Der Nationalstaat muss Europa retten

Vor allem innerhalb der einzelnen Gesellschaften unseres Kontinents lässt sich verlorenes Vertrauen zwischen Politikern und Bürgern wieder herstellen - wenn überhaupt

Für die europäische Sozialdemokratie ist Europa ein großes Ärgernis, denn das Thema spaltet auf dramatische Weise ihre Kernwählerschaft. Das akademische Milieu fühlt sich der europäischen Idee eng verbunden, die traditionellen Stammwähler dagegen stehen der europäischen „Politikerpolitik“ negativ gegenüber. Europa ist der Spielball einer übergreifenden Krise der politischen Repräsentation und des politischen Vertrauens. Neben der vermeintlichen Massenimmigration ist die EU ein Hauptmotiv für populistische Bewegungen gegen das Establishment, auch gegen die Sozialdemokratie. Hinzu kommt, dass Europa für die Sozialdemokratie einen Konflikt von Prinzipien bedeutet: Internationale Solidarität oder Solidarität im wohlfahrtsstaatlich-nationalen Rahmen? Herrschaft internationaler Eliten oder deliberative-partizipatorische Demokratie für alle?

Was die Sache noch schlimmer macht: Eine echte Debatte über Europa wird tabuisiert, zumindest in jenen Ländern, die einst von den Nazis regiert oder besetzt waren. In diesen Staaten ist alles pervertiert worden, was mit dem Nationalstaat oder nationaler Identität zu tun hat. Stattdessen galt die europäische Integration als ultimatives Mittel zur Heilung der Narben der „europäischen Bürgerkriege“ im 20. Jahrhundert. Wer in Deutschland, Belgien oder den Niederlanden das europäische Projekt kritisierte, stellte damit sogleich die gesamte soziale Ordnung der Nachkriegszeit in Frage. Jede Kritik an Aspekten des europäischen Projekts wurde jahrzehntelang als vulgär, populistisch oder ultranationalistisch verdammt. Ein unsichtbarer Kokon politischer Korrektheit schützte die europäische Idee – und unterdrückte zugleich jede Diskussion über Richtung, Umfang und Grenzen des Integrationsprozesses. Dieses „europäische Tabu“ –  du bist entweder Freund oder Feind, dafür oder dagegen – hat die langfristige Unterstützung für das europäische Projekt sehr reduziert.

Holländer und Franzosen brachen dieses Tabu auf, als sie 2005 die Referenden zum Verfassungsvertrag scheitern ließen. Erstmals wurde hier die tiefe Spaltung in Europafragen zwischen den akademischen Eliten und der übrigen Bevölkerung deutlich. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich im Zuge ihrer Westbindung sehr stark mit dem europäischen Integrationsprozess identifiziert. Dennoch befürchten viele, in Deutschland könnte in den kommenden Jahren eine populistische Bewegung gegen die EU entstehen. Wird es einen neuen Thilo Sarrazin geben, der den Kokon der offiziellen deutschen EU-Politik aufbricht und den unzufriedenen Wutbürgern eine Stimme verleiht?

Wird auch Deutschland infiziert?

Zum Auslöser einer solchen antieuropäischen Stimmung in Deutschland könnte das Geld werden. Die Eurokrise ist deshalb so risikoreich, weil die Solidarität der haushaltspolitisch verantwortungsvollen Staaten im Norden mit den eher sorglosen Ländern im Süden überdehnt zu werden droht. Auch Inflation (und ihre möglichen Auswirkungen auf das deutsche Rentensystem) könnte eine populistische Reaktion gegen die ever closer union auslösen. Das europäische Projekt kann europaskeptische Stimmungen in kleineren Staaten wie Schweden oder Holland durchaus verkraften. Aber was geschieht, wenn Deutschland, Europas Anker, von antieuropäischem Populismus infiziert wird?

Die gute Nachricht lautet, dass sich in Deutschland gesunder Menschenverstand Bahn bricht, der sich gegen die eurokratische Machtdynamik der Brüsseler Institutionen richtet und antieuropäischen Populismus langfristig verhindern könnte. Es ist gar nicht hoch genug einzuschätzen, dass das Bundesverfassungsgericht die Position des Bundestages bei der europäischen Gesetzgebung gestärkt hat. Ähnliches gilt für die Pionierarbeit des Politikwissenschaftlers Fritz W. Scharpf zur demokratischen Illegitimität des Europäischen Gerichtshofs oder für die Äußerungen des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog zur Brüsseler Gier nach zusätzlichen Kompetenzen, die vernünftige und maßvolle Subsidiarität untergräbt. Deutschland baut einen Damm auf gegen die autistischen, imperialistischen Träume einiger Brüsseler Institutionen und Bürokraten – und spielt so eine wenig beachtete avantgardistische Rolle.

Wahrscheinlich sind die Erfahrungen mit dem deutschen Föderalismus nützlich. Hier liegt eine der Ursachen für die Entzauberung der europäischen Idee: Wir alle waren überzeugt, Europa werde genauso geraten wie unser eigenes Land. Das glaubten die Franzosen, die Niederländer, die Deutschen, auch die Italiener und Briten – Europa als Vergrößerung von uns selbst. Was für ein Irrtum! Stattdessen ist Europa zu einem Labyrinth geworden. Dieses Labyrinth besteht aus „Integration durch Tarnung“, aus zentralisierter Macht, aus technokratischer und juristischer Einmischung in sensible nationale Traditionen. Die EU ist ein amorpher Riese ohne Charme und Charisma.

Das „nationale Paradox“ der Integration

Nach den negativen Referenden in Frankreich, den Niederlanden und Irland und seit der Euro-Krise hat sich in Europa große Ernüchterung breitgemacht. Die wiederholten Erweiterungen, die instabile Währungsunion, die Brüsseler Regelungsbesessenheit sowie Spillover-Effekte des Binnenmarktes schaffen zunehmend ein Gefühl der Entfremdung vom europäischen Projekt. Bei allem Gerede von der neuen Supermacht Europa, die wirtschaftlich und geopolitisch mit China, Indien und den Vereinigten Staaten mithalten könne, steht der Riese doch in Wirklichkeit auf tönernen Füßen. Das altehrwürdige föderale Ideal ist in weite Ferne gerückt. Vielmehr deutet alles darauf hin, dass der Nationalstaat neu bewertet wird – als Fundament, um das Vertrauen zwischen Eliten und Bevölkerungen zurückzugewinnen und existenzielle Identitäts- und Legitimitätsprobleme zu lösen.

Erweiterungen und Globalisierung, Liberalisierung und Uniformität – all das hat aus Europa eher eine Bedrohung werden lassen als eine inspirierende Lösung. Ich nenne es das „nationale Paradox“ der europäischen Einigung: Ursprünglich sollte die europäische Zusammenarbeit den aggressiven Nationalismus des 19. Jahrhunderts überwinden, der im Jahrhundert darauf zur Katastrophe des europäischen Bürgerkriegs führte. Aber mittlerweile hat die EU eine kritische Grenze überschritten. Sie bringt starke nationale Gegenkräfte hervor und provoziert den Nationalismus, den sie eigentlich überwinden sollte.

Der europäische Einigungsprozess hat die Freiheit der Nationalstaaten zu eigener Politik substanziell eingeschränkt. Den europäischen Institutionen wurden mehr Befugnisse übertragen, als vielen heute bewusst ist – man kann das als „Integration durch die Hintertür“ bezeichnen. Unter dem Strich ist die EU ein schlankes Projekt der Eliten. Jedes Land delegiert das Thema an ein „Europakartell“, bestehend aus einer handvoll Europapolitiker und -experten. Die Bevölkerung steht gleichgültig und unbeteiligt am Rande.

Wie sieht die Zukunft der nationalen Identitäten, Traditionen und Loyalitäten in Europa aus?  Der Vertrag von Maastricht stellt formal fest, dass die Europäische Union die nationalen Identitäten ihrer Mitgliedsstaaten respektieren muss. Dieses Thema ist bei der Bildung einer Föderation oder Konföderation von entscheidender Bedeutung. Angesichts der enormen kulturellen Vielfalt in Europa hätte es eigentlich ständig im Fokus stehen müssen. Aber weder die funktionalistische Methode Monnet noch die wirtschaftliche Dynamik des Binnenmarktes haben diese existenzielle Herausforderung angenommen – ein tragischer Aspekt der europäischen Einigung. Letztlich ist Europa ein ökonomisch-materialistisches Projekt: Kultur, Identität und Tradition sind die armen Verwandten der Integration. In gewisser Weise haben die Verfassungsreferenden diese bittere Wahrheit offenbart – als Rache der Kulturgeschichte, als Rache der nationalen Identitäten und Traditionen.

Misstrauen ist völlig legitim

Der amerikanische Historiker Larry Siedentop hat Recht: In Europa gab es zu wenige qualitativ hochwertige Debatten über die Beziehung zwischen den historischen Nationalstaaten Europas und der EU, vor allem auch im Vergleich zur amerikanischen Staatsbildung im späten 18. Jahrhundert. Warum gibt es keine europäischen Madisons, Hamiltons und Jays? „Warum gibt es nichts, was in Bezug auf die Entwicklung und die Schicksale der europäischen Völker deren eigene Fantasie beflügelt hat? Und was sagt das Fehlen einer großen Debatte über den Zustand Europas aus?“, fragte Siedentop schon vor mehr als einem Jahrzehnt in seinem Buch Demokratie in Europa. Es gibt keine europäische Debatte über checks and balances, um „bürokratischen Despotismus“ zu verhindern. Stattdessen haben wir es mit unbekümmert-apolitischen Analysen über die ökonomische und geopolitische Unvermeidlichkeit des großen europäischen Imperiums zu tun: „Scheitern bedeutet Ruin! Vereinigung oder Tod!“

Die Selbstabschaffung des Nationalstaates bei gleichzeitig vollständiger Vermeidung von Fragen nationaler Identität, kultureller Vielfalt und politischer Pluriformität – dies alles erzeugt Unzufriedenheit mit der EU. Es ist völlig legitim und nachvollziehbar, wenn die Menschen misstrauisch sind gegenüber einem angehenden Imperium von 450 Millionen Menschen. Dieses Misstrauen wurzelt in Sorgen um Demokratie und Menschenrechte ebenso wie in nationalistischen Gefühlen. Die Beweislast, dass die Hyperkonstruktion eines Superstaates sui generis samt Mehrebenenregierung im Hinblick auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und effektives Regieren tatsächlich ein historischer Fortschritt ist, liegt bei denen, die für ein größeres, mächtigeres, immer engeres Europa plädieren.

Deutsches Bier, französischer Käse

Dabei gilt der neue Euroskeptizismus im alten Europa nicht unbedingt der gesamten EU. Die meisten Menschen sind immer noch für bestimmte Formen der europäischen Integration und Zusammenarbeit. Sie unterstützen das europäische Sozialmodell oder die Menschenrechte – aber sie sind zugleich besorgt über die wilde Beschleunigung Europas in der jüngsten Zeit: die Währungsunion, das Präsidialsystem, technokratische Vorschriften, die Aufnahme von Rumänien und Bulgarien, die neoliberale Wirtschaftspolitik oder den möglichen Beitritt der Türkei. Und sie machen sich Sorgen über fehlenden Respekt für nationale Kulturen und Traditionen – deutsches Bier, niederländische Sozialwohnungen, schwedische Apotheken, französischer Käse – sowie über fehlenden Respekt gegenüber demjenigen Teil der Öffentlichkeit, der sich nicht mit der EU verbunden fühlt.

Der eurokratische Zukunftsdiskurs fokussiert bewusst oder unbewusst auf einen europäischen Superstaat. Die Erzählung geht so: „Die europäischen Nationalstaaten sind zu schwach geworden. Sie sind unfähig, in der neuen Weltordnung alleine zu überleben. Deshalb müssen wir einen starken europäischen Block bilden, ein europe puissance, das in der Lage ist, mit der wirtschaftlichen und geopolitischen Macht Amerikas, Chinas und Indiens zu konkurrieren.“ Aber genau diese Meister-Erzählung macht Menschen, die sich im europäischen Diskurs Respekt vor nationaler und kultureller Vielfalt wünschen, große Angst.

Im Jahr 2005 schrieb der damalige EU-Kommissar Peter Mandelson: „Europa muss eine fundamentale Entscheidung treffen. Im einen Fall droht der wirtschaftliche Verfall, und wir haben keine Mittel mehr, um unseren bevorzugten Lebensstil zu bezahlen. Im anderen Fall schreiten wir mit schmerzhaften ökonomischen Reformen voran, die uns auf den Weltmärkten wieder wettbewerbsfähig machen können.“ Aber wie hoch ist der Preis für ein mächtigeres, zentralisiertes Europa, das mit einer Stimme spricht? Und wer soll dafür bezahlen? Könnte es sein, dass dieses mächtige Europa nur eine Illusion ist? Ein größenwahnsinniger Traum geopolitischer Strategiespieler?

In diesem Artikel habe ich das europäische Unbehagen untersucht: eine instabile Unterströmung in der europäischen Gesellschaft, die mit modernen globalen Trends sowie der vorherrschenden Antwort der Politiker hadert. Dieses Unbehagen findet sich wieder in der Wahrnehmung, dass nationale Besonderheiten durch Prozesse der Internationalisierung, der Globalisierung, der europäischen Einigung und der Zuwanderung untergraben werden. Der Schlüsselsatz in Thilo Sarrazins Buch lautet „Deutschland muss Deutschland bleiben.“ Er verweist auf genau dieses Unbehagen und könnte der Grund sein, warum sich das Buch so gut verkauft hat.

Solche Unterströmungen in der europäischen Gesellschaft verweisen nicht nur darauf, dass Modernisierung und Innovation äußerst vorsichtig betrieben werden sollten, sondern sie sprechen auch für die Notwendigkeit, den Nationalstaat zu rehabilitieren – als Ort, an dem Vertrauen hergestellt wird, als Anker in unsicheren Zeiten, als Quelle sozialen Zusammenhalts zwischen den weniger Gebildeten und besser Gebildeten, zwischen Einwanderern und einheimischer Bevölkerung.

Vor allem auf nationaler Ebene lässt sich das Vertrauen zwischen Politikern und Bürgern wieder herstellen. So kann auf den populistischen Zeitgeist reagiert werden. Und nur auf nationaler Ebene lässt sich eine harmonische multi-ethnische Gesellschaft aufbauen. Europa muss diesen Prozess erleichtern, statt ihn zu behindern. Mit anderen Worten: Die Zukunft der EU, des europäischen Sozialmodells und einer harmonischen multi-ethnischen Gesellschaft liegt im Nationalstaat. In der kommenden Periode des Übergangs müssen die Nationalstaaten die Europäische Union retten. «

Aus dem Englischen von Michael Miebach

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