Der russische Sonderweg und wir

Realpolitik gegenüber einer zweitklassigen Macht

In regelmäßigen Abständen diagnostiziert die westliche Presse, Rußland stehe am Abgrund. Zuletzt war dies im Herbst 1998 der Fall, als die Spekulationsblase der Staatsanleihen platzte und russische wie westliche Banken einen Teil des Geldes verloren, das sie zuvor mit diesen Papieren verdient hatten. Inzwischen füllen gestiegene Ölpreise die russischen Staatskassen wieder und die Warnungen sind verstummt. Was man Reformprozeß nennt, vermag nicht zu scheitern in dem Sinne, daß die seit Ende der achtziger Jahre erreichten Veränderungen ungeschehen gemacht werden könnten. Auf dem Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft hat man große Fortschritte erzielt. Rußlands Gesellschaft, seine politische Kultur unterscheiden sich jedoch von Westeuropa grundlegend. Das Land zeigt allen Umwälzungen zum Trotz ein hohes Maß an Kontinuität. Nach dem Untergang des Zarismus wie des Kommunismus behielten die neuen Machthaber wesentliche Elemente des ancien régime bei. So existiert heute kaum ein Bewußtsein dafür, daß der Zusammenbruch der Sowjetunion eine Zäsur bedeutet.

"Vergangenheitsbewältigung", die moralisch-historische Auseinandersetzung mit dem Stalinismus, findet ebenso wenig statt wie eine Überprüfung des eigenen imperialen Selbstbildes. Gerade die außenpolitische Elite pocht noch auf den Supermacht-Status des Kalten Kriegs, weshalb man nur die USA, nicht aber die EU als gleichberechtigten Partner akzeptiert. In Moskau findet man nur wenige Gesprächspartner, die offen aussprechen, was sich nicht übersehen läßt: dass Russland heute politisch, wirtschaftlich und militärisch eine zweitklassige Macht ist.

Die hypertrophe Bürokratie ist ein über Jahrhunderte gewachsenes Herrschaftsinstrument des Zentrums, um ein Riesenreich zu kontrollieren. Entsprechend hoch ist der Status der Bürokratie. Als sich in der Perestroika der Griff der Partei lockerte, machten sich Ministerien und Behörden "selbstständig": Sie sind kleine Königreiche, nur bedingt erkennen sie die Entscheidungen der anderen Fürstentümer an. Heute gibt es mehr Vorschriften denn je. Die historisch begründete Übermacht des Staates wird so zementiert. Der Einzelne ist staatlichem Handeln ausgeliefert, zumal die Gewaltenteilung nur schwach entwickelt ist.

Zur Erklärung der russischen Misere kommt man immer wieder auf die verschleppten Strukturreformen zurück, in der Wirtschaft ebenso wie in der Verwaltung und der Justiz. Staat und Gesellschaft basieren nicht auf förmlichen Rechts- und Vertragsbeziehungen. John Locke kam nie bis Moskau. Statt dessen dreht sich alles um persönliche Beziehungen. Seit jeher, auch unter den Kommunisten, haben sich viele Angelegenheiten am effektivsten durch einflußreiche Unterweltler, korrupte Beamte oder andere Mittelsleute erledigen lassen. Allenfalls die Brutalisierung der Mafia ist neu, nicht das zu Grunde liegende Prinzip. Im Dschungel der Zuständigkeiten, ohne Transparenz in Politik wie Verwaltung fließen staatliche Gelder in die Taschen weniger Nutznießer. In diesem Insider-Kapitalismus schanzen sich kleine Gruppen große Vorteile zu.

Rußland geht einen Sonderweg, geprägt durch eine über weite Strecken anders verlaufene, von Orthodoxie und Autokratie bestimmte Geschichte. Der hohe Stellenwert von Menschenwürde und Menschenrechten im Westen - Errungenschaften, die man pauschal als Erbe der Aufklärung bezeichnen könnte - sind Rußland fremd. Antiwestliche und antidemokratische Affekte gerade bei Intellektuellen sind nicht nur das Produkt eines geistigen Vakuums nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Sie stehen für eine spannungsreiche Beziehung, in der man den Westen enthusiastisch kopiert und zugleich dessen Werte als wesensfremd zurückweist.

Trotz immensen Beharrungskräften hat sich Rußland in den letzten Jahren massiv verändert. Die schon zu Sowjetzeiten nur bedingt zutreffende Vorstellung eines von Minsk bis Magadan einheitlichen Landes ist einem chaotischen Föderalismus gewichen. Die Kluft zwischen wohlhabenden Großstädten und entfernten Gegenden vergrößert sich. Während der Lebensstandard in Samara oder Jekaterinburg gestiegen ist, führen im Norden oder in Sibirien viele Menschen ein Leben unter primitivsten Bedingungen: in miserablen Behausungen, ohne Perspektive auf Besserung. Zur Fragmentarisierung der Lebensverhältnisse trat unter Jelzin die Regionalisierung der Macht. Vor allem die rohstoffreichen Provinzen eroberten so viel Autonomie als möglich.

Auch die Großunternehmer, deren Fernsehsender und Zeitungen ein Gegengewicht zu den staatlichen Medien bilden, sind Element eines Proto-Pluralismus. Ganz elementar heißt Pluralisierung auch, daß Eigeninitiative eine Chance erhält, und immer mehr Russen machen davon Gebrauch: als Kleinunternehmer, mit einem mittelständischen Gewerbe oder als Gründer eines Firmenimperiums. Die Zahl modern geführter Unternehmen wächst. Auch die Eliten verändern sich langsam. Ein jüngerer und weltoffenerer Typus tritt in Erscheinung. Allerdings, eine Civil Society als Netz von staatsunabhängigen Institutionen und Initiativen gibt es noch nicht wirklich.

Präsident Putins Innenpolitik richtet sich überdies gegen die Ansätze gesellschaftlicher Vielfalt, gegen praktizierten Föderalismus und kritische Medien. Die harte Hand des Kreml, die im Wildwuchs für Ordnung sorgt - dieses Rezept ist in Rußland altbekannt und schafft mehr Probleme, als es zu lösen vermag. Das seit 1989 entwickelte Konzept der Transformationsländer, die sich auf den Zielpunkt einer westlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung zubewegen, hat seine Schwächen. Rußland entwickelt sich durchaus in diese Richtung, doch viel langsamer und widersprüchlicher, als die Schöpfer des Modells erwarteten. 1776 benutzte Adam Ferguson den Begriff der Civil Society, und es dauerte in Westeuropa lange, bis aus dem Wort Wirklichkeit wurde.

Zwischen Selbsthaß und Selbstüberschätzung schwankend, ist Rußland ein schwieriger, manchmal unberechenbarer Partner. Um so wichtiger erscheint, daß die westliche Politik bei allem Pragmatismus einen klaren Kurs steuert. Man sollte Rußland nicht ausgrenzen, aber zugleich darf man den bei derart divergierenden Vorstellungen unvermeidlichen Konflikten nicht aus dem Weg gehen. Deutschland tut sich damit aus historischen Gründen schwer. Die für das Selbstbewußtsein der jungen Demokratien in Mitteleuropa so wichtige erste Etappe der Nato-Osterweiterung, vor der Moskau zunächst in düsteren Farben gewarnt hatte, zeigte jedoch, daß Rußland nicht realitätsblind ist. Konfrontation liegt weder politisch noch wirtschaftlich derzeit in russischem Interesse. Umgekehrt mutet man dem Westen mit dem Tschetschenienkrieg, der zu allem anderen auch noch gegen das KSE-Abrüstungsabkommen verstößt, schließlich ebenfalls einiges zu. Realpolitik auf beiden Seiten.

In der deutschen Haltung allerdings ist die Grenze zwischen Pragmatismus und Leisetreterei fließend. Die Bundesrepublik nimmt gelassen den eklatanten Rechtsbruch bei der so genannten Beutekunst hin. Berlin hat hier kluge Lösungsvorschläge gemacht, die von Moskau alle ignoriert wurden. Die auf Wirtschaftsfragen, auf Schulden und Energielieferungen zentrierte deutsche Rußlandpolitik klammert Streitfälle möglichst aus. Im Baltikum, auf dem Balkan, im Kaukasus, in Zentralasien, überall dort, wo Moskau Einfluß und Reste seines zerbrochenen Imperiums zu konservieren versucht, sind die Reibungsflächen offenkundig. Dasselbe gilt für die von Rußland hofierten offensiv-antiwestlichen Staaten.

Die USA haben daraus die Konsequenzen gezogen und Bedrohungsszenarien entwickelt, die sich nicht mehr am Kalten Krieg orientierten: Moskau ist ein Partner, mit dem man gelegentlich streitet, aber nicht mehr eine militärische Gefahr. Rußland verteidigt hingegen 30 Jahre alte Rüstungskontrollabkommen, die von Drittstaaten längst unterlaufen werden und für das russisch-amerikanische Verhältnis fast keine praktische Bedeutung mehr besitzen, nur weil jene Verträge die Fiktion einer strategischen Parität aufrechterhalten.

Die Europäer stehen unentschlossen in der Mitte. Einerseits begründen sie die Reform ihrer Armeen und den Aufbau einer EU-Streitmacht mit den Umwälzungen seit dem Fall der Berliner Mauer. Zugleich wollen sie nicht an dem aus Abkürzungen wie SALT, START und ABM zusammengefügten, verstaubten Gesamtkunstwerk der Entspannungsdiplomatie rühren. Man überläßt es Washington, eine auf die neuen Realitäten gegründete Beziehung zu Rußland auszuhandeln. Der Glaubwürdigkeit einer deutschen wie europäischen Außenpolitik, die das gewachsene Gewicht der EU zur Geltung bringen will, dient dies nicht.

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