Der Stockholm-Konsens*

Warum Europa die Zukunft gehört

„Zusammen Haferbrei essen ist besser als Kotelett allein“, lautet die Philosophie eines Haufens von bärtigen und langhaarigen Idealisten, die nach dem Ausstieg aus dem Haifischbecken Konkurrenzgesellschaft Mitte der siebziger Jahre in einer Stockholmer Kommune ein alternatives Leben der einfachen Genüsse erproben. Sie teilen alles miteinander: ihre Körper (in offenen Beziehungen, lesbischen Experimenten, dem „Lüften“ intimer Körperteile), ihre Besitztümer (ABBA-Platten, selbst angebautes Gemüse, einen klapprigen VW-Bus), ihren Zeitvertreib (bei ihrem Lieblingsspiel „Pinochet“ mimen die Kinder der Kommunarden mit wechselnder Rollenverteilung Folterer und Opfer) und ihre gegensätzlichen Interpretationen des Marxismus-Leninismus (ein Hauptdebattenpunkt ist die Frage, ob Geschirrspülen bourgeois ist).

Aber Erik und Gustav, Lena und die anderen Protagonisten in Lukas Moodyssons feinfühligem Film Zusammen sehen sich auf die Dauer gezwungen, von der Radikalität ihrer idealistischen Grundsätze Schritt um Schritt abzuweichen. Neue Mitglieder und das gierige Konsumverlangen der jüngeren Generation höhlen den Wertekanon der Kommune aus: Das strikte Fleischverbot wird gelockert, die Anschaffung eines Fernsehapparats ist nicht länger tabu, und schließlich verlassen die Kommunarden dieser oder jener Form „bürgerlichen“ Wohllebens zuliebe einer nach dem anderen die Wohngemeinschaft. Ist der Film ein Sinnbild für die Europäische Union, deren Versuch, für die heutige Generation ein Paradies auf Erden zu schaffen, durch Globalisierung, die demographische Zeitbombe und stockendes Wirtschaftswachstum gefährdet ist?

In den Augen vieler Amerikaner ähnelt die europäische Wirtschaft einer Hippie-Kommune: Sie steckt in den siebziger Jahren fest; sie ist reformunfähig, weil jedesmal, wenn eine wichtige Entscheidung ansteht, eine wirre Diskussion beginnt, die zu keinem Ergebnis führt; und sie ist stärker an versponnenen Ideen über Lebensqualität interessiert als an der ökonomischen Leistungsbilanz. Der Erfolg wird sich erst dann einstellen, sagen diese Kritiker, wenn die EU mit niedrigeren Steuern, weniger sozialen Sicherungen, weniger Staat und präziser Ausrichtung auf den shareholder value dem Beispiel der USA folgt.

Diese in den USA gängige Auffassung hat nur einen Haken: Sie findet keinen Rückhalt in den Fakten. Schweden ist längst nicht mehr das Land von Björn Borg, ABBA, Pippi Langstrumpf, geschmacklosen Pornofilmen und noch geschmackloseren Frisuren. Die neuen Aushängeschilder seiner Wirtschaft sind weltweit führende Unternehmen wie Ikea, Ericsson, Volvo, Saab, Absolut Vodka, Astra Zeneca und Hennes & Mauritz. Um seine Bevölkerungsstatistik mit einem Erwerbstätigenanteil von 75 Prozent bei stetigem Wachstum die gesamten neunziger Jahre hindurch dürfte man Schweden in aller Welt beneiden. Jedoch bleibt es hier, anders als in den USA, bei einem niedrigen Grad sozialer Ungleichheit, hohen Steuersätzen, starken Gewerkschaften und einem großen öffentlichen Sektor.

Schweden steht nicht allein: Viele europäische Länder haben die USA bei einer ganzen Reihe von Indikatoren überflügelt – angefangen bei der Konkurrenzfähigkeit über den Beschäftigungsgrad bis hin zu Forschung und Entwicklung und Innovation. Finnland, lange Zeit ein verschlafenes Agrarland irgendwo hinterm Mond und für die meisten seiner Produkte auf den sowjetischen Markt angewiesen, rückte innerhalb nur eines Jahrzehnts unter die Ersten auf der Weltrangliste der IT- und Mobilfunkanbieter auf (Nokias Anteil am Weltmarkt für Handys beläuft sich auf 30 Prozent, das Computerbetriebssystem Linux ist der einzige ernst zu nehmende Konkurrent von Microsofts Windows). In einem ähnlichen Entwicklungsprozess ließ Irland seine agrarische Vergangenheit hinter sich und mauserte sich zum „keltischen Tiger“. Mit vermehrter Teilzeitbeschäftigung im Dienstleistungssektor plus mehr Frauenarbeit sowie mit Lohnzurückhaltung erzielten Holland und Dänemark im vergangenen Jahrzehnt statistische Bestwerte bei der Arbeitsplatzbeschaffung. Die genannten Volkswirtschaften haben bereits Nachahmer in anderen Teilen Europas gefunden: Deutschland hat seine Agenda 2010 aufgestellt, Frankreich eine ehrgeizige Strukturreform gestartet, und von Polen bis Estland reformieren die neuen EU-Mitglieder ihre Wirtschaft in erstaunlichem Tempo.

Europas Umgestaltungskraft könnte eines Tages weltweit auf den Bereich der Wirtschaft übergreifen. Mit fortschreitender Entwicklung wäre es für riesige Flächenstaaten wie Brasilien, Südafrika, Indien und die Volksrepublik China durchaus opportun, ein außergewöhnliches Wirtschaftsmodell zu erproben, das die Vorteile der Massenproduktion für einen kontinentalen Markt mit hoher Produktivität paart, der Bevölkerung die soziale Sicherheit und Gleichheit bietet, die nur solide wohlfahrtsstaatliche Arrangements zu schaffen vermögen.
Die Wertschöpfung der europäischen Volkswirtschaft tritt eher in der Lebensqualität, die der Kontinent der Allgemeinheit bietet, als in Wachstumsraten in Erscheinung, doch selbst nach den herkömmlichen Kriterien für Wirtschaftsleistung fällt die europäische Bilanz bei weitem beachtlicher aus, als ihre amerikanischen Kritiker glauben machen wollen.
Selbst während des „amerikanischen Wirtschaftswunders“ in den neunziger Jahren fielen die Lohnsteigerungen für den einzelnen Arbeitnehmer in Europa höher aus als für seinen Kollegen in den USA. Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt wuchs in Europa und Amerika in ungefähr gleichem Maß, indes mussten die Amerikaner dafür längere Arbeitszeiten und kürzere Urlaubszeiten hinnehmen als ihre europäischen Kollegen. Manche Kommentatoren gehen sogar so weit zu sagen, die amerikanische Wirtschaftsgeschichte der neunziger Jahre handle in Wahrheit nicht von einem Wirtschaftswunder, sondern von einem Defizit.
Tatsächlich mussten viele Amerikaner trotz Wirtschaftswachstums einen Einkommensrückgang hinnehmen. Das Realeinkommen von Industriearbeitern sank im Privatsektor zwischen 1973 und 1995 um 14 Prozent. Nach einem fünfprozentigen Zuwachs von 1995 bis 1999 war es dann nach der Rezession von 2001 wieder aus mit Einkommenssteigerungen. Aus den amtlichen Zahlen des US-Bundesamts für Bevölkerungsstatistik geht hervor, dass zwischen 2001 und 2004 das Realeinkommen der amerikanischen Durchschnittsfamilie um 1.511 Dollar zurückging. Das deckt die Problematik einer der unter Volkswirtschaftlern am häufigsten zitierten Zahlen auf: der Angabe nämlich, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der USA habe zwischen 1993 und 2003 jährlich um durchschnittlich 3 Prozent zugenommen, – in der Eurozone dagegen lediglich um 1,8 Prozent.

Ist Amerika tatsächlich produktiver?

In Wahrheit jedoch geht das Wachstum der amerikanischen Wirtschaft – das kommt in dem Gesamtwert 3 Prozent nicht zum Ausdruck – weniger auf verbesserte ökonomische Leistung zurück denn auf ein Bevölkerungswachstum. Die Zuwachsrate bei der Bevölkerung betrug in den neunziger Jahren in den USA durchschnittlich 1,2 Prozent jährlich gegenüber 0,5 Prozent in der Eurozone. Zieht man statt des Gesamtwerts das entsprechend bereinigte Pro-Kopf-BIP von 2,1 Prozent zum Vergleich heran, schrumpft der Vorsprung der USA auf 0,3 Prozent zusammen. Hinzu kommt, dass der Leistungsrückstand der Europäischen Union ganz allein durch die Situation in einem einzelnen Land bedingt ist, in Deutschland nämlich, wo man seit 1989 die Kosten der Wiedervereinigung zu verkraften hat. Man mag es als Mogeln bezeichnen, aber wenn man Deutschland aus den Berechnungen herausnimmt, ergeben sich für beide Kontinente die gleichen Werte, und der Abstand zwischen Amerika und Europa schrumpft auf null.

Eine weitere Fehleinschätzung liegt der Ansicht zugrunde, dass die Produktivität in den USA über den Standard der Eurozone weit, weit hinaus sei. Kevin Daly von der Investmentbank Goldman Sachs legte klar, dass der Produktivitätsstandard, gemessen in Output pro Stunde, in der Eurozone 2003 nur um 4 Prozent geringer war als in den USA, was eine leichte Verbesserung gegenüber der zehn Jahre zuvor festgestellten Relation bedeutete (der Vorsprung der USA lässt sich zu einem großen Teil aus Umgebungsbedingungen erklären: Der Einzelhandel ist in den USA in Einkaufszentren außerhalb der Stadt, in Europa weitgehend im Stadtzentrum lokalisiert). Der Output der einzelnen amerikanischen Arbeitnehmer ist insgesamt größer als der der europäischen, aber das hat einen simplen Grund: Amerikaner arbeiten länger. Im Jahr 2003 betrug die Pro-Kopf-Jahresarbeitszeit** in den USA 866 Stunden, im Europa der Fünfzehn 691 Stunden. Die Differenz ist zum großen Teil dem Umstand geschuldet, dass der Jahresurlaub des durchschnittlichen Arbeitnehmers in den USA nur 10 Tage beträgt, in mehreren europäischen Ländern dagegen 30 Tage oder mehr.

Der aktive Wohlfahrtsstaat als Chancengenerator

Der vielleicht verbreitetsten Legende zufolge hat die Produktivitätssteigerung in den USA Arbeitsplätze geschaffen, in der Eurozone dagegen Arbeitsplätze vernichtet: Im vergangenen Jahrzehnt hat die Zahl der Erwerbstätigen – das heißt selbstständig wie abhängig Beschäftigter – in den USA jährlich um 1,3 Prozent zugenommen, in der Eurozone jedoch nur um 1 Prozent. Lässt man jedoch den Sonderfall Deutschland außer Betracht, liegen die USA und die Eurozone auf das gesamte Jahrzehnt gesehen gleichauf, wobei Letztere seit 1997 die Nase vorn hat. (Die Zahl der Erwerbstätigen nahm hier um 8 Prozent zu gegenüber 6 Prozent in Amerika. Und selbst diese 6 Prozent sind aus der Sicht des Statistikers nicht ganz astrein, lassen sie doch die Tatsache unberücksichtigt, dass einem amtlichen Report zufolge ständig knapp ein Prozent der US-Bevölkerung in Haftanstalten einsitzt.) Wahr ist, dass die europäischen Länder bei der Erwerbstätigkeit von über 55-Jährigen und von Frauen weit zurückliegen, aber es stemmen sich bereits mehrere europäische Regierungen gegen den Trend zur Frühverrentung und Frühpensionierung und arbeiten an Programmen, mit denen Müttern die Rückkehr ins Arbeitsleben schmackhaft gemacht werden soll.

Die zitierten Zahlen beweisen vor allem eines: Wie falsch es ist, zwischen Beschäftigung und sozialer Gleichheit eine simple Umkehrbeziehung anzunehmen und daraus die wirtschaftspolitische Richtlinie abzuleiten, dass ein hoher Beschäftigungsstand nur über schlechte Jobqualität, Arbeitsplatzunsicherheit, schlechte Bezahlung und extreme soziale Ungleichheiten zu erreichen sei. Das Gegenteil ist wahr: Gerade die großzügigsten Wohlfahrtsstaaten – Schweden, Dänemark, Norwegen, Irland und die Niederlande – weisen die höchsten Beschäftigtenzahlen auf. Jedes einzelne dieser Länder hat die Vereinigten Staaten in punkto ökonomische Leistungsbilanz locker abgehängt. Großbritannien, Finnland, Portugal und Österreich sind mit Erwerbsquoten um die 70-Prozent-Marke den USA auf den Fersen. Woran liegt das? Daran, dass diese Länder aus der Rolle des passiven Wohlfahrtsstaats, der lediglich das Sicherheitsnetz für die Abstürzenden bereithält, übergewechselt sind in die Rolle des aktiven Wohlfahrtsstaats, der sich als Chancengenerator versteht und als solcher tätig ist.

Ein letzter Irrtum dieser Art besagt, europäische Firmen könnten ihr ökonomisches Leistungspotenzial nicht voll ausschöpfen, weil die führenden Köpfe in ihrem Einsatz für den shareholder value gebremst würden durch Verantwortlichkeiten gegenüber der Belegschaft wie der ganzen Gesellschaft. In Wirklichkeit sind von den 140 größten Unternehmen der „Fortune Gobal 500“ 61 in Europa zu Hause (50 in den USA, 29 in Asien). Und es sind europäische Unternehmen, die in Schlüsselsektoren – Energie, Telekommunikation, Luft- und Raumfahrt, Depositenbanken und Arzneimittelherstellung – der Weltwirtschaft das Tempo vorgeben. Die Erfolgsgeschichten von Vodafone, dem global player Nummer eins im Mobilfunksektor, und des Airbus-Konsortiums, das die amerikanische Boeing Company in den Schatten stellte, geben deutlich genug zu erkennen, dass amerikanische Vorstandsetagen in zukunftsträchtigen Wirtschaftssektoren hinter den europäischen Spitzenreitern herhinken.

Einer der stärksten Gründe für Europessimismus ist der allgemeine Rückgang der Geburtenraten auf dem Alten Kontinent. Das Albtraumszenario sieht ein allmähliches Ausbluten der europäischen Wirtschaft voraus, woran die ständig wachsende Zahl der Rentner schuld ist, die auf Kosten einer stetig schrumpfenden arbeitenden Bevölkerung lebt. Der Anteil der Über-60-Jährigen an der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter wuchs im Zeitraum zwischen 1965 und 2000 von 20 auf 35 Prozent. Den Prognosen zufolge wird die Zahl bis 2020 auf 47 Prozent und bis 2050 auf 70 Prozent ansteigen, was die Europäische Kommission veranlasste, für die Bevölkerungsentwicklung einen Rückgang der Wachstumsrate von derzeit ungefähr 2 Prozent auf 1,25 Prozent im Jahr 2040 zu prognostizieren.

Das höhere Renteneintrittsalter entschärft die Zeitbombe

Aber ein Trend, den die Demografen ausgemacht haben, nimmt nicht unbedingt den prognostizierten – in diesem Fall: katastrophalen – Verlauf: Bis jetzt haben sich demografische Voraussagen meist nicht bewahrheitet, – das fängt schon bei Thomas Malthus und seiner apokalyptischen Vision einer aufgrund des Bevölkerungswachstums verhungernden Menschenmasse an. Und vieles spricht dafür, dass die Schwarzseher sich auch heute im Irrtum befinden. Nach jahrelangem Sinken der Geburtenrate sind in Schweden, Dänemark, Norwegen, Großbritannien und Frankreich Anzeichen einer Trendwende zu erkennen, und andere europäische Länder lernen aus dem Beispiel der genannten. Italien, Deutschland und Spanien (drei der Länder mit niedrigsten Geburtenraten) schaffen nun finanzielle und steuerliche Anreize, die Paare dazu bewegen können, mehr Kinder zu haben. Und wie das Beispiel der Skandinavier und der Franzosen lehrt, können sachgemäße Mutterschutz- (wie auch Vaterschutz-)Gesetze und die Bereitstellung von Kinderbetreuungseinrichtungen sogar enorm viel mehr bewirken als finanzielle und steuerliche Anreize.

Auch die Rentendebatte schafft ein falsches Bild. Alle einschlägigen Untersuchungen kamen zu dem Ergebnis, dass eine so simple Maßnahme wie die Heraufsetzung des gesetzlichen Rentenalters die tickende Zeitbombe steigender Altenlastquotienten sofort zu entschärfen vermag. Einer Schätzung der Europäischen Kommission zufolge müssen die EU-Mitgliedstaaten, um die Kosten des Rentensystems in Europa stabil zu halten, es lediglich schaffen, die durchschnittliche Altersgrenze von derzeit 60 Jahren kostenneutral auf 65 Jahre anzuheben. Das ist für Politiker jeglicher Couleur eine heikle Aufgabe, aber es gibt in der EU keine Regierung, die sie nicht bereits in Angriff genommen hätte: mit – vielfach am schwedischen Modell orientierten – Rentenreformen, die den von einer überalterten Bevölkerung ausgehenden fiskalischen Druck vermindern und auf die Verlängerung des Arbeitslebens hinwirken werden.

Eine weitere Teillösung des demografischen Problems ist das Ja zur „regulierten Zuwanderung“, das heute allenthalben in Europa die vorherrschende Haltung ist. Alle europäischen Staaten rücken nun ab von ihrer bisherigen pauschalen Ablehnung der Arbeitsmigration und stellen Kriterien hinsichtlich der Qualifikation und des Einkommensanspruchs auf, nach denen Arbeitsmigranten die Zuwanderung gestattet werden kann. Ungelernte Arbeitskräfte sollen je nach Bedarf zur Behebung von saisonbedingten Engpässen am Arbeitsmarkt befristet zugelassen werden, damit der Anreiz zum illegalen Grenzübertritt entfällt.

Übrigens – und das ist hier kein ganz unwichtiger Gesichtspunkt – hat nicht allein Europa mit dem Problem zu kämpfen. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass mit fortschreitender Wirtschaftsentwicklung die Alphabetisierungsrate steigt, die soziale Position der Frauen gestärkt wird und die Geburtenhäufigkeit zurückgeht. Demnach könnte auch das Wirtschaftswachstum in China durch zunehmende Überalterung der Bevölkerung in Gefahr geraten. In den USA wird das Problem vorläufig noch durch eine höhere Geburtenrate und Zuwanderung gemildert, indes ist (zumindest im gegenwärtigen geopolitischen Klima) fraglich, ob Letztere ewig so weitergehen kann. Entscheidend ist, Mittel und Wege zu finden, den Gesamtabhängigkeitsquotient zu stabilisieren. Die EU-Staaten gehören zu den ersten Betroffenen, sie haben den Handlungsbedarf erkannt und Lösungswege beschritten.

Das Geheimnis hinter dem amerikanischen Wirtschaftswunder

Was die Zukunft der europäischen Wirtschaft angeht, liefert uns das Europäische Projekt drei Gründe für mehr Optimismus. Der erste ist der Euro, der es den EU-Ländern ermöglichen könnte, einige der Vorteile, die die Vorrangstellung des Dollars den Vereinigten Staaten eingebracht hat, an sich zu bringen. In vieler Hinsicht ist der Dollar das schmutzige Geheimnis hinter dem amerikanischen Wirtschaftswunder, denn er versetzt die einsame Supermacht in die Lage, das heimische Zahlungsbilanzdefizit auszugleichen, indem sie dem Ausland ihre schwindsüchtige Währung andreht. Mit Recht darf jedoch bezweifelt werden, dass der Rest der Welt Amerikas Verschwendungssucht auf ewige Zeiten tolerieren wird. Das Leistungsbilanzdefizit der USA beläuft sich auf 5 Prozent des BIP, wohingegen die Eurozone einen Überschuss vorzuweisen hat. In den USA betragen die Ersparnisse der privaten Haushalte heute weniger als 2 Prozent des BIP gegenüber 12 Prozent in der Eurozone, und die Gesamtverschuldung der Privathaushalte beläuft sich auf 84 Prozent des DIP (50 Prozent in der Eurozone). Das ist auf die Dauer nicht aufrechtzuerhalten –, und wie der Wirtschaftsmathematiker I. N. Herstaein bemerkte: „Was nicht immer und ewig so weitergehen kann, geht in aller Regel auch nicht so weiter.“

Noch sind annähernd zwei Drittel aller amtlichen Währungsreserven in Dollar angelegt, gleichwohl ist ein deutlicher Trend weg vom Dollar, hin zum Euro zu erkennen. Eine Reihe von Ländern hat bereits die Reserven ganz oder zum Teil in Euro umgetauscht. Derzeit kommt der Euro in den amtlichen Devisenreserven weltweit nur auf 18,7 Prozent gegenüber den 64,5 Prozent des Dollars, aber die Zeichen stehen für anhaltendes Wachstum des Euro-Anteils. Weltweit haben etwa 150 Länder ihre Währung zu einem fixen Wechselkurs an eine Referenzwährung gebunden, und für 51 von ihnen ist der Euro diese Anker- oder Referenzwährung oder zumindest eine Hauptkomponente im Referenz-Währungskorb.

Diese 51 Länder repräsentieren nur einen geringen Prozentsatz der weltweit vorhandenen Geldbestände, aber der Wechsel zum Euro beschleunigt sich: Russland stockte 2003 seine Euro-Reserven auf rund 25 Prozent seiner Währungsreserven im Gesamtwert von 65 Milliarden Dollar auf, und auch in China hat man die wachsende Bedeutung des Euro als Reservewährung erkannt. Ende 2003 kursierte das Gerücht, die OPEC-Länder dächten daran, den Erdölpreis künftig in Euro festzusetzen, weil die anhaltende Dollarschwäche ihre Erlöse schmälere und sie zur Produktionssteigerung zwinge. Ein solcher Wechsel bei der währungsgebundenen Preisfestsetzung für die bedeutendste Handelsware der Welt (12 Prozent des Welthandelsvolumens) wäre für den Euro aufgrund der damit einhergehenden gesteigerten Verwendung als Zahlungsmittel ein großer Schritt in Richtung internationale Leitwährung. Ein großer Wechsel wird sich vollziehen, wenn asiatische Zentralbanken einen Teil ihrer Reserven in Euros konvertieren. Das steht bereits auf ihrem Programm, sofern man einem führenden Exponenten der Londoner Finanzwelt glauben kann, dessen Haus eine Reihe asiatischer Zentralbanken zu seinen Kunden zählt. Romano Prodi hat mir über seine erste Begegnung mit dem chinesischen Staatspräsidenten Jiang Zemin erzählt, dass der sich fasziniert vom Euro gezeigt habe. Beim Abschied soll er gesagt haben: „Wir werden unsere Reserven aus zwei Gründen in Euros konvertieren. Erstens weil wir an eine multipolare Welt glauben. Und zweitens weil wir dabei ein gutes Geschäft machen werden.“

Sogar ökonomisch ist der Erhalt des Planeten eine sinnvolle Sache

Falls es der Euro zur globalen Reservewährung bringt, verstärkt das ganz enorm die Kontrolle der EU-Staaten über ihre wirtschaftliche Zukunft. Europa wird sich wahrscheinlich nicht die Vereinigten Staaten zum Vorbild nehmen – will sagen: wird seine Stellung als einer der Bankiers der Welt nicht dazu ausnutzen, ein gigantisches eigenes Leistungsbilanzdefizit zu finanzieren –, aber eine ordentliche Kapitalspritze für die europäische Wirtschaft dürfte zweifellos die Nachfrage anregen.
Hören wir, was der kanadische Volkswirtschaftler und Nobelpreisträger des Jahres 1999 Robert Mundell sagt: „Die Einführung des Euros könnte sich als die wichtigste Entwicklung im Weltwährungssystem erweisen, seit der US-Dollar bald nach der Gründung der amerikanischen Zentralbank, der Federal Reserve, im Jahre 1913 zur dominierenden Währung aufstieg ... Die Eurozone könnte binnen eines Jahrzehnts ohne weiteres nicht weniger als 50 Länder umfassen mit einer Bevölkerungszahl von über einer halben Milliarde und dazu ein wesentlich höheres BIP als die Vereinigten Staaten aufweisen.“

Den zweiten Grund zum Optimismus hinsichtlich der europäischen Wirtschaft finden wir im Faktor Energie. Im Wettlauf um die Beendigung der Abhängigkeit von konventionellen Energierohstoffen ist die Europäische Union den Konkurrenten Amerika und Asien weit voraus – und das macht sie zum ersten Kontinent im Zeichen der „Energieunabhängigkeit“. Hier hat man begriffen, dass die Erhaltung des Planeten für kommende Generationen nicht bloß eine existenzielle Herausforderung, sondern auch unter dem ökonomischen Gesichtspunkt eine außerordentlich sinnvolle Sache ist.

Nordamerika ist bereits der größte Erdölverbraucher der Welt, mehr als ein Viertel der Gesamtnachfrage des Jahres 2001 ging von hier aus. Zudem wird für den Erdöldurst der USA ein jährlicher Anstieg von 1,7 Prozent vorausgesagt. Für die Zunahme ist, den Voraussagen zufolge, größtenteils der Transportsektor verantwortlich, in dem Personenwagen und Kleintransporterflotten – einschließlich der Treibstoffschlucker großen Stils, der Geländewagen – das größte Verbrauchssegment darstellen.

Europa hat demgegenüber die Welt in den Wechsel zu den erneuerbaren Energiequellen eingewiesen. Es steht bereits für einen CO2-Ausstoß von bloßen 3,176 Millionen Tonnen gegenüber amerikanischen 6,016 Millionen Tonnen. Die Zahlen bedeuten, dass ein US-Bürger dreimal so viel CO2-Ausstoß produziert wie ein Europäer. Am 1. Januar 2005 startete die Europäische Union das weltweit größte und effizienteste Emissionshandelssystem für mehr als 12 000 über ganz Europa verteilte energieerzeugende und energieintensive Industriebetriebe. Es bietet Firmen eine kosteneffektive Möglichkeit, unter Einhaltung der im „Kyoto-Protokoll“ niedergelegten Klimaschutzrichtlinien ihren Schadstoffausstoß zu verringern.

Und es sind nicht wenige Länder, die entschlossen bei der Kohlendioxid-Entziehungskur mitmachen. Schweden zum Beispiel: Dort stammen nur noch 40 Prozent der verbrauchten Energie aus Mineralöl, 40 Prozent kommen aus erneuerbaren Quellen und 20 Prozent aus der Kernkraft. Im Jahr 2000 begann Schweden eine ökologische Steuerreform („grüne Steuerverschiebung“), die im Lauf von zehn Jahren die Steuerlast von Einkommen (einschließlich Profiten) auf nicht zukunftsfähigen Verbrauch, zumal auf den Verbrauch von Energie aus nicht erneuerbaren Quellen, verschieben soll. Darüber hinaus vergibt die schwedische Regierung auch „grüne Zertifikate“, um die Erzeugung von „Bioenergie“, Wind- und Solarenergie anzukurbeln.

Die europäische Wirtschaft profitiert vom Projekt Europa

Die Übertragung des Zertifizierungssystems auf die europäische Ebene ist im Gespräch. In jüngster Zeit haben wir einen Anstieg der Mineralölpreise erlebt, der die amerikanische Wirtschaft lahm legen und die Entwicklung in China und Indien bedenklich verlangsamen könnte. Und in Zukunft wird die Lage sich wahrscheinlich noch verschärfen. Nach den Schätzungen von Analysten wird bis 2020 Chinas Energieverbrauch jährlich um 3,8 Prozent, der amerikanische jährlich um 1,4 Prozent steigen. Dank ihrem derzeit niedrigen Verbrauchsniveau und einer prognostizierten mäßigen Steigerungsrate von jährlich 0,7 Prozent könnte die Europäische Union bald die Früchte ihrer „Energieunabhängigkeit“ ernten.

Vielleicht der größte Segen für die europäische Wirtschaft ist das europäische Projekt selbst. Europas Wirtschaftskraft ruht auf zwei Säulen: die eine ist die Größenordnung der gesamteuropäischen Wirtschaft, die eine Machtstellung im globalen Wirtschaftsgeschehen begründet, die zweite die hohe Qualität des Lebensstandards, den sie den Bürgern der EU zu bieten vermag. Beides erfuhr durch die fortgesetzte Integrationspolitik und Erweiterung der Europäischen Union Zunahme und Verstärkung.

Bereits die Einrichtung des Europäischen Binnenmarktes zum 1. Januar 1993 war eine enorm folgenreiche Maßnahme. Nach Einschätzung der Europäischen Kommission war das BIP der Europäischen Union 2002 um fast 2 Prozent höher, als es ohne die Einführung des Binnenmarktes gewesen wäre, und die Erwerbstätigkeit lag um 1,5 Prozent höher. Eine weitere Auswirkung war die Verdoppelung von ausländischen Direktinvestitionen in der EU, während der verstärkte Wettbewerb die Verbraucherpreise auf ein Rekordtief drückte (die Flugpreise sanken um 40 Prozent, die Telekommunikationskosten um mehr als 50 Prozent).

Die Erweiterungen könnten ebenfalls Neugestaltungseffekte zeitigen. Schätzungen der Europäischen Kommission gehen dahin, dass die bloße Tatsache des EU-Beitritts das BIP-Wachstum in den neuen Mitgliedsländern jährlich um 1,3 bis 2,1 Prozentpunkte steigern wird; in den „alten“ EU-Ländern wird die BIP-Wachstumsrate 0,7 Prozentpunkte betragen.

Eine von der Investmentbank Goldman Sachs in Auftrag gegebene Studie kam für China, Indien, Brasilien und Russland zu dem Ergebnis, dass jedes dieser Länder binnen eines halben Jahrhunderts jedes der G7-Länder (Amerika, Japan, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Kanada) an wirtschaftlicher Leistung übertreffen wird. Heute beläuft sich das BIP (in Dollar umgerechnet) jener vier auf ein Achtel des Outputs der G7-Staaten. Doch in weniger als 40 Jahren, so will die Goldman-Sachs-Studie wissen, wird der Gesamtoutput der vier den der G7 hinter sich gelassen haben.

Was Europa so stark macht

Aus diesem Befund lasen manche für die nicht allzu ferne Zukunft den Absturz Europas in die weltwirtschaftliche Bedeutungslosigkeit heraus. Aber die Goldman-Sachs-Studie liefert lediglich den Beweis dafür, wie irreführend es sein kann, zukünftige Wirtschaftsdaten zu extrapolieren ohne eine Größe wie den Effekt der europäischen Integration einzubeziehen. Die Stärke der europäischen Position in der Weltwirtschaft rührt von ihrem Bedeutungsgewicht her, das die in der EU verbundenen Volkswirtschaften als Kollektiv besitzen (und das mit jeder EU-Erweiterung zunehmen wird), nicht von der Größe der einzelnen Volkswirtschaften. Wenn Deutschland, Frankreich und Großbritannien heute mit den USA über handelspolitische Fragen und Probleme auf gleicher Augenhöhe verhandeln können, so nicht, weil sie G7-Mitglieder, sondern weil sie EU-Mitglieder sind. Es ist möglich, dass die ökonomische Leistung der einzelnen EU-Länder in Relation zum Weltmaßstab im Jahr 2050 kleiner sein wird als heute, jedoch wird die Europäische Union als Block dann wahrscheinlich noch besser dastehen, denn sie wird durch die Integration heutiger Nachbarländer weiter gewachsen sein.
Wenn die zehn neuen Mitgliedsländer die Kluft zwischen ihrem eigenen und dem westeuropäischen Lebensstandard ebenso erfolgreich schließen, wie es Irland, Spanien und Portugal nach dem Beitritt gelungen ist, wird das eine außerordentlich stimulierende Wirkung auf die gesamte europäische Wirtschaft ausüben. Eine von der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers in Auftrag gegebene Studie kam zu dem Ergebnis, dass ein solches Wirtschaftswachstum in den Beitrittsländern zu einem Szenario führen könnte, in dessen Verlauf „Europa, ungeachtet des zunehmenden Altenanteils, bei richtiger Politik seine Bedeutung in der Weltwirtschaft über die kommenden 15 Jahre sogar noch steigern könnte. Bis zum Jahr 2020 könnte es die EU zu einem Leistungsplus gegenüber den USA von zirka 45 Prozent bringen.“ Und eine EU mit 50 Mitgliedstaaten wird als Wirtschaftsmacht noch ernster genommen werden müssen als das Europa der 25.

Aber der Erfolg eines Wirtschaftsmodells erschöpft sich nicht in der Größe des BIP: Er hängt von der Fähigkeit ab, andere zur Nachahmung zu bewegen und so der Weltwirtschaft die Regeln vorzugeben. Die tatsächlichen Kosten des amerikanischen Wirtschaftsmodells kommen immer deutlicher in den Blick. Professor Robert Gordon von der Northwestern University (Evanston, Illinois) hebt hervor, dass in der Größe des amerikanischen BIP auch sehr viel unproduktiver Aufwand versteckt ist:

Privatautos statt öffentlicher Verkehrsmittel. Beispiel: Durch das miserable Angebot öffentlicher Beförderungsdienste sehen sich US-Bürger zur Anschaffung eines Autos förmlich gezwungen. Der Wert dieser Wagen wird in das amerikanische BIP einbezogen, in Europa hingegen schlagen öffentliche Verkehrssysteme nicht mit ihrem Wert für die Fahrgäste, sondern auf der Kostenseite des Verwaltungshaushalts zu Buche.

Die sozialen Kosten der Ungleichheit. Beispiel: Amerika hat ständig zirka zwei Millionen seiner Mitbürger in Gefängnissen verwahrt: Die Bau- und Betriebskosten (einschließlich der Personalkosten) der Vollzugsanstalten sind ebenfalls im BIP enthalten.

Klimaanlagen und Heizung. Krassere Klimaunterschiede – kältere Winter (außer in Florida und Kalifornien) und heißere Sommer (außer in Washington, Oregon und Kalifornien) – bedingen in den Vereinigten Staaten höhere Ausgaben der Bürger für Heizung und Klimatisierung, was keineswegs ein Element höheren Wohlstands ist, wie die Einbeziehung dieser Ausgaben in das BIP suggeriert.

Bezieht man nun in den Systemvergleich diese „versenkten Kosten“ auch tatsächlich als solche ein, dann, so Gordon, zeigt sich, dass die Westeuropäer bei lediglich drei Vierteln des individuellen Arbeitsvolumens der Amerikaner 90 Prozent von deren Einkommen haben, dazu eine ausgeglichenere Einkommensverteilung und geringere Armutsquoten. Mag sein, dass Europa in Zukunft nicht mehr Schritt hält mit der unersättlichen Konsumgier einer amerikanischen Wirtschaftsweise, die Wachstum über alles stellt, aber das europäische Wirtschaftsmodell ist gesund und kräftig genug, um den Bewohnern des Alten Kontinents eine Lebensqualität ermöglichen zu können, die zum Besten zählt, was in dieser Hinsicht auf der Welt geboten wird.

Der „Stockholm-Konsens“ als neuer Gesellschaftsvertrag

Alle europäischen Staaten reformieren heute ihre Wirtschaft im Hinblick auf ein heraufziehendes Zeitalter ökonomischer Interdependenz und bemühen sich dabei, die besten Seiten des europäischen Sozialstaatsmodells beizubehalten. Da der schwedische Staat bei so vielen dieser Vorstöße die Vorreiterrolle gespielt hat, könnte man sagen, dass ihr gemeinsamer Zielpunkt ein „Stockholm-Konsens“ ist.

Der „Stockholm-Konsens“ ist im Endeffekt nichts Geringeres als ein neuer Gesellschaftsvertrag, in dem sich ein starker und flexibler Staat verpflichtet, den Unterbau für eine innovative, offene Wissensökonomie bereitzustellen. Dieser „Unterbau“ setzt sich zusammen aus Bildungseinrichtungen, medizinischer Versorgung der Bürger, Kinderbetreuungseinrichtungen, damit die Eltern weiter am Arbeitsleben teilhaben können, und Integrationsunterricht für Zuwanderer. Die Bürger ihrerseits nutzen die Bildungs-, Ausbildungs- und Fortbildungsmöglichkeiten, sind flexibler in ihrer Lebensplanung, und Zuwanderer integrieren sich in Eigeninitiative.

Der „Stockholm-Konsens“ ist in vielem das Gegenprogramm zu dem unproduktiven Aufwand des „Washington-Konsens“: Dank einer vergleichsweise niedrigen sozialen Ungleichheit geben die Europäer weniger für die Kriminalitätsbekämpfung und den Strafvollzug aus; durch eine energieeffiziente Arbeitsweise schützt die Wirtschaft sich in gewissem Umfang vor den Folgen von Ölpreiserhöhungen; der Gesellschaftsvertrag gewährt den abhängig Beschäftigten Freizeit und bei Verlust des Arbeitsplatzes Hilfe zur Wiedereingliederung ins Arbeitsleben; dank Binnenmarkt und Euro sind die EU-Bürger Nutznießer der wirtschaftlichen Vorteile globaler Massenproduktion, ohne deswegen auf die Anpassungsfähigkeit und die Dynamik verzichten zu müssen, die sich mit Produktionseinheiten kleinerer Größenordnung verbindet.

In vielen Teilen der Welt, von China bis Brasilien, haben einzelne Staaten Perioden schnellen Wirtschaftswachstums durchlaufen und stellen sich nun dem Problem, wie für die Menschen im unteren Teil der Gesellschaftspyramide die sozialen Lebensbedingungen verbessert werden können. Der Soziologe Amitai Etzioni erklärt diesen vielerorts auf der Welt anzutreffenden Widerstand gegen das amerikanische Wirtschaftsmodell aus der kulturellen Tradition: „Während bei der westlichen Position das Individuum im Mittelpunkt steht, ist der Fokus der östlichen Kulturen eine streng geordnete Gemeinschaft.“

Mit anderen Worten: Während die Vereinigten Staaten den Musterfall einer auf fundamentale Individualrechte gegründeten und auf individuellen Wohlstand ausgerichteten Kultur verkörperten, ist in Asien das Interesse an dem Konzept der „Verantwortung“ und an der Förderung des Gemeinwohls vorherrschend. Im „Stockholm-Konsens“ hat Europa das Beste aus beiden Welten zusammengebracht: die Dynamik des Wirtschaftsliberalismus und die Stablität und wohlfahrtsstaatlichen Arrangements sozialer Demokratie. Wie schon gesagt: Mit zunehmendem Wohlstand auf der Welt und einer Lebensqualität, die über die Befriedigung der Grundbedürfnisse (Nahrung, medizinische Versorgung und so weiter) hinausgeht, wird der European way of life zum unschlagbaren Erfolgsmodell werden.

Anmerkungen

* Nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus gelangte in den neunziger Jahren neoliberales Gedankengut zu hegemonialer Stellung. Im wirtschaftspolitischen Diskurs setzte sich weltweit der Washington-Konsens durch, den sein Erfinder John Williamson, Ökonom am Institute for International Economics in Washington, durch zehn wirtschaftspolitische Prioritäten definiert sah:

1. Senkung der Budgetdefizite auf ein nicht-inflationäres Niveau
2. Neue Prioritäten bei den Staatsausgaben zugunsten von Bildung, Infrastruktur und so weiter
3. Steuerreformen mit dem Ziel, Grenzsteuersätze zu senken und die Steuerbasis zu verbreitern
4. Übergang zu marktbestimmten Zinssätzen (financial liberalisation)
5. Wechselkurse, die ein schnelles Wachstum nicht-traditioneller Exporte ermöglichen
6. Außenhandel: Abbau von Mengenbeschränkungen; Zollsenkungen
7. Abbau von Barrieren für ausländische Direktinvestitionen
8. Privatisierung von Staatsunternehmen
9. Deregulierung bei start-ups, allgemeiner Abbau von Wettbewerbsbeschränkungen
10. Besserer Schutz der Eigentumsrechte, insbesondere im informellen Sektor.
„Stockholm Consensus“ nennt der Verfasser eine Vision, die er dem »Washington Consensus« entgegensetzt. (Anm. des Übers.)
** Den angegebenen Zahlen liegt die britische Definition der Pro-Kopf-Jahresarbeitszeit zugrunde: Gesamtzahl der in einem Jahr geleisteten Arbeitsstunden geteilt durch die Zahl der Gesamtbevölkerung. (In Deutschland: geteilt durch die Zahl des erwerbstätigen Teils der Bevölkerung; Anm. des Übers.)

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