieren, sondern allenfalls die Bedingungen so verändern, dass Innovationen wahrscheinlicher werden. Wer wirklich Neues will, sollte deshalb nicht mit Belohnungen winken, sondern vor allem danach fragen, was Innovation behindert.

Das Schlüsselproblem Deutschlands liegt in der Tatsache, dass vielerorts die Entwicklung unserer Organisations- und Arbeitsformen nicht Schritt gehalten hat mit der rapiden Zunahme der Bedeutung des Wissens auf allen Gebieten. Weil die Wirkungen der Informatisierung bis heute oftmals nicht begriffen wurden, arbeiten bei uns die meisten Menschen noch immer in industriegesellschaftlichen Formen, die auch „tayloristisch“ genannt werden, weil sie vom Konzept der „wissenschaftlichen Betriebsführung“ Frederick W. Taylors geprägt sind, der von 1856 bis 1915 lebte.

Organisationen sind nach Taylor hierarchisch und funktional-arbeitsteilig gegliedert. Nach dem Prinzip „Wissen ist Macht“ sind Entscheidung und Ausführung strikt getrennt. Alle Planung und Veränderung – und damit auch jegliche Innovation – ist der Firmenleitung vorbehalten. Hingegen sind neue Ideen bei den Ausführenden der Arbeit unerwünscht, weil sie den streng geplanten Betriebsablauf stören könnten. Dass Taylor mit seinem Prinzip der Trennung von Hand- und Kopfarbeit weit über das Ziel sinnvoller Organisation hinausgeschossen war, wurde aber schon bald selbst bei relativ einfachen Arbeiten sichtbar. Es stellte sich heraus, dass praktisch alle Arbeiten produktiver erledigt werden, wenn man den Arbeitenden mehr Selbständigkeit und größere Handlungsspielräume gewährt, so dass sie im täglichen Learning-by-Doing ihre Tätigkeiten optimieren können. Wer alltäglich seine Arbeit macht, lernt mehr über sie als alle Spezialisten und Vorgesetzten, die sich nur gelegentlich damit befassen können.

Mit der Informatisierung aller Prozesse nimmt die Bedeutung dieses Learning-by-Doing rasant zu. Denn was mit der Erfindung von Schrift, Buchdruck, Telefon und Rundfunk begann, wird heute durch den PC und das Internet potenziert: Wissen tritt immer stärker spezialisiert auf. Das gilt für alle Bereiche der Gesellschaft, also auch für alle Bereiche eines Unternehmens. Auf diesem Hintergrund prägte Peter F. Drucker, der Begründer der modernen post-tayloristischen Managementlehre, bereits 1959 den Begriff des „Wissensarbeiters“: „Ein Wissensarbeiter ist jemand, der mehr über seine Tätigkeit weiß als jeder andere in der Organisation.“1

Wissensarbeiter sind also nicht zwangsläufig Wissenschaftler, wie oft assoziiert wird, sondern wir finden sie heute überall: der Arbeiter in der Produktion, der Fertigungsprobleme selbständig analysiert und löst; der Wartungstechniker, der seinen Arbeitstag selbst plant; der Lagerverwalter, der die Leistungsfähigkeit von Lieferanten bewertet – sie sind allesamt zumindest teilweise Wissensarbeiter. Solche Tätigkeiten sind heute nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Weil auch Vorgesetzte nur noch in seltenen Fällen die Arbeit ihrer Mitarbeiter aus eigener Erfahrung kennen, sind bei uns die meisten Menschen inzwischen „Wissensarbeiter“.

Ist Macht nur die Möglichkeit, bessere Argumente zu ignorieren?

Wissensintensive Produktion ist zunehmend auf Spezialisten angewiesen. Und diese wiederum sind auf Organisationen angewiesen, in denen sie ihr Know-how optimal mit den Kenntnissen anderer Spezialisten verbinden und in neues Wissen umsetzen können. Dafür sind hierarchische Organisationen jedoch denkbar ungeeignet, weil Wissen nicht hierarchisch strukturiert, sondern immer nur situationsabhängig entweder relevant oder irrelevant ist. Beispielsweise haben Herzchirurgen zwar einen höheren sozialen Status als Logopäden und werden auch besser bezahlt, doch wenn es um die Rehabilitation eines Schlaganfallpatienten geht, ist das Wissen des Logopäden dem des Chirurgen weit überlegen.

Organisationen für Wissensarbeit müssen diesem Sachverhalt Rechnung tragen, etwa in Form einer „Adhocratie“ (Alvin Toffler). Darunter versteht man Netzwerke, die situationsabhängig den Trägern des jeweils benötigten Wissens zeitweilige Entscheidungs- und Koordinationsbefugnis geben. Auch in einer Hierarchie wünschen sich die Führungskräfte viele Ideen, doch was passiert, wenn sie diese auch bekommen? Wenn Vorgesetzte über Ideen ihrer Mitarbeiter urteilen, wird das Prinzip „Wissen ist Macht“ oft ins Gegenteil verkehrt: Macht wird dann zur Möglichkeit, bessere Argumente zu ignorieren. Weil neues Wissen stets altes Wissen entwertet und damit immer auch die bestehenden Machtverhältnisse angreift, werden neue Ideen vielfach vorschnell verworfen. „Machtausübung ist der zentrale Misserfolgsfaktor für Innovationen, da sie den argumentativen Austausch und damit den Wissenszuwachs behindert.“2

Hierarchien fördern intern vor allem Anpassung, also das Gegenteil von Innovation. Deshalb werden sie in einer sich rasch wandelnden Umwelt früher oder später Opfer ihrer selbst erzeugten Verhaltensmuster, wie der US-Ökonom Canice Prendergast in seiner Theory of Yes Men3 bewies: Wo das eigene Fortkommen vom Urteil eines Vorgesetzen abhängt, ist die Führung früher oder später vorwiegend von pflegeleichten Jasagern umgeben. Wenn in der Folge dann vielfach Opportunismus zum Qualifikationsersatz wird, ist es zum „Management by Potemkin“ (Friedrich Weltz), dem Aufbau schöner Scheinwelten, meist nicht mehr weit. Da besonders die mittleren Ebenen gefilterte und gefärbte Informationen nach oben weiterleiten, geht die Organisation zunehmend ihrer eigenen Selbstdarstellung auf den Leim und die Spitzen verlieren mehr und mehr den Kontakt zur Realität. Am Ende steht dann vielfach der Konkurs. Nixdorf, AEG, Grundig, Borgward und Coop sind typische Beispiele für solche Entwicklungen.

In Deutschland arbeiten noch viele Unternehmen nach Effizienzregeln, die nach innen fokussiert sind und sich allein nach den Interessen der Manager richten. Deshalb findet bei uns Innovation vorwiegend top-down und technologie- statt marktgetrieben statt. Zwar werden auch bei uns Dienstleistungen immer bedeutsamer, doch unsere Innovationsprozesse orientieren sich nach wie vor an der Entwicklung materieller Produkte. Deshalb sind deutsche Unternehmen vor allem bei Investitionsgütern und solchen Industrieprodukten relativ stark, bei denen technische Leistungsmerkmale kaufentscheidend sind. Jedoch sind heute bei vielen Konsumgütern kulturell geprägte, subjektive Werte weitaus wichtiger als die bloße Funktionalität. Markenimage, Design, Individualität, Support und Event-Charakter zählen oft mehr als Megahertz, Gigabyte, Watt oder PS. Unter derart veränderten Bedingungen werden alte deutsche Erfolgsrezepte vielfach sogar zum Handicap.

Technikzentrierte Denkweisen haben bei uns eine lange Tradition. Dass unlängst Siemens als im Übrigen durchaus erfolgreicher Technologiekonzern auf dem boomenden Mobiltelefonmarkt scheiterte, ist symptomatisch für die Achillesferse vieler deutscher Unternehmen. Eine zentral gesteuerte Planung und Entwicklung vermag zwar technisch anspruchsvolle Produkte hervorzubringen, sie ist aber zu schwerfällig, um komplexe Signale aus turbulenten, unberechenbaren Käufermärkten rasch genug zu verarbeiten.

Auf die Summe der vielen kleinen Veränderungen kommt es an

Diese Schwäche vieler deutscher Firmen bei „trendigen“ Konsumgütern zeigt, dass wir bei der Betrachtung von Innovationen einen grundlegenden Perspektivwechsel brauchen, wie ihn Ulrich Wengenroth anmahnt, der die Geschichte von Innovation in Deutschland erforscht: „Eine Innovationsforschung, die nicht nur das technische Angebot vermessen, sondern die Bedingungen des Innovationserfolges am Markt verstehen will, muss darum das Paradigma des Innovationssystems aufgeben und sich auf das schwierigere, aber der heutigen Welt adäquatere der Innovationskultur einlassen.“4

Zwar hat man weithin begriffen, dass letztlich nicht die bessere Technologie, sondern der Erfolg am Markt zählt, zwar sind facettenreiche Begriffe wie „Innovations-“ oder „Unternehmenskultur“ inzwischen recht populär, gleichwohl denken beim Thema Innovation noch immer viele nur an die Arbeit in Forschungs- und Entwicklungsabteilungen. Doch Innovation ist etwas, was jederzeit und überall stattfindet – nämlich überall dort, wo jemand etwas anders macht, als er es gestern machte, wo jemand mehr tut, als er muss oder etwas anderes tut, als er sollte. Auf die Summe all dieser kleinen Veränderungen kommt es letztlich an, hieran entscheidet sich, wie beweglich und erfolgreich ein Unternehmen oder die Gesellschaft insgesamt ist. Diese Beweglichkeit ist eine Frage der „weichen Faktoren“, die im Betriebsalltag vielerorts noch immer sträflich unterschätzt werden. Genau deshalb haben wir zunehmende Probleme bei den „harten“ ökonomischen Tatsachen.

Wo etwa eine Idee qua Befehl und Gehorsam vorschnell verworfen wird, bleibt nicht nur eine Chance für neue Arbeitsplätze, sondern stets auch ein Stück Motivation auf der Strecke. Viele deutsche Unternehmen erzielen in internationalen Vergleichen der Mitarbeiter-Motivation inzwischen Negativrekorde. Die Forscher von Gallup beziffern für Deutschland die Kosten von Produktivitätsverlusten aufgrund autoritärer, demotivierender Führungsstile – zum Beispiel durch hohe Fluktuation und Krankenstände – auf jährlich 245 Milliarden Euro. Mithin ein Schaden in der Größenordnung des Bundeshaushaltes.5 Zu ähnlichen Resultaten kommen die globalen Studien von Proudfoot Consulting: Danach gehen in Deutschland aufgrund veralteter Managementkonzepte und verbreiteter Managementfehler pro Mitarbeiter und Jahr 84 Arbeitstage verloren; das entspricht 37 Prozent der Arbeitszeit oder einem Schaden von 219 Milliarden Euro (9,7 Prozent des BIP).6

Vielfalt ist die Voraussetzung von Evolution

Angesichts solcher Dimensionen wirken aktuelle Debatten über die Streichung einzelner Feiertage oder Arbeitspausen geradezu lächerlich. Zwar können derartige Zahlen nur grobe Anhaltspunkte sein – auf jeden Fall aber sind sie weitere Indizien dafür, dass die Entwicklung der Beziehungen zwischen Menschen (beziehungsweise das, was man „Unternehmenskultur“ nennt) der wichtigste Wettbewerbsfaktor ist – und zugleich unsere derzeit größte Wachstumsbarriere.

Innovationen gedeihen am besten in einer möglichst offenen Unternehmenskultur, in der Minderheiten, abweichende Meinungen und Querdenker als wertvolles Ideenpotenzial akzeptiert werden und Schutz, Freiräume und Förderung genießen. Eine möglichst bunte Mischung unterschiedlicher Wertvorstellungen, Verhaltensweisen, Erfahrungen, Traditionen, Kulturen und Ansichten ist der beste Nährboden für Ideen. Wie in der Natur, so auch im Wirtschaftsleben: Vielfalt ist eine Voraussetzung für Evolution. Wettbewerb fördert die zügige Verbreitung erfolgreicher Innovationen (Mutationen) und damit das Produktivitätswachstum. Wo hingegen alle gleich oder einer Meinung sind, herrscht Stillstand. Vor allem dort, wo es durch kluge Alters- und Geschlechtermischung bei der Teambildung gelingt, Ideenfülle mit Erfahrungswissen zu kombinieren, stehen die Chancen gut, dass die hier entstehenden Innovationen tatsächlich von der Gesellschaft angenommen werden und am Markt erfolgreich sind.

Unternehmenskultur und Verhaltensmuster sind wesentlich durch die jeweilige Struktur beeinflusst – und umgekehrt. Kulturen kann man nicht einfach verändern, Strukturen schon eher. Oft bedarf es einer krisenhaften Zuspitzung, bis die Notwendigkeit eines Strukturwandels auch an der Spitze erkannt wird und durchgesetzt werden kann. Gelingt dies, dann ändert sich auch die Kultur – also die Art und Weise, wie Menschen in einer Organisation miteinander umgehen.

Mustergültig kann man einen solchen Wandlungsprozess bei dem weltweit tätigen dänischen Hörgerätehersteller Oticon verfolgen, der 4.600 Mitarbeiter beschäftigt. Als die ersten digitalen Im-Ohr-Hörgeräte auf den Markt kamen, geriet Oticon zunächst an den Rand des Bankrotts. Erst nach einem radikalen Strukturumbau bewältigte das Unternehmen den typischen technologischen Wandel vom standardisierten Massenprodukt zu hochgradig individualisierbaren Systemen, bei denen Wertschöpfung vorwiegend aus Software und Service stammt. Dabei wurden alle Hierarchiestufen, Abteilungen, Statussymbole und sonstige Relikte der Taylor-Ära abgeschafft. Heute gibt es bei Oticon auch keine Planstellen mehr, sondern eine offene und flexible Projektorganisation, die unter dem Begriff „Spaghetti-Organisation“ Wirtschaftsgeschichte schrieb. Damit wurde ein phänomenaler Kulturwandel eingeleitet, aufgrund dessen Oticon heute die Innovationspotenziale aller Mitarbeiter viel besser ausschöpft als zuvor – weit über dem Branchendurchschnitt liegende Ergebnisse sprechen für sich und zeigen, dass radikaler Hierarchieabbau die vielleicht effektivste Form des „Innovationsmanagements“ ist. Im Jahr 2003 wurde Oticon mit dem begehrten Wirtschaftspreis „Europäisches Unternehmen des Jahres“ ausgezeichnet.

Ähnlich lehrreich ist das Beispiel Toyota. Dieses Unternehmen ist heute auf dem Weg an die Spitze der weltweiten Autoindustrie, weil man hier früh erkannte, dass die Beschäftigten die besten Experten ihrer Arbeit sind und dass man deren Potenziale viel besser ausschöpft, wenn man jeden einzelnen Mitarbeiter nicht als ausführendes „Werkzeug“, sondern als kompetenten Problemlöser vor Ort (oder als Wissensarbeiter im Sinne Druckers) betrachtet und auch so behandelt. Aufgabe der Hierarchie ist es, die Arbeiter in der Produktion zu ständiger Optimierung von Produkt und Prozess zu ermuntern und bei der Verwirklichung ihrer Vorschläge zu unterstützen. So haben die 60.000 japanischen Fabrikarbeiter im Jahr 2001 rund 650.000 Verbesserungsvorschläge gemacht, von denen 99 Prozent in die Tat umgesetzt wurden.7 Hohe Wertschätzung der Mitarbeiter(vorschläge) führt so zu hoher Wertschöpfung, und die hohe Produktqualität wiederum ist ein Indiz für hohe Motivation. Bei Toyota hat man zudem früh begriffen, dass Wissen ein besonderer „Rohstoff“ ist, der sich bei Gebrauch nicht erschöpft, sondern sogar vermehrt. Deshalb praktiziert das Unternehmen einen ungewöhnlich offenen Informationsaustausch mit sämtlichen Zulieferern. Diese Offenheit bringt allen Beteiligten Vorteile – ganz anders als dort, wo alles Innovative zunächst ängstlich als Firmengeheimnis gehütet wird.

Mitarbeiter müssen Mit-Arbeiter, Mit-Denker und Mit-Entscheider sein

Überragende Resultate erzielt Toyota mit durchaus verbreiteter Produktionstechnik auch an ausländischen Produktionsstandorten. Das zeigt: Nicht Technik oder Tarifvertrag, sondern Unternehmenskultur und Umgangsformen sind die wichtigsten Faktoren im Wettbewerb. Allerdings belegt das relativ intensiv erforschte Beispiel Toyota auch, dass man zwar Produkte und Produktionsprozesse kopieren kann, eine Unternehmenskultur aber nicht – Kulturen wachsen, wie alles Lebendige. Firmen wie Oticon oder Toyota sind heute erfolgreicher als andere, weil sie den Innovationsprozess partiell demokratisiert haben. Weil hier alle Mitarbeiter nicht nur Mit-Arbeiter, sondern zugleich auch Mit-Denker und Mit-Entscheider sind, werden innovative Potenziale weitaus besser ausgeschöpft. Auch führen Fehlerhinweise oder Kundenwünsche viel rascher zu angemessenen Veränderungen.

Da in streng hierarchischen Strukturen der Wissensaustausch vielfältig behindert wird, lernen Individuen meist weit schneller als die Organisation, der sie angehören. Deshalb sind sowohl die Mitarbeiter wie auch die Kunden solcher Organisationen ständig frustriert: Mitarbeiter dürfen nicht das tun, was sie können und die Kunden erhalten nicht das, was sie wollen. Inzwischen spitzen sich solche Probleme vielerorts massiv zu, weil individuelle Lernprozesse durch elektronische Kommunikation und neue Formen von Öffentlichkeit wie E-Mail, „Blogging“ und „Podcasting“ immens beschleunigt werden. Alte Institutionen sind dieser Dynamik oftmals nicht gewachsen. Ob Druck, Telefon, Radio, Fernsehen oder Internet – neue Kommunikationsmöglichkeiten führen stets zu gesellschaftlichen Umbrüchen, wie Marshall McLuhan vor vierzig Jahren schrieb: „Die Ausbreitung neuer Medien führte stets auch zum Untergang sozialer Formen und Institutionen und zur Entstehung neuer (...) Vor allem die Teile der Gesellschaft, die die langfristigen Wirkungen des neuen Mediums zu spät erkannten, mussten dies mit ihrem Untergang bezahlen.“8

Da sich der technologische Wandel mit der Politik oder gegen sie durchsetzen wird, kommt es darauf an, der Veränderung offen zu begegnen, um deren Möglichkeiten und Wirkungen frühzeitig erkennen und nötigenfalls beeinflussen zu können. Dabei gilt es vor allem, einen grundlegenden Umbau unserer Institutionen zu forcieren. Denn nur dort, wo es gelingt, die tayloristischen Strukturen aufzubrechen, in denen Menschen an der Entfaltung ihrer Fähigkeiten gehindert werden, besteht die Chance des Überlebens in einer Welt, in der es sich Organisationen einfach nicht mehr leisten können, ihre wertvollste Ressource in großem Stil brachliegen zu lassen.

Ob sich nun alte Strukturen wandeln oder völlig neue entstehen – auf jeden Fall liegt in den rasant wachsenden Diskrepanzen zwischen Individuum und Organisation und den daraus resultierenden Frustrationen der Schlüssel für das Entstehen einer völlig neuen Wirtschaftsweise. Deren Vorboten sind heute vor allem die im Internet agierenden Communities, wie die Open-Source-Bewegung und die zahllosen anderen Gruppen, in denen Menschen sich gegenseitig Hinweise geben und gemeinsam Probleme lösen. Die Erfolge von Linux, Apache, Mozilla, Wikipedia und vielen anderen zeigen, dass diese (Netzwerk-)Koordinationsformen geeignet sind, komplexe Produkte zu realisieren. Hier werden neue Erkenntnisse in besonders kurzer Zeit zu Innovationen verarbeitet.

Die Erfolgsformel lautet: Leistung und Ideen gegen Sinn und Anerkennung

Die elektronischen Basare sind nicht nur deshalb so erfolgreich, weil sich dort Wissen technisch sehr rasch verbreiten kann, sondern vor allem deshalb, weil hier die kulturellen Voraussetzungen des Wissensaustauschs ungleich besser sind als in den alten Organisationen. Denn die Bereitschaft von Menschen, ihr Wissen anderen oder einer Organisation zur Verfügung zu stellen, hängt ja nicht von den technischen Möglichkeiten ab, sondern von weichen Faktoren wie Vertrauen und Respekt, Anerkennung und Freiheit, Fairness und Toleranz.

Dagegen sind die altbackenen Konzepte des „betrieblichen Vorschlagswesens“ eher Indizien für Misstrauenskulturen und ein Menschenbild, das noch aus der Welt der Handarbeit stammt: Man glaubt, dass Mitarbeiter ihre Ideen nur gegen eine Prämie herausrücken. Solange der Mensch in den Bilanzen nur als Kostenfaktor auftaucht und auch so behandelt wird, dürften solche Irrwege allerdings fortbestehen. Eine vollkommen neue Art der Bewertung und Bilanzierung von Unternehmen nach ihrem intellektuellen Kapital wäre sicherlich eine weit wirksamere Methode zur Förderung von Innovatoren und Innovationen als jedes noch so ausgeklügelte Anreiz-System.

Das phänomenale Engagement der Menschen in den Communities zeigt hingegen, wie die zeitgemäße Erfolgsformel lautet: Leistung und Ideen gegen Sinn und Anerkennung. Die Wissensarbeiter haben begriffen, dass Wissensarbeit kein Nullsummenspiel ist, denn Ideen und Informationen sind wunderbare Tauschobjekte: Man kann sie weitergeben und trotzdem behalten. Deshalb profitieren alle Beteiligten von dem beständigen Wettbewerb der Ideen und den daraus entstehenden Innovationen. Ein großer Vorteil des „Innovations-Basars“ liegt in der Tatsache, dass hier Ideen faire Chancen erhalten, weil sie von Personen bewertet werden, die selbst im jeweiligen Thema zu Hause sind. Im Internet zählen keine Titel, Positionen und Statussymbole, sondern einzig die Brillanz einer Idee und die persönliche Leistung. Entscheidungsautorität, die es natürlich auch hier für viele komplexe Koordinationsaufgaben braucht, beruht im Netz in der Regel auf Kommunikations- und Sachkompetenz. Führungsfunktionen gibt es immer nur vorübergehend und auf ein Thema oder Projekt beschränkt. Das Organisationsmodell ähnelt eher dem einer Jazzband, wo einfühlsame Führungswechsel ungeahnte Synergien erwecken können.

Nutzer und Kunden wirken an Innovationen mit

Da in praktisch allen Wirtschaftsbereichen Innovationen mehr und mehr von immer besser informierten Kunden ausgehen, ist diese Form einer Kultur, in der mit Ideen und Informationen offen und sachkundig umgegangen wird, auch für die Anbieter konventioneller Produkte und Dienstleistungen äußerst lehrreich. Wie in der Open-Source-Bewegung, so sind auch in anderen Bereichen Nutzer und Kunden durchaus motiviert, mit oft großem Engagement an Innovationen und Verbesserungen mitzuwirken, da sie sich selbst davon Vorteile und individuelle Problemlösungen erhoffen.

Wenn nicht nur die Produzenten, sondern auch die Konsumenten aktiv beteiligt sind, ist die nächste Stufe in der Demokratisierung von Innovationsprozessen erreicht, wie es Eric von Hippel nennt, der am MIT seit 30 Jahren kundengetriebene Innovation erforscht.9 Kürzere Innovationszyklen und komplexere Produkte zwingen die Unternehmen ohnehin, sich vom alten Pipeline-Modell der Innovation zu verabschieden. Weltweit arbeiten viele Firmen längst mit Kunden, anderen Firmen und sogar der Konkurrenz zusammen, um komplexe Innovationen zu realisieren.

Die klassische Vorstellung, Wertschöpfung vollziehe sich allein intern im Unternehmen, ist längst überholt. Mehr und mehr Firmen erkennen, dass die Nutzer von Produkten eine der wichtigsten Innovationsquellen der Zukunft sind. Kleine neue Dienste wie etwa die SMS, aber auch bahnbrechende Entwicklungen wie das World-Wide-Web entstammen nicht den Labors der Industrie, sondern sind Erfindungen von Nutzern. Inzwischen nutzt jedes vierte Unternehmen die Konsumenten systematisch als Ideenlieferanten und Mitentwickler von Produkten, zum Beispiel, indem Kunden in ausgewählten Online-Communities gezielt angesprochen werden. Eric von Hippel hat dies zu einer systematischen Vorgehensweise weiterentwickelt, der „Lead-User-Methode“, bei der Pionieranwender Produkte für ihre speziellen Bedürfnisse weiterentwickeln und auf diese Weise Ideen einbringen, die sich in der Praxis meist als besonders pfiffig und erfolgreich erweisen.

Software ist also nur der Anfang. Die Open-Source-Konzepte sind für die „Massen-Innovation“ das, was das Fließband für die Massen-Produktion war. Offene Innovationsbörsen im Internet (beispielsweise www.innocentive.com) und der Begriff „Open Innovation“ machen zu Recht Furore (Google findet ihn derzeit 260.000 Mal), denn offene Netzwerke sind eine gute, wenn nicht sogar die optimale Koordinationsform, um das Wissen und die Ideen möglichst vieler Menschen in Wohlstand zu verwandeln.

Natürlich werden gewachsene Unternehmen nicht von heute auf morgen zu Communities, für manche Produkte und Dienstleistungen wäre dies wohl auch kaum sinnvoll. Andererseits findet sich manches, was den Erfolg der Open-Source-Kultur ausmacht, heute auch im fortschrittlichen Management. So entscheiden in manchen Unternehmen heute fachkompetente Mitarbeiter und nicht nur Vorgesetzte über die Ideen ihrer Kollegen, die diese (mitunter anonym) in „Ideenboxen“ ins firmeneigene Intranet gestellt haben. Andere Firmen eröffnen ihren Mitarbeitern größere Freiräume für informelle Kommunikation, weil man erkannt hat, dass hierarchiefreier Wissensaustausch produktiver und innovationsträchtiger ist als formelle Meetings, die oft nur Zeit und Nerven rauben. Und manche Firmen fördern heute systematisch „Corporate Storytelling“, weil das wertvolle implizite Wissen – das „Gewusst-wie“ – nicht via Datenbank, sondern durch Geschichten transportiert wird, die sich Menschen erzählen. Eine hohe Dichte solch informellen Austauschs gepaart mit kultureller Vielfalt (und Stanford) sind beispielsweise die Erfolgsfaktoren von hochinnovativen Regionen wie Silicon Valley.

Vor diesem Hintergrund ist heute eine wachsende Polarisierung zwischen innovativen und wenig innovativen Unternehmen zu beobachten. Firmen, die durch eine intelligentere Arbeitsgestaltung attraktiv für talentierte Menschen sind, werden durch deren Erfolge noch attraktiver. Talente gehen dahin, wo sie gut behandelt werden. BMW ist so ein Beispiel. Hier zahlt sich heute aus, dass man bereits in den achtziger Jahren mit Hilfe des BMFT-Programms „Arbeit und Technik“ große Projekte durchführte, um zum Beispiel durch Hierarchieabbau gezielt die Arbeitsbedingungen der Wissensarbeiter zu verbessern. Heute verwendet BMW auch spezielle Toolkits und virtuelle Werkzeugsätze, um kreative Kunden via Internet systematisch am Innovationsgeschehen zu beteiligen.

Gewerkschaften müssen sich als Anwälte innovativer Ideen verstehen

Was innovationsfördernde Arbeitsformen sind, lässt sich aus vielen betrieblichen Positiv-Beispielen ableiten. Um dies in nur wenigen Stichworten zusammenzufassen: ganzheitliche Aufgabenzuschnitte, Freiräume für Eigeninitiativen der Mitarbeiter, Toleranz gegenüber Fehlschlägen und abweichenden Meinungen, Sicherheit für die Mitarbeiter, bereichsübergreifende Teams und Netzwerke mit Rotation, vielfältig zusammengesetzte Teams (bunte Mischung von Alter, Geschlecht, Herkunft, Kultur und so weiter), keine Ausrichtung an Abteilungs- oder Bereichszielen, keine Statussymbole, horizontale statt vertikale Karrieremodelle, Offenheit und Transparenz statt Informationsfilterung sowie nicht zuletzt eine besonders intensive informelle Kommunikation.

Aus der Erkenntnis, dass Arbeits- und Organisationsgestaltung die Schlüsselfaktoren für den Markterfolg von Innovationen sind, lassen sich Win-Win-Strategien entwickeln, die sowohl den Unternehmen wie auch den Beschäftigten und ihren Organisationen nützen. Damit eröffnen sich für Gewerkschaften und Betriebsräte neue Ansatzpunkte, um Innovationsprozesse zu demokratisieren und so die alltäglichen Frustrationen vieler Beschäftigter zu mindern. Damit sie sich erfolgreich als Anwälte innovativer Ideen betätigen können, müssen Gewerkschaften die neuen Arbeitsformen allerdings selbst vorleben.

Für Gewerkschaften birgt der Spagat zwischen den Anforderungen klassischer Industriearbeit – die zwar schrumpft, aber fortbestehen wird – und denen der Wissens- oder Innovationsarbeit besondere Herausforderungen. Menschen sind nur dann innovativ, wenn man sie gewähren lässt. Wenn aber neue Arbeitsformen größere Freiheiten gewähren, brauchen nicht wenige Menschen Unterstützung, damit sie ihre Arbeit auch mit dem übrigen Leben in Einklang bringen können. Kopfarbeit ist nun einmal Arbeit ohne räumliche und zeitliche Grenzen, denn das wichtigste „Werkzeug“ ist ständig parat: Das Gehirn hat keinen Netzschalter. Um bei wissensintensiven Arbeitsformen eine vernünftige Balance zwischen Arbeit und Privatleben zu halten, bedarf es größerer Freiheiten zur individuellen Gestaltung verschiedener Lebensphasen sowie eines tariflichen Rahmensystems für neue zeitliche, räumliche und soziale Arrangements von Arbeits-, Lern- und Lebenswelt. Beispielsweise können Sabbaticals, Langzeitkonten, Weiterbildungs-, Erziehungs- und Pflegephasen helfen, demografische Probleme zu entschärfen und die Abwanderung von Fachkräften in Länder mit attraktiveren Arbeitsbedingungen zu bremsen.

Jetzt Innovationen vorantreiben statt später das Schlimmste verhindern

Für die Gestaltung der Arbeitswelt von morgen liefern nicht zuletzt die von Gewerkschaften mitinitiierten und seit vielen Jahren aktiv begleiteten Förderprogramme des Forschungsministeriums: „Innovative Arbeitsgestaltung – Zukunft der Arbeit“ sowie deren Vorläufer: „Humanisierung des Arbeitslebens“ und „Arbeit und Technik“ eine Fülle konkreter Hinweise. Noch ergiebiger sind thematisch verwandte skandinavische Programme.10 Schweden und Finnland sind heute auch deshalb erfolgreicher, weil sie für Projekte zur Arbeits- und Organisationsgestaltung seit Jahrzehnten rund zehnmal mehr pro Kopf aufwenden als wir und somit die Ergebnisse der Arbeitsforschung ungleich konsequenter umsetzen.

Besonders für Gewerkschaften lohnt es sich, durch aktive Beteiligung an solchen Programmen11 die Realisierung innovativer Arbeitsformen offensiv voranzutreiben, zumal diese auch helfen, Managementfehler und Massenentlassungen von vornherein zu vermeiden. Bildlich gesprochen: Es ist zweckmäßiger, sich aktiv an der Konstruktion von Brunnen zu beteiligen, als ständig in kräftezehrenden Rettungsaktionen zu versuchen, den bereits hineingefallenen Kindern zu helfen. Betriebsräte, die Umbauprozesse wie bei Oticon selbst aktiv betreiben, können so vorbeugend die Qualität und Sicherheit der Arbeitsplätze ihrer Kollegen beträchtlich erhöhen. Die aktuelle Besser-statt-billiger-Kampagne des IG Metall-Bezirks Nordrhein-Westfalen12 steht hierfür als positives Beispiel und zeigt zugleich, dass solche Modernisierungsoffensiven ein erfolgreicher Weg sind, um neue Mitglieder zu gewinnen.

Anmerkungen
1 Peter F. Drucker, Die postkapitalistische Gesellschaft, Düsseldorf, Wien u.a. 1993, S. 155 f.
2 Wolfgang Scholl, Innovation und Information, Göttingen 2004.
3 Canice Prendergast, A Theory of „Yes Men“, in: American Economic Review, 9/1993, S. 757-770.
4 Ulrich Wengenroth, Vom Innovationsystem zur Innovationskultur: Perspektivwechsel in der Innovationsforschung, in: Johannes Abele u.a. (Hrsg.), Innovationskulturen und Fortschrittserwartungen im geteilten Deutschland, Köln 2001, S. 23 – 32.
5 The Gallup Organization, Gallup Engagement Index 2005, Princeton und Potsdam 2005.
6 Proudfoot Consulting, Produktivitätsstudie 2005/06: Eine internationale Untersuchung der Produktivität auf Unternehmensebene, London 2005.
7 Sonja A. Sackmann, Toyota Motor Corporation: Eine Fallstudie aus unternehmenskultureller Perspektive, Gütersloh 2005.
8 Marshall McLuhan, Understanding Media, deutsche Neuausgabe: Die magischen Kanäle, Dresden 1994 (erstmals 1964).
9 Eric von Hippel, Democratizing Innovation, Cambridge: MIT-Press 2005.
10 Vgl. etwa Robert Arnkil u.a., The Finnish Workplace Development Programme – A Small Giant?, Helsinki 2003.
11 Das im Oktober 2005 vom BMBF vorgestellte Förderprogramm „Innovationsfähigkeit in einer modernen Arbeitswelt“ greift zwar einige dieser Ansätze auf, ist aber noch viel zu klein, um flächendeckende Wirkungen entfalten zu können.
12 Im Internet unter http://www.besser-statt-billiger.de.

Der erste Teil des Essays „Der Strategiewechsel“ erschien in Heft 5/2005 der Berliner Republik.

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