Der Osten als Trendsetter: Veränderungen im deutschen Regierungssystem



Den Redakteuren, Herausgebern und Autoren der jetzt fünf Jahre alt gewordenen Berliner Republik ist das Kunststück gelungen, ihre Zeitschrift als anspruchsvolles politisches Diskussionsforum in einem überfüllten publizistischen Markt fest zu etablieren. Wird die Stimme der Berliner Republik, wie ich hoffe und annehme, in Zukunft noch vernehmbarer, dann könnte es vielleicht sogar sein, dass der Begriff irgendwann ausschließlich (oder in erster Linie) mit der Zeitschrift assoziiert wird und nicht mehr mit seinem ursprünglichen Bedeutungsinhalt!


Dieser ist, wenn man die zahlreichen Essays resümiert, die zu diesem Thema schon verfasst wurden, mindestens ein dreifacher. „Berliner Republik“ benennt erstens das Regierungssystem und die innere Politik des seit 1990 wiedervereinigten Deutschland. Zweitens hebt der Begriff auf die internationale Situation der Bundesrepublik ab, wobei die Vereinigung hier im Kontext der großen weltpolitischen Veränderungen – Zusammenbruch der kommunistischen Regime und Ende des Ost-West-Konflikts – gesehen werden muss. Und drittens bezieht sich „Berliner Republik“ im engeren Sinne auf die 1991 beschlossene Verlegung der Bundeshauptstadt vom Rhein an die Spree, die ausgangs der neunziger Jahre vollzogen wurde.

Veränderung innerhalb der Kontinuität

Allen drei Begriffen ist gemeinsam, dass sie die „Berliner“ zur „Bonner Republik“ in Kontrast setzen. Für einen Außenstehenden könnte dies den Eindruck erwecken, als ob die Bundesrepublik nach der Vereinigung als Staat neu gegründet worden wäre. Von einer solchen Neugründung kann bekanntlich nicht die Rede sein. Durch die Überwindung der Teilung sind weder die Verfassungsordnung noch die außenpolitischen Grundkoordinaten des Landes verändert worden. Der Unterschied zum „Übergang“ von der Weimarer zur Bonner Republik, die sich als begriffliche Analogie aufdrängt, könnte kaum größer sein. Selbst in der Hauptstadtfrage gab es im Zuge des Umzugsbeschlusses keinen kompletten Neubeginn, nachdem ein Teil der Ministerien und Bundesverwaltung in Bonn verblieben sind.

Der Begriff der „Berliner Republik“ kann sich sinnvollerweise also nur auf die Veränderungen beziehen, die innerhalb dieser grundsätzlichen Kontinuität durch die Vereinigung eingetreten sind. Solche Veränderungen zu identifizieren dürfte auch für den sozialwissenschaftlich geschulten Beobachter nicht ganz leicht sein. Zum einen läuft der Wandel ja nicht nur auf der harten Ebene materieller Entscheidungen und Fakten ab, sondern zugleich auf der Bewusstseinsebene. Zum anderen wird er von zahlreichen weiteren Faktoren beeinflusst, die mit der Vereinigung und ihren Konsequenzen oftmals gar nichts zu tun haben. So dürfte das neue außenpolitische Selbstbewusstsein, das die Bundesrepublik seit 1990 an den Tag legt, weniger auf die Vollendung ihres Nationalstaates zurückzuführen sein denn auf die Herausforderungen, mit denen das Land unter den veränderten Rahmenbedingungen der internationalen Politik konfrontiert worden ist – Herausforderungen, die andere Nationen in ganz ähnlicher Weise betreffen. Und in der Innenpolitik wäre vieles von dem, was heute als Reformanstrengung erbracht und nachgeholt werden muss, auch ohne die immensen ökonomischen Kosten auf die Tagesordnung gekommen, die der Volkswirtschaft durch die Integration der neuen Länder in das westdeutsche Wohlfahrtsstaatsmodell entstanden sind. Die Vereinigung hat diese Prozesse allenfalls beschleunigt.

Ähnliche Feststellungen lassen sich mit Blick auf das politische System treffen. So wie in anderen Bereichen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung begegnet uns hier eine unter dem Gesichtspunkt der Modernität auf den ersten Blick merkwürdige Ungleichzeitigkeit. Auf der einen Seite müssen die Ostdeutschen gewaltige Rückstände aufholen und Lernleistungen erbringen, nachdem sie im „vormundschaftlichen“ Staat der DDR ein Leben lang entmündigt worden waren. Das Problem liegt dabei übrigens nicht so sehr im mangelnden Demokratiebewusstsein, wie Beobachter aus dem Westen häufig meinen, sondern in der fehlenden Kultur der Freiheit, die vom Fortbestehen sozialistischer Wertvorstellungen kündet und bei den Menschen ein übermäßiges Sicherheitsbedürfnis erzeugt. Auf der anderen Seite eröffnet der Modernisierungsrückstand Chancen, gleich auf dem höchsten Niveau einzusteigen und damit Entwicklungen vorwegzunehmen, die sich in den alten Bundesländern erst anbahnen. Der Osten fungiert hier gewissermaßen als Trendsetter – und zwar auch in negativer Hinsicht. Unter den Wandlungstendenzen, die für die Akzeptanz und Legitimität des demokratischen Systems bedrohlich werden könnten, sind drei besonders hervorzuheben.

Das Wohlstandsgefälle wächst

- Wachsendes Wohlstandsgefälle. Die deutsche Vereinigung hat die grundgesetzliche Formel von „einheitlichen“ beziehungsweise – nach der Verfassungsänderung von 1994 – „gleichwertigen“ Lebensverhältnissen endgültig als Schimäre entlarvt. Je mehr sich diese Erkenntnis durchsetzt, umso stärker halten freilich gerade die finanzschwächeren Länder an der Forderung nach eben dieser Einheitlichkeit fest. Dabei erscheint im Interesse einer Verbesserung der Standortfaktoren genau das Gegenteil geboten – eine stärkere Selbstverantwortlichkeit (in Gestalt eigener Steuer- und Gesetzgebungskompetenzen). Ob die Reformkommission des Föderalismus in dieser Hinsicht zu substanziellen Fortschritten führt, darf nach dem derzeitigen Stand der Beratungen bezweifelt werden.

- Pluralisierung der Parteienlandschaft. Aus dem symmetrischen Vierparteiensystem der achtziger Jahre ist nach der Vereinigung ein fluides Fünfparteiensystem geworden, das die Bildung einer Regierung nach dem vertrauten Muster kleiner Koalitionen auch auf Bundesebene künftig erschweren wird. Gleichzeitig zeigen sich Anzeichen einer zunehmenden Delegitimierung des Parteiensystems. Dies hängt zum einen mit der gesellschaftlichen Entwurzelung, zum anderen mit der abnehmenden Leistungsfähigkeit der Parteien zusammen, die den von ihnen selbst erzeugten Erwartungen widerspricht. Sichtbarster Ausdruck der Unzufriedenheit sind der Rückgang der Wahlbeteiligungen, der gestiegene Anteil der Wechselwähler sowie die wachsende Quote des „abweichenden“ Stimmverhaltens, die in Ostdeutschland zuletzt bei annähernd 40 Prozent (!) lag.

- Plebiszitäre Überlagerung des politischen Prozesses. Der Wandel des Parteiensystems hat auch binnenorganisatorische Folgen. Er führt dazu, dass die Parteien führungslastiger werden und ihre strategische Planung verstärkt auf die Wahlkämpfe ausrichten. Weil die elektoralen Ziele alles andere in den Hintergrund drängen, wird die parteiliche Vermittlungsfunktion durch direkte, medial vermittelte Beziehungen zwischen Wahlvolk und Politikern überlagert. Der wachsende Einfluss der Medien zeigt sich darin, dass sie die Politik heute in einen permanenten Belagerungszustand versetzen. Die plebiszitäre Transformation sorgt zwar für mehr öffentliche Kontrolle der Regierenden, birgt aber zugleich die Gefahr, dass sich die Darstellungslogik der Entscheidungen verselbständigt und gegenüber der eigentlichen Sachlogik die Oberhand gewinnt. Darüber hinaus tragen die Medien in ihrem Hang zum Negativismus ganz unmittelbar zum Ansehensverlust der Politik bei. Der Umzug vom beschaulichen Bonn in die hektische Metropole Berlin hat diese Tendenzen zweifellos befördert.

Aus dem Elfenbeinturm in die Berliner Republik

Die Veränderungen des „neuen“ deutschen Regierungssystems werden von der Berliner Republik seit nunmehr fünf Jahren aufgespürt, offengelegt und kritisch begleitet. In der Verknüpfung von Außenbeobachtung und Insider-Perspektiven hat sich die Zeitschrift für den im Bereich der Regierungslehre arbeitenden Politologen als unschätzbare Quelle erwiesen. Zugleich bietet sie dem Wissenschaftler die Chance, mit eigenen Beiträgen und Diskussionsanstößen aus dem sprichwörtlichen Elfenbeinturm herauszutreten – was der Verfasser in der Vergangenheit gerne genutzt hat. Den Machern der Zeitschrift – allen voran Tobias Dürr – sei dafür herzlich gedankt. Ich jedenfalls kann mir eine Berliner Republik ohne Berliner Republik heute nicht mehr vorstellen!

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