Der Kanalarbeiter

Als Bürgermeister des Berliner Problemstadtteils Neukölln steht Heinz Buschkowsky vor dem Scherbenhaufen der gescheiterten deutschen Integrationspolitik. Dass er ausspricht, wie dramatisch die Lage ist, hat ihn zur kontroversen Figur gemacht

Auch wenn es hart klingt: Für Heinz Buschkowsky war der Mord an Theo van Gogh am 2. November 2004 ein Glücksfall. Plötzlich konnte er, der Bezirksbürgermeister des Berliner Problembezirks Neukölln, seine borstigen Thesen über die gescheiterte Integration von Ausländern in fast allen überregionalen Medien verbreiten. Während dieser Medienoffensive hat Buschkowsky Tabus verletzt und sich Feinde geschaffen. Den Gipfel der Missgunst erklomm er nach einem besonders saloppen Interview in der rechtskonservativen Zeitung Junge Freiheit: Die Jusos, die Grünen und die CDU forderten seinen Rücktritt, Unbekannte klebten in ganz Neukölln Buschkowsky-Plakate mit der Parole: „Geistiger Brandstifter – verpiss dich!“ Die Lokalzeitungen riefen ihn nicht mehr an. Buschkowsky hatte Dreck am Stecken.

Wieso redet ein Sozialdemokrat so provozierend, wie Buschkowsky redet? Wieso kann er so reden? Er selbst sagt, dass er sich im Interesse Neuköllns bewusst für eine Agent Provocateur-Strategie des Wachrüttelns entschieden hat. Vielleicht lassen sich Erfolge in diesem wohl sensibelsten aller Politikfelder, der Integrationspolitik, anders nicht erzielen.

Penetrant dröhnt der Lärm der Karl-Marx-Straße, Neuköllns Hauptschlagader, durch die Fenster in sein Büro im ersten Stock des Rathauses. Buschkowsky arbeitet im Zentrum eines sozialen Brennpunkts, der in Zahlen so aussieht: Ein Drittel der 300.000 Neuköllner sind Einwanderer; 22 Prozent aller Einwohner beziehungsweise 43 Prozent aller Nichtdeutschen sind arbeitslos; nur 5 Prozent aller Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft haben eine Lehrstelle; 70 Prozent von ihnen haben keinen oder nur den niedrigsten Schulabschluss; seit 1993 verlor der Bezirk 17.000 deutsche Einwohner, 12.000 ausländische zogen hinzu. Buschkowsky redet, wie er redet, weil er vor dem Scherbenhaufen der gescheiterten deutschen Integrationspolitik steht.

Seine Beschreibung dieses Scherbenhaufens beginnt mit der Feststellung, dass sich entgegen aller Multikulti-Träumereien die einzelnen ethnischen Gruppen stärker denn je voneinander abgrenzen. Für sich genommen, meint Buschkowsky, sei die Suche nach Geborgenheit in einer vertrauten kulturellen Umgebung völlig normal. Doch in Neukölln seien Parallelgesellschaften entstanden, abgeschottete Lebensräume der jeweiligen Minderheiten mit eigenen tradierten Regeln und Normen, die zum Teil nicht verfassungskonform seien – „tickende Zeitbomben“. „Es entsteht ein Gruppendruck hin zu alten Traditionen, weil die Migranten sich durch ihre Arbeitslosigkeit von der Mehrheitsgesellschaft ausgestoßen fühlen und auf keinen Fall von ihren Landsleuten auch noch ausgegrenzt werden wollen“, sagt Buschkowsky.

Ehrenmorde und Fundamentalisten

Sein Aufschrei mündet sodann in Berichten über immer mehr Kopftücher unter Neuköllner Schülerinnen, über Zwangsheiraten und Ehrenmorde in den muslimischen Gemeinden, und über arbeitslose Jugendliche, die anfällig werden für Kriminalität oder religiösen Fundamentalismus. Von hier aus entwickelt Buschkowsky eine grundsätzliche Kritik an Liberalität und Gleichgültigkeit in der deutschen Gesellschaft. Er erzählt von Polizisten, die mit dem Mittelfinger begrüßt werden, und von Kindern, deren Schulweg an den Drogendealern im Volkspark Hasenheide vorbeiführt. Die Leute hätten einfach nicht mehr das Gefühl, in einem geordneten Gemeinwesen zu leben: „So treiben wir die Leute in die Hände der rechten Rattenfänger."

Schuld an dem integrationspolitischen Scherbenhaufen – und an dieser Stelle der Argumentationskette baut Buschkowsky geschickt ein Feindbild auf – ist für ihn das „Imperium“. Das „Imperium“ besteht aus den „Gutmenschen“ und „Multikulti-Ideologen“, die glaubten, aus der ethnisch-kulturellen Vielfalt würde gleichsam per Naturgesetz ein neuer, multikultureller Mensch entstehen. Diese Träumer, sagt Buschkowsky, hätten das urmenschliche Bedürfnis nach kultureller Eindeutigkeit und der Bewahrung eigener Wurzeln negiert und versucht, den Menschen ein abstraktes Multikulti-Konstrukt überzustülpen.

Ein ganzes Leben für Neukölln

„Viele Neuköllner fühlen sich hier nicht mehr wohl und stimmen mit dem Möbelwagen ab“, sagt Buschkowsky, „deutsche und ausländische Mittelschichten verlassen den Stadtteil“. Die Polemik des Bürgermeisters endet bei diesem zentralen Motiv: der befürchteten Ghettoisierung Neuköllns. „Wir werden die totale Segregation wie in China-Town nicht verhindern können. Doch wir müssen verhindern, dass Neukölln zum Slum wird.“

Wieso also kann Buschkowsky so reden? Ein großer Teil seiner Glaubwürdigkeit entspringt dem Umstand, dass der 57-Jährige sein gesamtes Leben in Neukölln verbracht hat. Den Auflösungsprozess hat er mit eigenen Augen gesehen. Als er aufwuchs, erzählt der Bürgermeister, war Neukölln der Bezirk des Kleinbürgertums, der Angestellten und Arbeiter: „Handfeste Leute ohne Heiligenschein, aber mit dem Herzen am rechten Fleck.“ In den Altbauhäusern sorgte der Hauswart dafür, dass die Mittagsruhe eingehalten wurde, „ansonsten setzte dit wat“. Eckkneipen-Idylle. Bockbierfest. „Und Bockbierfest ohne Hauerei is rausjeschmissenet Jeld.“

Noch heute schimmert dieses Milieu aus Buschkowsky heraus, dessen Vater Schlosser war und seine Familie in einer Kellerwohnung durchbrachte. Buschkowskys „Berliner Schnauze“, seine behäbige Statur, seine runden Wangen – der ehemalige Verwaltungsbeamte ist der Prototyp des Laubenpiepers. Diese Wesensart ermöglicht ihm Bürgernähe: „Ich bin doch nur das Sprachrohr der Leute.“ Kein Zweifel: Für viele Neuköllner ist er der erste Politiker, der die Dinge beim Namen nennt. Und einem wie ihm nimmt man sofort ab, dass er Neukölln und nicht seine Karriere im Blick hat.

Seinem Feind, dem „Imperium“, stellt Buschkowsky den eigenen anti-intellektuellen Habitus entgegen. Mit soziologischen Begriffen braucht man ihm ebenso wenig zu kommen wie mit kontrafaktischen Gedankengängen. „Seminarübungen“ nennt Buschkowsky so etwas. Um die theologische Frage, ob der Islam reformierbar sei, kümmert er sich zum Beispiel überhaupt nicht – reine Zeitverschwendung, wie er meint. Heinz Buschkowsky denkt pragmatisch, konkret und in Beispielen: Die Situation beschreiben, dann fragen, wie es besser werden kann. Dabei ist er, von seinen Gegnern als volkstümlich belächelt, blitzgescheit, mit einem fabelhaften Gedächtnis ausgestattet und in Fachgesprächen durchaus zur Differenzierung fähig.

„Aus Reibung entsteht Wärme“

So authentisch er wirkt – Buschkowskys Auftreten ist auch medientaugliche Selbstinszenierung. Gegenüber den rund 50 Mitgliedern der Neuköllner „Kiez-AG“ – einem Zusammenschluss sozialer Projekte – gibt er zu, ein einseitiges Bild von Neukölln zu zeichnen. „In der Presse sind differenzierte Betrachtungen unbeliebt“, sagt er. Und: „Aus Reibung entsteht Wärme.“ Seine Wirkung beschränkt sich folglich nicht darauf, einen Abstiegsprozess zu beschreiben, den Brennpunkt gut zu kennen und das „Original“ zu sein. Buschkowky ist Medienstratege. Und erfolgreich, wie er glaubt: Klaus Wowereits Versprechen, rund eine Millionen Euro zusätzlich für Sprachkurse zur Verfügung zu stellen, sei ohne die Debatten der letzten Monate nicht möglich gewesen.

Buschkowskys integrationsfreundlicher Populismus zielt aber nicht nur auf die öffentliche Debatte. Der Bürgermeister will die konservativen Neuköllner Wähler ansprechen. „Bei den Grünen- und PDS-Wählern hole ich sowieso keine Stimmen“, sagt er. Möglich macht diese Kommunikations- und Wahlkampfstrategie sein konservativer Kreisverband.

Kein Wunder, dass diese Strategie nicht nur beim politischen Gegner auf Kritik stößt. Der Direktor des Neuköllner Heimatmuseums zum Beispiel fühlt sich von Buschkowsky als Gutmensch diffamiert, „nur weil man zu differenzieren versucht“. Udo Gößwald ist auch kulturell nicht mit Buschkowsky vergleichbar: schwarzer Rollkragenpulli unter silbernem Sakko, Dreitage-Bart, ein Büro voller Bücher. „Man muss genau zwischen den Einwanderergruppen unterscheiden: traumatisierte Flüchtlinge, die in den Neunzigern kamen, haben andere Bedürfnisse als die Gastarbeiter, die seit den siebziger Jahren hier schuften“, sagt der Museumsdirektor. Für ihn liegt das Problem vor allem in der deutschen Gesellschaft. In Neukölln habe es immer Zuwanderung gegeben: Im 18. Jahrhundert kamen die Böhmer, im 19. Jahrhundert dann Schlesier, Ostpreußen und Russen hierher. Durch die Industrialisierung verstädterte Neukölln allmählich, Arbeiter zogen zu und wieder weg. Dieser melting pot habe lange gut funktioniert. Der gelernte Politikwissenschaftler Gößwald glaubt, durch den anerzogenen Rassismus der Nazis seien den Neuköllnern das Verständnis und das Einfühlungsvermögen gegenüber anderen Kulturen verloren gegangen: „Seit der Nachkriegszeit gibt es einen Gleichmut und eine Gartenzaunmentalität, weil die Auseinandersetzung mit der Geschichte nur rudimentär stattgefunden hat.“ Die Realität, sagt Gößwald, sei nun einmal multikulturell: „Es gibt keine eigenständige türkische Jugendkultur, sondern nur eine großstädtische Jugendkultur.“ Auf der Suche nach Identität griffen sich die jungen Einwanderer willkürlich Elemente der Ursprungskultur heraus, wie beispielsweise den Ehrbegriff. Außerdem stimme es nicht, dass die Linke Multi-Kulti beschönigt habe: „Die Fehler wurden eher von der öffentlichen Verwaltung gemacht.“

Ein gutes Stück verbrannte Erde hinterlassen Buschkowskys Äußerungen auch bei den türkischstämmigen Mitarbeitern des Deutsch-Türkischen Zentrums (DTZ). Vier von ihnen haben sich an diesem Frühlingsmorgen zu einem Gespräch bei schwarzem Tee eingefunden. Sie meinen, die heraufbeschworenen Szenarien von Ehrenmorden und massenhaften Zwangsheiraten würden einen Selbstverteidigungsreflex der Minderheiten hervorrufen. Die türkische Frauenrechtlerin Seyran Ates (siehe Interview S. 30) – von Buschkowsky gern zitiert – bewege mit ihren Verallgemeinerungen überhaupt nichts. „Nur eine Minderheit der Türken unterdrückt die Frauen und steht außerhalb des Grundgesetzes“, sagt Mustafa Akcay. Unterdrückungsempfindungen seien generationen- und kulturabhängig. Akcay stört, dass bei Ehrenmorden und Zwangsheiraten in Deutschland sofort eine fundamentale Wertediskussion geführt wird. Als würden türkische Einwanderer gänzlich anderen ethischen Normen folgen. Sein Kollege Erol Özkaraca sagt: „Die Deutschen nehmen die Erfolge der Türken in Deutschland zu wenig wahr.“ Er legt ein türkisches Branchenbuch auf den Tisch: „200 Seiten voller erfolgreicher Türken. Wo sind die in der Öffentlichkeit? Sehen Sie, das ist das Problem.“

Was die Mehrheitsgesellschaft leisten muss

So sehr das DTZ und Udo Gößwald Buschkowskys Rhetorik ablehnen, so richtig finden sie seine praktischen Vorschläge: In 12 Thesen hat der Bürgermeister seine integrationspolitischen Vorstellungen zusammengefasst. Er fordert die Ausweitung von erklärten Segregationszonen – den so genannten Quartiersmanagement-Gebieten. In diesen Gebieten soll dann gebündelte Inklusionspolitik betrieben werden: Kindertagesstätten müssten beitragsfrei gestellt werden, die Klassenfrequenzen halbiert, zusätzliche Förderklassen geschaffen, mehr Sprachkurse in der Volkshochschule angeboten. Alles Forderungen an die Mehrheitsgesellschaft. „Von den Migranten erwarte ich vor allem die Bereitschaft zur Integration und dass sie sich ans Grundgesetz halten“, sagt Buschkowsky. Vielleicht hat er deshalb die Einwanderer-Organisationen auf seiner Seite.

Buschkowskys Forderungen werden Geld kosten. Und beim Geld, sagt der Bürgermeister, hört auch unter Genossen die Freundschaft auf. Gerade linke Kreisverbände aus den bürgerlichen Stadtteilen Steglitz-Zehlendorf oder Charlottenburg-Wilmersdorf würden die Umverteilung in die schwächsten Gebiete blockieren. „Denen ist es völlig egal, dass wir für unsere Kitas mehr Geld brauchen, weil hier elementare Kulturtechniken gelernt werden“, sagt Buschkowsky. Die Sozialdemokraten aus den wohlhabenden Bezirken seien doch ganz zufrieden damit, dass sich die Einwanderer und die sozialen Probleme in Neukölln und im Stadtteil Wedding konzentrieren: „Man weiß dann, wo sie sind und wo man nicht hingeht.“ Die Linken in der Partei seien freilich schlau genug, ihre Ausgrenzungspolitik zu tarnen. „Wir Neuköllner fordern in einem Antrag: Abschaffung der Gebühren für Kindertagesstätten in den sozial schwachen Gebieten. Die machen daraus eine SPD-Forderung nach gebührenfreien Kitas in Gesamtberlin. Das ist nicht finanzierbar und damit vom Tisch“, sagt Buschkowsky. Toskana-Fraktion eben: links reden, rechts leben.

In der Integrationspolitik geht es, letztlich, um Umverteilung von oben nach unten. Es ist ein undankbares Politikfeld, belegt mit Tabus, beschwert durch den Problemumfang und gnadenlos lange Zeitspannen, bis sich – wenn überhaupt – Erfolge einstellen. Richtige Integrationspolitik, sagt Buschkowsky, kann man nur machen, wenn man politisch nichts mehr werden will: „Ich rate das keinem jungen Politiker.“ Dann erzählt er die Geschichte von dem Abwasserkanal, der verstopft ist: „Die Menschen leiden darunter. Der Kanalarbeiter steigt in den Kanal hinab und reinigt ihn. Dann fließt das Wasser wieder, die Leute freuen sich. Doch als der Kanalarbeiter oben ankommt, wenden sie sich von ihm ab. Weil er stinkt.“

zurück zur Person