Der Euro und die Launen des Marktes

Erst die gemeinsame Währung? Erst die politische Union? Die Reihenfolge macht einen Unterschied

Man hat sich fast schon daran gewöhnt: Die Konjunkturdaten werden immer besser. Zögerlich löst sich der Reformstau in den Ländern der EU auf. Die Europäische Zentralbank (EZB) erhöht moderat die Zinsen, um Inflation und Überhitzung frühzeitig entgegenzuwirken.

Und der Euro? Der reagiert mit immer neuen Allzeittiefs! Rund 86 US-Cents war die Europäische Einheitswährung Mitte September noch wert, und das obwohl die EZB gerade die Zinsen um einen Viertel Prozentpunkt auf 4,50 Prozent angehoben hatte. Mit den fundamentalen Daten ist das schon lange nicht mehr zu erklären.

Betrachtet man zwei identische Warenkörbe, den einen notiert in Euro, den anderen in US-Dollar, so sollten beide auf den gleichen realen Wert kommen. Der sich so ergebene Wechselkurs wäre demnach der, bei dem die Kaufkräfte im Einklang wären. Wendet man dieses Konzept auf das derzeitige Szenario an, so ergibt sich nach Berechnungen von Investmentbanken ein kaufkraftparitätischer Wechselkurs von 1,21 US-Dollar für den Euro.

Der Euro hat seit seiner Einführung gegenüber dem Dollar rund 25 Prozent verloren. Zunächst glaubte man, diese Tatsache mit dem außergewöhnlich langen Aufschwung in den USA erklären zu können. Doch mußte der Euro auch gegenüber anderen führenden Leitwährungen starke Kursverluste hinnehmen. So verlor die Einheitswährung seit ihrer Einführung gegenüber dem japanischen Yen sogar 28 Prozent und gegenüber dem britischen Pfund 14 Prozent an Wert. Selbst der sonst lange Zeit dem Abwärtstrend des Euro folgende Schweizer Franken ist inzwischen aus der engen Bindung ausgebrochen und hat gegenüber dem Euro an Wert gewonnen.

Das Wachstum der USA schwächt sich ab. Das steht außer Frage, allerdings weitaus langsamer als von den Märkten zunächst angenommen. Für Europa ist die anhaltend günstige Wirtschaftslage in den USA von Vorteil, da die amerikanische Nachfrage nach europäischen Gütern dem Aufschwung in Euroland zusätzlich auf die Beine hilft. Zudem weisen alle fundamentalen Indikatoren auf ein substantielles Wirtschaftswachstum in der Euroregion hin.

Das Gefälle zwischen europäischen und US-amerikanischen Wachstumsraten trägt zur Schwäche des Euro bei. Es kann aber nicht der alleinige Grund sein. Auch ordnungspolitisch ist Euroland in Bewegung geraten. Alle großen Länder haben bereits Reformen beschlossen oder sind dabei, dringende Probleme - Stichwort: staatliches Rentensystem - zu lösen, was auch eine positive Nachricht für die Märkte darstellen sollte. Warum helfen diese Nachrichten und Aussichten dem Euro nicht auf die Beine?

Zum einen ist der Reformbedarf trotz erster Erfolge weiterhin groß. Sozialdemokraten haben gegen Ende der Ära Kohl politisches Kapital aus der allgemeinen Einschätzung gezogen, die alte CDU/CSU/FDP-Koaltition sei abgenutzt und nicht mehr in der Lage, überfällige Reformprojekte in Angriff zu nehmen. Die Regierung Schröder hat sich den drängenden Fragen in für manche überraschender Konsequenz angenommen. Der Reformstau ist aber bisher nur zum Teil abgearbeitet.

Die Steuerreform war ein erster Erfolg. Politik, Wirtschaft und Ökonomen sind sich einig, daß damit ein wichtiger Grundstein für die wirtschaftliche Gesundung gelegt wurde. Aber die Erinnerungsfähigkeit der Märkte ist nicht sonderlich ausgeprägt. Kaum ist ein Problem bewältigt, müssen neue Erfolge her. Das langsame politische Spiel des Interessenausgleichs und behutsamen Abwägens aller politischen und wirtschaftlichen Faktoren kann keinen Devisenhändler, der laufend dem Marktrisiko unterliegt und im Minutentakt Investitionsentscheidungen treffen muß, überzeugen. Langfristige Perspektiven spielen hier keine Rolle, sondern ausschließlich die Marktdynamik.

Die Geister, teilweise selbst von ökonomischen Modeerscheinungen folgenden Analysten herbei geredet, teilweise aus echten Mißständen gezeugt, lassen sich nicht mehr verscheuchen. Sie treiben die Anleger aus dem Euro in die anderen internationalen Leitwährungen. Neben übertriebenem Reformwahn gibt es aber sehr wohl erhebliche Strukturprobleme in Deutschland und Europa. Hierbei wird für gewöhnlich zuerst auf die Rigiditäten der europäischen Arbeitsmärkte hingewiesen. Zahlreiche Lösungsansätze sind auf den Weg gebracht. Stichworte sind hier der zweite Arbeitsmarkt und die Konditionierung von sozialen Transferleistungen.

Ein vielleicht genauso wichtiges, vermutlich noch viel größeres Problem, ist die nicht finanzierbare Alterssicherung. Simple Zusammenhänge von Altersstruktur der Bevölkerung und Lebensarbeitszeit sowie Beitragszahlung und Leistungsanspruch wurden zu lange ignoriert. Eine ausgewogene Rentenreform mit steuerlicher Flankierung - Stichwort: nachgelagerte Besteuerung - und gleichmäßiger Verteilung der Alterssicherung auf alle Schultern, sei es durch fiskalische Maßnahmen, sei es durch Verbreiterung der Struktur der Beitragszahlungen, bleibt schwierig umzusetzen. Dennoch wird die finanzwirtschaftliche Stabilität der europäischen Volkswirtschaften ganz entscheidend von Erfolgen in diesem Bereich abhängen.

Drittes Beispiel: das Hochschulsystem. Auch hier gelten die angelsächsischen Modelle immer noch als vorbildlich. Zwar häufig zu unrecht, aber angesichts nicht wegzudiskutierender Schwächen im deutschen Schul- und Universitätssystem geraten deutsche Absolventen im internationalen Vergleich schnell in die zweite Reihe.

Wirtschaftskräfte, häufig geprägt von unvollkommener Information, reagieren sensibel auf gesellschaftliche Entwicklungen. Sie beruhen zu einem guten Teil auf Erwartungen. Wenn diese unerfüllt bleiben, kann es in einer globalen Wirtschaft schnell zu großen Kapitalumschichtungen kommen. Natürlich dürfen die Märkte nicht die Politik dominieren. Aber genauso wenig, wie man den Irrationalitäten von Währungsmärkten gerecht werden kann, kann man die Marktkräfte einfach ignorieren. Die Frage im Zusammenhang mit dem Reformstau bleibt immer das Wie, niemals das Ob, jedenfalls wenn man sich auf absehbare Zeit noch amerikanische Computerbetriebsysteme oder in Dollar gehandeltes Erdöl leisten will.

Die zweite Seite des Europroblems ist die Konstruktion der Europäischen Union selbst. Man kann sich fragen, ob der Euro zur richtigen Zeit gekommen ist. Jedoch wird es für einen derartig einschneidenden Schritt wohl nie die richtige Zeit sein. Die Nachwehen der deutschen Wiedervereinigung hätten abgewartet werden können. An der Tatsache, daß bei einem Zusammenschluß von stärkeren und weniger starken Währungen nicht die Stärke der stärksten Währung Grundlage der Bewertung wird, hätte das allerdings nichts geändert. Vor dem Hintergrund, daß die europäische Zentralbank erst noch eine, im internationalen Währungssystem unermeßlich wichtige, Reputation aufbauen mußte, konnte der Euro eigentlich keine von Beginn an starke Währung werden. Politische Ratschläge an die unabhängige Zentralbank in Sachen Geldmengenwachstum sowie Diskussionen um nationalstaatliche Interessen bei der Bestellung des Zentralbankpräsidenten haben dabei nachhaltig kontraproduktiv gewirkt. Selbst innerhalb der solide arbeitenden EZB ist es im ersten Jahr des Euro zu verwirrenden Aussagen führender Zentralbanker gekommen.

Das momentane Eurotief sollte nicht überbewertet werden. Die EZB stellt derzeit die Rahmenbedingungen für ein gesundes Wirtschaftswachstum sicher und die Inflation in der Euroregion ist eine der niedrigsten der Welt. Der derzeitige Aufschwung stützt sich zu einem erheblichen Teil auf die Exportwirtschaft, die von der Unterbewertung des Euro profitiert. Jedoch gefährdet ein immer schwächer werdender Euro die Preisstabilität über teurer werdende Importe. Das trifft nicht nur die Konsumenten sondern auch die Industrie, die mehr für aus außereuropäischen Ländern bezogene Rohstoffe und Vorprodukte zahlen muß. Daher muß die EZB der Talfahrt des Euro entgegensteuern. Der Beitrag der Politik hierzu sollte in abgestimmten Äußerungen bestehen, die die Märkte nicht unnötig verunsichern, in weiteren Bemühungen, Europa zu modernisieren, und in einer sinnvollen zeitlichen Planung der europäischen Osterweiterung.

Auch im europäischen Kontext gilt, daß Argumenten, die aus wirtschaftlicher Sicht vorgebracht werden, nur schwer politische Argumente entgegenzusetzen sind, weil erstere häufig nur auf nackten Zahlen beruhen. Daß Wirtschaft und Politik nicht voneinander zu trennen sind, ist eine Binsenweisheit. Die wirtschaftlichen Gründe für die Schwäche des Euros mögen zur Erklärung beitragen, sie greifen jedoch zu kurz.

Was einem wirklich, oder modischer ausgedrückt: nachhaltig starken Euro fehlt, ist eine politische Union oder zumindest eine neue, glaubhafte europäische Bewegung.
Genau an diesem Punkt bewegt sich die Einführung des Euro auf einem gefährlichen Terrain. Mit einer guten wirtschaftlichen Entwicklung, einer starken und angesehenen Zentralbank sowie auf technokratischer Basis gut funktionierenden europäischen Institutionen mag der Euro so stark sein wie der Dollar oder der Yen. Die alltäglichen Probleme und Mißverständnisse im europäischen Zusammenleben lassen den Euro aber einen ungleichen Kampf führen. Es gibt keine Einheit, die symbolisch hinter ihm und für seine Funktion und mithin seinen Wert steht. Von daher ging die Einschätzung, über eine wirtschaftliche Einigung, manifestiert durch die gemeinsame Währung, ließe sich auch die politische Einigung voranbringen, genau in die falsche Richtung. Ohne die politische Einigung bleibt der Euro anfällig für jede kleine Laune des Marktes. Wurde bei der Einführung des Euros noch der Gedanke eines vereinten Europas gepflegt, so scheinen wir nun von dieser Idee ein gutes Stück entfernt zu sein. Statt über neue Römische Verträge zu reden, ist nur die neue europäische Währung in aller Munde.

Da wir die Währung nun haben, müssen wir lernen, damit zu leben. Die einzige Lösung des Dilemmas besteht darin, das, was ursprünglich versäumt wurde, jetzt mit höchster Priorität nachzuholen: die politische Einigung Europas. Ein Zurück zu nationalen Währungen könnte sonst sehr schnell wieder auf der Tagesordnung stehen. Wenn der europäische Gedanke in den Vordergrund gestellt und durch glaubhaftes politisches Handeln vorangebracht wird, ist der Euro bald kein Thema mehr - und zwar im positiven Sinne.

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