Der gespaltene Konservativismus

Immer haben uns die Konservativen erzählt, der überbordende Sozialstaat entmündige ihre Klientel. Jetzt ist die Wohlfahrt alten Typs an ihre Grenzen gestoßen. Welche Empfehlungen geben Konservative denen, die mit der neuen Freiheit nicht klarkommen?

Der jüngste Streit um die familienpolitischen Vorstellungen des Augsburger Bischofs Walter Mixa hat erneut gezeigt: Das konservative Lager in Deutschland ist tief gespalten. Mixas altbackener Konservativismus, der für Frauen den Platz am heimischen Herd reserviert, findet auch im Unionslager wenig Zustimmung. Nicht nur die Jüngeren sind da längst aufgeklärter. Sie lehnen solche altkonservativen Sittenvorstellungen nicht zuletzt aus ökonomischem Kalkül ab. Der alternden Gesellschaft geht bekanntlich nicht nur die Arbeit aus, ihr mangelt es auch an Produktivkräften. Frauen, Ausländer, Bildungsverlierer – sie alle müssen künftig aktiviert werden, damit nicht als Folge des demografischen Wandels der Lebensstandard völlig unter die Räder gerät.

Zugleich existieren heute nun einmal die unterschiedlichsten Lebensformen wie beispielsweise Patchwork-Familien. Zu beantworten ist die Frage, ob der Staat diese Lebensformen durch fehlende Kinderbetreuung oder steuerliche und rentenpolitische Ungerechtigkeiten weiterhin bestrafen darf. Konservative Kulturkritik stört dabei nur. Wir erleben also einen neuen gesellschaftlichen Konsens, der das „rechte“ und das „linke“ Bürgertum ebenso eint wie die etablierte Arbeiterschaft. Doch dieser Mittelstandskonsens hat seinen Preis: Das Prekariat gerät zunehmend aus dem Blickwinkel. Eine Chance für neue Wertkonservative?

„Die Frauen an den Herd, die Männer sind wieder die Ernährer.“ Das war die Formel der Adenauerzeit – eine Art Resozialisierungsprogramm für traumatisierte Kriegsheimkehrer. Die Verlierer des Weltkrieges sollten von ihrer Frontdepression befreit werden und ihre angestammten Rechte wieder erlangen. Ihre Frauen kehrten von der Werkbank für Hitlers Bombenproduktion und aus den Trümmerfeldern zurück an Heim und Herd. Diese Rollenteilung stellte übrigens keine Renaissance der vergleichsweise emanzipierten Weimarer Verhältnisse dar, sondern war die Fortführung der nationalsozialistischen Frauenpolitik vor dem Krieg, die wiederum auf romantische Vorstellungen einer vorindustriellen Familienidylle zurück ging. Im Nationalsozialismus waren Frauen zunächst vom unmittelbaren Produktionsprozess „befreit“ gewesen. Sie waren die „Gebärmaschinen“ für Hitlers germanische Bevölkerungspolitik und somit Teil der nationalsozialistischen Ökonomie. Erst als die Männer an der Front waren, spannten die Nazis notgedrungen auch die Frauen für die Kriegswirtschaft ein. Von Wahlfreiheit zwischen Arbeit und Familie konnte natürlich nie die Rede sein – weder im Nationalsozialismus noch in der frühen Bundesrepublik.

Dem Bischof ist die Wirtschaft wumpe

Wenn Bischof Mixa sich gegen die Ökonomisierung der Familienpolitik ausspricht und die Reduktion der Mütter auf „Gebärmaschinen“ beklagt, hat er das Modell der gottlosen DDR im Sinn, die Frauen mit Hilfe eines flächendeckenden Betreuungsangebots konsequent in die Produktion integrierte. Dieses Modell wird allerdings auch im katholischen Frankreich mit Erfolg praktiziert. In der schrumpfenden deutschen Gesellschaft gibt es zu ihm keine Alternative. Mixas Vorstellungen sind deshalb nicht nur anti-emanzipatorisch und frauenfeindlich, sondern auch ökonomisch unverantwortlich.

Zum Glück macht sich die Mehrheit der deutschen Konservativen diese Haltung nicht zu Eigen. Selbst der bodenständigste CSU-Politiker wird einsehen, dass sich in unserer Gesellschaft die Schere zwischen zu wenig Neugeborenen und immer mehr alten Menschen immer weiter öffnet. Schon bald werden wir alle arbeitsfähigen Männer und Frauen in die Produktion schicken müssen, um den Lebensstandard der vergleichsweise wenigen Erwerbstätigen einigermaßen aufrecht zu erhalten und die (jungen, alten oder erwerbslosen) Nicht-Arbeitenden zu ernähren. Auf arbeitsfähige, qualifizierte Frauen werden wir also einfach nicht mehr verzichten können. Gleiches gilt für die heute schlecht integrierten Einwanderer und abgeschriebenen Sozialhilfeempfänger. Diese Reserven zu aktivieren ist anstrengend und teuer. Aber in der seriösen Debatte bezweifelt niemand ernsthaft die Notwendigkeit, genau dies zu tun.

Der Haudegen Schönbohm wurde abgeschafft

Der demografische Wandel hat das konservative Denken und Sein in Deutschland zwangsmodernisiert oder besser: der ökonomischen Wirklichkeit angepasst. Konservative Politiker wie Roland Koch haben ihre Affekte gegen vermeintlich parasitäre „Ausländer“ und angeblich faule Sozialhilfeempfänger domestiziert, zumindest außerhalb von Wahlkampfzeiten. Die alten Schlachten gegen den rot-grünen Lifestyle sind längst verloren und die Union als Partei des deutschen Konservatismus hat daraus ihre Konsequenzen gezogen. So hat sich der national-konservative Flügel, von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, auf dem CDU-Parteitag in Dresden im November 2006 selbst abgeschafft. Die rund 1.000 Delegierten wählten dessen Galionsfigur, den brandenburgischen Haudegen Jörg Schönbohm, nicht einmal mehr ins Parteipräsidium. Und die CSU? Lässt sich ihr Idol Edmund Stoiber von einer rothaarigen Motorradfahrerin demontieren. So weit ist es also schon gekommen mit dem politisch organisierten Konservatismus in Deutschland.

Der moderne Konservative denkt längst ökonomisch, oft sogar neoliberal. Damit unterscheidet er sich von aufgeklärt-liberalen und linken gesellschaftspolitischen Positionen nur noch graduell. Das viel zitierte neue Bürgertum weicht in Wirklichkeit nur noch in Stilfragen vom Rest der Republik ab: Whiskey oder Rotwein? Schweinebraten lieber klassisch mit schwerer Mehlsoße oder mit Rosmarin gespickt? Das sind die letzten Glaubensfragen, die Rechts von Links unterscheiden. Moderne Konservative schlagen ihre Frauen nicht mehr und helfen selbstverständlich im Haushalt mit. Um ihre Kinder kümmern sie sich liebevoll, statt sie wie einst zum Bier holen in den Keller zu schicken.

Neue Lässigkeit, neue Unterschicht

Umgekehrt werden urkonservative Anliegen wie akzeptable Umgangsformen und eine verantwortungsvolle Kindererziehung längst auch von den Kindern der antiautoritären Alt-Achtundsechziger praktiziert. Man hat Manieren. Nach jahrzehntelangen gesellschaftspolitischen Grabenkämpfen ist ein enormer kultureller Common Sense gewachsen. Die Verkrampfungen und gegenseitigen Verdächtigungen zwischen dem rot-grünen und dem konservativen Lager sind vorbei. Gemein ist allen eine angenehme neudeutsche Lässigkeit. Die Deutschen sind lockerer geworden und genussfähig. Urlaub, Rotwein, Sonne – das eint uns, nachdem wir in den letzten Jahrzehnten kollektiv unsere südeuropäischen Nachbarn heimgesucht und von ihnen das Savoir vivre mühevoll erlernt haben. Man hat den Eindruck, wir seien alle Italiener geworden: lebensfroh, hedonistisch, freizeitorientiert.

Natürlich gibt es, vor allem auf dem Land, noch immer konservative Restbestände, die den modernen Zeiten trotzen. Als Pendant dazu existieren im Osten der Republik noch Überbleibsel einer kleinbürgerlichen, ressentimentbeladenen DDR-Mentalität. Aber das sind schrumpfende, tendenziell unbedeutende Minderheiten. Zugleich jedoch gibt es Millionen Menschen, die sich den abgeklärten neudeutschen Hedonismus gar nicht leisten können: die neue Unterschicht. Hartz IV-Empfänger haben nun einmal nicht das Geld für erstklassigen Rotwein, für den Toskana-Urlaub und das Wellness-Wochenende.

Der wahre Triumph des Neokonservativismus

An dieser Stelle verläuft die neue Demarkationslinie der Republik: zwischen den relativ Wohlhabenden und wirklich Reichen auf der einen Seite und den relativ Armen auf der anderen, die aufgrund ihrer Herkunft und, daraus folgend, mangelnden Bildungschancen häufig keine Möglichkeit haben, jemals auf die Sonnenseite des Lebens zu gelangen. Und seien wir ehrlich: Wer unter den Wohlhabenderen, ob politisch links oder rechts, möchte das überhaupt?

Dies ist der wahre Triumph neokonservativen Denkens: Der Wunsch nach Abstand, nach Distinktion gegenüber „denen da unten“ eint Unionschristen, Neoliberale, Grüne und den sozialdemokratischen Betriebsrat. Sie alle wenden sich naserümpfend von den Bewohnern der miefigen Sozialwohnungen ab, deren Einrichtung, wie sie glauben, vorwiegend aus leeren Bierflaschen, Pizzaschachteln und Killerspielkonsolen besteht. Der arrivierte Mittelstand ist fest davon überzeugt, er habe seine vergleichsweise glückliche soziale Lage vor allem der eigenen Leistung zu verdanken, während die Unglücklichen am unteren Ende der sozialen Leiter an ihrem Schicksal nicht selten selber schuld seien.

Dieses neue Klassenbewusstsein zieht sich längst durch alle Schichten und Fraktionen oberhalb der Demarkationslinie. Distinktion, Eigenverantwortung und Leistungsethik: Aus dieser Trias besteht der neue, durchaus konservative Mittelstandskonsens der Berliner Republik. Die daraus abgeleitete Politik für eine Teilkasko-Gesellschaft, die von ihren Bürgern einen steigenden Eigenanteil bei den Versicherungen gegen die Lebensrisiken Krankheit, Pflege und Arbeitslosigkeit abverlangt, droht besonders Menschen mit staatlichen Transfereinkommen oder schlecht bezahlten Jobs zu überfordern. Die gerade erst mühsam überwundene Altersarmut kehrt mit großer Sicherheit zurück, wenn die staatliche Rente wegen des demografischen Wandels auf ein Minimum beschränkt wird. Eigenvorsorge durch Aktien, Wohneigentum und Riester-Rente können sich die Aldi-Kassiererin und der Parkwächter einfach nicht leisten.

Jürgen Rüttgers’ unausgegorener Populismus

Genau hier haben wertorientierte Organisationen wie die katholische Kirche des Bischofs Mixa, denen es nicht nur um ökonomische Notwendigkeiten geht, die Chance – und sogar die Pflicht – zu intervenieren. Die wirklich spannende Frage lautet: Gibt es noch echte Wertkonservative, die sich gegen den selbstgerechten Zeitgeist wenden, der so viele Menschen ausgrenzt? Im Unionslager spielen die „Herz-Jesu-Marxisten“ Norbert Blüm und Heiner Geißler seit der neoliberalen Wende des Leipziger Parteitags Solorollen. Der selbst ernannte Arbeiterführer aus Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers, kann mit seinem unausgegorenen Sozialpopulismus wohl kaum ernst genommen werden. Wo also bleibt das konservative Pendant zur sozialdemokratischen Chancengesellschaft? Welche Konservativen sind tatsächlich bereit, nicht nur Flexibilität zu fordern, sondern auch die vom gesellschaftlichen Fortschritt Abgehängten zu fördern, etwa durch massive Investitionen in die Bildung, durch mit der Marktwirtschaft vereinbare Bürgerarbeit oder soziale Standards wie dem Mindestlohn? Mehr Krippenplätze zur Entlastung des Mittelstands sind gut. Sie allein ersetzen aber noch keine durchdachte Gesellschaftspolitik.

Konservative haben stets behauptet, zu viel Sozialstaat entmündige ihre Klientel. Jetzt wird der Sozialstaat zurechtgestutzt und die Eigenverantwortung tatsächlich gestärkt. Man darf gespannt sein, welche Empfehlungen die Konservativen für diejenigen bereithalten, die sich in dieser neuen „Freiheit“ nicht zurechtfinden.

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