Der katholische Elefant: Ein neues Leitbild für die SPD



Vor einigen Wochen hatte ich die Gelegenheit, einen Vortrag zu hören, der sich mit einer befürchteten Entsubstantialisierung der katholischen Kirche in Deutschland auseinandersetzte. Anlässlich des 75. Geburtstages von Bischof Dr. Josef Homeyer in Hildesheim stellte Professor Johann Baptist Metz, ein katholischer Fundamentaltheologe, seine Laudatio unter den Titel: Der katholische Elefant. Ein Orientierungsbild für die Kirche. Je länger der Vortrag dauerte, desto mehr hatte ich den Eindruck: Hier redet jemand – ungewollt und unausgesprochen – auch über meine Partei, die SPD.


Wir Sozialdemokraten sind ausgestattet mit einem Elefantengedächtnis. Wir vergessen nicht, was uns wichtig ist: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität. Im Gegenteil, wir tragen unsere Erfahrungen buchstäblich nach, damit sie nicht vergessen werden – die Erfahrungen mit Unterdrückung, Verfolgung, Ungleichheitund Schutzlosigkeit. Aber auch: Die Erfolge und die Fortschritte, die gemeinsam und gelegentlich auch kämpferisch errungen werden konnten.


Wir Sozis sind dickfellig und eigensinnig – und das in mehrfacher Hinsicht: Durch die in mehr als 140 Jahren gewachsene und hart gewordene Haut kommen so schnell keine Verletzungen von außen. Die Kehrseite ist allerdings, dass auch neue Erfahrungen ihren Weg in den inneren Organismus und in das Gedächtnis unseres sozialdemokratischen Elefanten eher langsam finden. Beides ist untrennbar miteinander verbunden. So auch die beiden Seiten unserer Eigensinnigkeit: Wir sind stur in dem, was wir für richtig halten. Mitbestimmung, Tarifautonomie, Arbeitnehmerrechte und solidarische Versicherungssysteme oder gleiche Bildungschancen für alle haben für uns Sozialdemokraten wörtlich genommen einen „eigenen Sinn“. Und diese Sturheit haben wir auch dann, wenn wir damit nicht gerade auf der Welle des Zeitgeistes schwimmen. Die Agenda 2010 zeigt: Dabei können selbst Elefanten manchmal ins Schwitzen kommen.


Und wir sind so sensibel wie Elefanten. Unsere Erfolge waren am größten, wenn wir uns dieser Sensibilität bewusst waren: Willy Brandt spürte die Sehnsucht der Menschen nach Abrüstung, Entspannung und Frieden. Helmut Schmidt wusste, dass die Menschen in Deutschland und Europa klare, kompetente Führung und vor allem Standfestigkeit in schwierigen Zeiten suchten. Und Gerhard Schröder erkannte 2002 die eindeutige Trennungslinie im Empfinden der Deutschen zwischen Risikobereitschaft aus Verantwortung oder aus Abenteurertum.


Die größte Gefahr, die der Sozialdemokratie droht, ist der Verlust dieser Sensibilität. Der Abschied von bis zu 50 Prozent der Wahlbevölkerung aus der Beteiligung an Wahlen trifft vor allem die SPD – nicht hauptsächlich wegen der damit oft genug verbundenen Wahlniederlagen, sondern wegen des darin enthaltenen massiven Vorwurfs an uns. Die stummen Schreie der Nichtwählerinnen und Nichtwähler lauten doch: „Ihr gehört nicht mehr zu uns. Ihr versteht nichts von unserem Alltag, unseren Sorgen. Und auch nichts von unseren Ideen und Wünschen. Wir erwarten nichts mehr von Euch.“


Elefanten haben zwar ein dickes Fell, dafür aber große Ohren. Deshalb können wir diese empörten Rufe eigentlich nicht überhören. Was uns heute fehlt ist die Fähigkeit zu compassion, wie Willy Brandt es vor 33 Jahren in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises ausdrückte – lange vor der Indienstnahme des Begriffs durch Konservative wie George W. Bush. „Es gibt in der deutschen Sprache kein Wort, das diese elementare Leidempfindlichkeit unmissverständlich zum Ausdruck bringt: ‚Mitleid‘ steht im Verdacht, die herrschenden Ungerechtigkeiten durch Sentimentalität zu verschleiern. So verwende ich seit längerem versuchsweise das Fremdwort Compassion .... Diese Compassion ist kein ‚Mitgefühl‘ von oben oder von außen, sondern teilnehmendes Wahrnehmen fremden Leids. Sie verlangt die Bereitschaft zu einem Blickwinkel ..., dazu nämlich, uns selbst auch immer mit den Augen der anderen, vorweg der leidenden und bedrohten anderen anzuschauen und einzuschätzen und diesem Blick wenigstens um ein Geringes länger standzuhalten, als es unsere spontanen Reflexe der Selbstbehauptung erlauben mögen.“ Soweit ein Zitat – allerdings diesmal nicht von Willy Brandt, sondern von dem bereits schon erwähnten katholischen Fundamentaltheologen. Es kann trotzdem wegweisend sein für Sozialdemokraten.

Döner verkaufen oder im Meisterbüro stehen?

Der Blickwechsel in diesem Sinn ist eine Aufgabe gerade für junge Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. Der Blickwechsel zum Beispiel in die Sicht der Unterprivilegierten in Deutschland: der 30 bis 40 Prozent türkischen Jugendlichen in Berlin ohne Hauptschulabschluss; der sozial auseinander gebrochenen Stadtteile und Straßenzüge mit hoher Arbeitslosigkeit, hohem Ausländeranteil und niedrigen Einkommen. Hier liegen die Potentiale und die Bildungsreserven, die wir angesichts sinkender Geburtenzahlen in Deutschland dringend brauchen. Die Zukunft dieser Menschen, aber auch die Zukunft unseres Landes wird entscheidend davon abhängen, ob diese Kinder in 10 Jahren Paletten schleppen und Döner verkaufen oder im Labor und im Meisterbüro arbeiten. Welche Partei, wenn nicht die SPD soll sich dieser Aufgaben annehmen? Unser Problem besteht darin, dass niemand von uns mehr in diesem Alltag lebt, Erfahrungen macht und diese Erfahrungen politisch nutzt und mobilisiert. Aber dadurch ist die Aufgabe nicht weniger wichtig geworden – nur schwieriger.


Oder zum Beispiel der Blickwechsel in die Sicht der arabischen und islamischen Welt. Zu verstehen, warum wir für die Kultur dieser Welt oft als Bedrohung erscheinen. Gelingt es uns nicht, in diesen neuen und kulturellen „eisernen Vorhang“ Türen und Brücken zu bauen, werden wir auf der Welt keine Stabilität und keinen dauerhaften Frieden sichern. Jede Generation im Nachkriegsdeutschland hatte wahrhaft historische Aufgaben: Die Westintegration unter Konrad Adenauer, die Entspannungs- und Ostpolitik bei Willy Brandt, die europäische Einigung durch Helmut Schmidt und Helmut Kohl. In den kommenden 20 Jahren wird es der „Brückenbau“ in die aufgeklärten Teile der islamischen Welt sein. Wieder geht es um „Wandel durch Annäherung“. Und wieder ist es der Blickwechsel, der dafür die Voraussetzung schaffen kann.

Schweren Schrittes durch die Epochen

Ich fand den Elefanten als Metapher, als Orientierungs- oder Leitbild außerordentlich sympathisch – und letztlich lebendiger als die Glotzsche „Tanker-SPD“: Schwer und manchmal auch etwas schleppenden Schrittes zieht der Elefant unermüdlich durch die Epochen unserer Geschichte. Im Dickicht macht er den Weg frei und schützt die Menschen vor den Raubtieren des Dschungels. Ihn vom Weg abzubringen ist nur schwer vorstellbar. Und um nochmals Professor Metz zu zitieren: Ein Elefant lässt sich schon vom Bild her schwerlich in eine Nische sperren. Und dann nochder sprichwörtliche Porzellanladen. Welcher erfahrene Sozialdemokrat muss da nicht sofort an seine Partei denken?


Vielleicht war es kein Zufall, dass ausgerechnet auf dieser Jubilarehrung die Parallelität einer „fortschreitenden Entsubstantialisierung“ von Katholischer Kirche und Sozialdemokratie in Deutschland so unübersehbar wurde, schließlich zählt Bischof Josef Homeyer zu den Autoren des gemeinsamen Sozialwortes von katholischer und evangelischer Kirche, das leider schon fast wieder vergessen scheint. Und sein Satz: „Globalisierung will Gerechtigkeit für alle und nicht Reichtum für wenige!“ gäbe eine gute Überschrift für unser neues SPD-Grundsatzprogramm ab. Herr Professor Metz wird also hoffentlich entschuldigen, dass ich seinen Vortrag für einen Aufsatz zum fünfjährigen Bestehen der Berliner Republik „missbraucht“ habe. Aber als „Lutheraner“ gehöre ich ja zu den „Katholiken“ unter uns Protestanten.

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