Der Irrtum der Merkelversteher

Viel spricht dafür, dass an der Spitze der Bundesregierung auch nach 2017 Angela Merkel stehen wird. Offen scheint aus jetziger Sicht allein, mit welchem Partner sie dann regiert. Viel ändern würde sich auch nicht unter Schwarz-Grün - außer für die SPD

Nie zuvor hatten die Wähler in Deutschland so viel Auswahl zwischen verschiedenen Parteien – und nie zuvor konnten sie so wenig entscheiden, welche Regierung sie am Ende tatsächlich bekommen. Die CDU könnte 35 Prozent plus x bekommen. Oder sogar eine absolute Mehrheit. Die SPD könnte sich mit einem Kanzlerkandidaten Sigmar Gabriel von ihrem Allzeit-Tief erholen – oder krachend scheitern, mal wieder. Die FDP könnte weg sein, die AfD dafür drin im Bundestag. In Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland, das lange als Mikrokosmos der Republik galt, sind nach aktuellen Umfragen derzeit sowohl AfD als auch FDP und Linkspartei mit je fünf Prozent vertreten. In so einem Fall wären klassische Zweier-Koalitionen kaum noch denkbar.

Was dann? Denkbar wären Schwarz-Grün oder Rot-Rot-Grün. Von der breiten linken Mehrheit träumen linke Sozialdemokraten und pragmatische Linksparteiler schon lange. Realistisch wäre das aber nur, wenn Politik wirklich nichts weiter als die Addition von Tortendiagrammen wäre. In Thüringen regiert mit Bodo Ramelow zum ersten Mal ein Dunkelroter – Anzeichen einer Normalisierung im Umgang mit den SED-Erben, könnte man denken. Doch je vernünftiger die Linkspartei innenpolitisch wird, desto abgedrehter agiert sie außenpolitisch. Die Grünen beschimpft die Linkspartei als „Kriegstreiber und Russenhasser“, der Bundesregierung wirft sie vor, sie verfolge eine „imperiale Durchsetzung von Kapitalinteressen“, und Gregor Gysi muss vor israelfeindlichen Genossen auf die Toilette flüchten. Zwar erklären die Anhänger einer rot-rot-grünen Koalition im Bund auf Nachfrage einfach unverdrossen, ihrem Vorhaben stünde nichts entgegen. Doch die Linkspartei müsste die Gegensätze, die sie täglich auftürmt, im Zeitraffer überbrücken. Rot-Rot-Grün ist für 2017 deshalb keine realistische Option.

Die FDP ist fürs Erste weg und auch noch nicht wieder in Sicht; dafür ist die AfD da und könnte sich dauerhaft etablieren. Für den Klassiker Rot-Grün wird es deshalb vermutlich zu knapp werden. Angela Merkel thront über den Wolken, unangefochten, wie es scheint. Doch auch die Union hat ihren „natürlichen Koalitionspartner“ (Merkel) einstweilen verloren, denn mit der FDP wird im Wortsinne kaum zu rechnen sein. Merkel muss also darauf hoffen, dass die Grünen anders als 2013 diesmal mitmachen würden. Für die Grünen wäre das nicht ohne Risiko, bei kaum einer anderen Partei sind Funktionäre und Anhänger so gespalten. Für Merkel wäre es die Gelegenheit, sich und vor allem ihre Partei im zwölften Jahr ihrer Kanzlerschaft noch einmal neu zu erfinden. Grün schmückt: Schließlich gilt sogar Volker Bouffier als Fachkraft für Zukunftsfragen, seit er in Hessen mit den Ökos regiert.

Merkel werde im Lauf der Legislaturperiode abdanken, so hatten es einige Merkelversteher vorausgesagt, auf dem Höhepunkt ihrer Macht, um freiwillig zu gehen und einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin den Übergang zu erleichtern. Doch dafür gibt es nicht nur keine Anzeichen, es ist auch nur schwer vorstellbar: Inmitten weltpolitischer Krisen soll die wichtigste Politikerin Europas sagen „Ich bin dann mal weg“?

Für viele Journalisten wäre Schwarz-Grün ein Fest, für die SPD wäre es ein Alptraum. Eines aber wäre es nicht: ein Projekt. Der innere Sinn und politische Mehrwert, den die Konstellation einmal gehabt hätte, ist längst entfallen: die Versöhnung von Ökonomie und Ökologie, die Modernisierung der Gesellschaft. Die CDU ist inzwischen selbst so schwarz-grün, dass das Bündnis einer schwarz-grünen Koalition kaum größer wäre als die Summe seiner Teile. Es wäre eine Alternative zur Großen Koalition. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

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