Der Elefant im Raum

Am rechten und linken Rand gedeihen Verschwörungstheorien schon immer. Jetzt drohen sie auch in den politischen Mainstream einzusickern. Für die Demokratie ist das brandgefährlich

Warum sind die Zinsen so niedrig? Weil der Chef der Europäischen Zentralbank im Geheimauftrag der Wall Street den Euro zugrunde richten soll. Warum treibt die Bundesregierung das transatlantische Handelsabkommen TTIP voran? Weil so die amerikanischen Konzerne auch noch die europäischen Verbraucher vergiften können. Warum sinkt der Ölpreis? Weil die Amerikaner den Saudis befohlen haben, die Märkte mit Öl zu fluten, um so die verhassten Russen in den Staub zu zwingen.

In der Redaktion von Spiegel Online kennen wir diese einfachen Erklärungen. Sie quellen uns dutzendfach aus unseren E-Mail-Postfächern entgegen oder finden sich in den Diskussionen unseres Leserforums. Gemeinsamer Nenner dieser Beiträge: Nichts ist so wie es scheint, stets lenken geheimnisvolle Mächte im Hintergrund unser Leben. Und die „Lügenpresse“ schweigt diese offensichtliche Tatsache tot, weil sie mit eben jenen dunklen Mächten konspiriert.

Tatsächlich gibt es so etwas wie ein zweites, paralleles System der Weltdeutung. Das erste System bilden in Deutschland und in den meisten anderen westlichen Demokratien die Massenmedien und der öffentlich geführte politische und wissenschaftliche Diskurs. Im allerweitesten Sinne orientiert er sich an liberalen, demokratischen Grundsätzen: Fakten müssen belegbar sein, Hypothesen falsifizierbar. Einen absoluten Wahrheitsanspruch gibt es nicht, die politische Willensbildung ergibt sich aus möglichst offen ausgetauschten Argumenten.

Entlastung von der Komplexität unserer Zeit

Doch es reicht, bei Google den Begriff „Neue Weltordnung“ einzugeben, um auf eine faszinierende Gegenöffentlichkeit zu stoßen. Statt Offenheit herrscht hier Geschlossenheit, statt Unsicherheit Sicherheit. Es ist ganz klar, wie alles zusammenhängt. Neue Fakten dienen allein der Bestätigung längst gewonnener Überzeugungen. Es ist das Weltbild der Verschwörungstheoretiker: Nicht die Bürger kontrollieren ihr Schicksal, sie werden kontrolliert. Demokratie ist nur eine Kulisse, um die Identität der wahren Machthaber zu verschleiern.

Michael Butter, Amerikanistik-Professor an der Universität Wuppertal, beschäftigt sich wissenschaftlich mit solchen Verschwörungstheorien. Er sieht in ihnen eine Art Religionsersatz: „Statt Gott lenken jetzt Verschwörer die Welt.“

Verschwörungstheorien sind demnach eine Form der Entlastung von der zunehmenden Komplexität des Lebens. Denn seit der Aufklärung kann der Mensch nicht mehr alles, was ihm widerfährt, mit Gottes Wille erklären. Da mag es eine willkommene Erleichterung bedeuten, eine andere Form von höherer Macht zu bemühen, um Missstände zu erklären.

Zumal die mutmaßliche Wahrheit ziemlich unbequem ausfällt: Es gibt keine zentrale Instanz, die das Schicksal der Menschen lenkt, weder im Guten noch im Schlechten. Es gibt keinen höheren Sinn des Daseins. Wir alle sind gemeinsam unseres kollektiven Glückes Schmied, und mal ehrlich: Wir stellen uns beim Schmieden nicht allzu geschickt an. Würden wir es schaffen, unsere kollektive Dummheit, unsere Gier, unseren Jähzorn und unsere Trägheit in den Griff zu bekommen und unser Zusammenleben besser zu organisieren, dann müsste schon lange niemand mehr hungern, niemand mehr in Kriegen sterben – und die Sache mit dem Treibhauseffekt hätten wir inzwischen auch geregelt.

»Die da oben« machen ja doch, was sie wollen

Wie trostreich ist es da, unser gemeinsames Versagen auf eine Handvoll Konzerne, Politiker und korrupte Journalisten zu schieben.

Verschwörungstheorien sind besonders an den rechten und linken Rändern des politischen Spektrums verbreitet. Dort wo man sich revolutionär gibt und „das System“ grundlegend verändern, wenn nicht stürzen will. Doch Verschwörungstheorien haben in Wahrheit nichts Revolutionäres. Im Gegenteil: Sie sind erzreaktionär. Sie verleiten zur Passivität, zum Spintisieren in irgendwelchen Onlineforen. Statt sich die Macht zu nehmen, die Bürger in einer Demokratie haben – egal wie viel oder wenig das sein mag –, lamentieren Verschwörungstheoretiker über die eigene Machtlosigkeit, weil „die da oben“ ja doch machen, was sie wollen.

Dabei übersehen die Bürger oft den Elefanten, der mitten im Raum steht: die vielen völlig realen und meist kein bisschen geheimen Fälle, in denen die Eliten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien tatsächlich in bedenklicher Weise miteinander kungeln – bisweilen zum Nachteil der Normalbürger, oft zum Nachteil der Armen in anderen Ländern und fast immer zum Nachteil kommender Generationen.

Das Geraune wird gesellschaftsfähig

Unzählige Verschwörungstheorien ranken sich zum Beispiel um die Bilderberg-Konferenz – angeblich wichtiger Treffpunkt einer geheimen Weltregierung. Dabei trifft sich wenige hundert Kilometer entfernt vom ursprünglichen niederländischen Veranstaltungsort tatsächlich Jahr für Jahr die Elite aus Medien, Politik und Wirtschaft. In Davos arbeitet sie an einer gemeinsamen Sicht auf die Welt – kein bisschen geheim, aber auch keineswegs immer zum Vorteil jener 99,99 Prozent der Weltbevölkerung, die sich hier beim Jahrestreffen des World Economic Forum keinen Zutritt erkaufen können. Davos war jahrelang ein wichtiges Forum, um sich gegenseitig in der universalen Richtigkeit des so genannten Washington Consensus zu bestätigen, eines umstrittenen Politikpakets aus Privatisierung, Freihandel und öffentlichem Sparkurs.

Schade auch um all die geistige Energie, die in die Debatte um das angebliche Megagift Aspartam fließt (Großindustrie und staatliche Gesundheitsbehörden sollen sich verbündet haben, um die dramatischen Risiken des Süßstoffes totzuschweigen). Diese Energie fehlt nämlich im Kampf gegen jene Lebensmittel, mit denen uns die Industrie tatsächlich krank macht, weil sie extrem zucker- und fetthaltig sind. Seit Jahren versucht sich die Europäische Union an der verpflichtenden Kennzeichnung solcher Lebensmittel in Form einer Lebensmittel-Ampel, wobei rot für besonders ungesund steht. Seit Jahren scheitert sie an der Industrielobby. Ein bisschen öffentlicher Druck der Verbraucher könnte sicher nicht schaden.

Und ja, Politiker unterliegen oft bedenklichen Lobbyeinflüssen aus der Wirtschaft, das zeigt sich zum Beispiel an der schleppenden Bankenregulierung oder am EU-Glühlampenverbot. Mit üppigen Spenden können sich Unternehmen tatsächlich das Gehör von Politikern erkaufen. In deutschen Parteien zum Beispiel gilt es als comment, dass Großspender bevorzugten Zugang zu Spitzenpolitikern genießen. Aber Gehör heißt noch nicht Gehorsam. Dem Lobbydruck von Unternehmen geben gewählte Politiker nur dann nach, wenn sie davon ausgehen, dass der Widerstand ihrer Wähler schon nicht allzu groß ausfallen wird. Die Bürger haben es in der Hand, dieses Kalkül nicht aufgehen zu lassen.

Umgekehrt gilt: Gäbe es tatsächlich eine geheime Weltregierung aus Politikern und Großkapital – diese Weltregierung müsste auf der Stelle Verschwörungstheorien erfinden, um das Volk zu sedieren. An diesen Theorien können sich die Bürger nach Herzenslust abarbeiten – und dabei den gewaltigen Einfluss übersehen, den sie tatsächlich haben könnten.

Noch handelt es sich bei den Anhängern von Verschwörungstheorien um eine Minderheit. Doch in letzter Zeit mehren sich die Anzeichen, dass sich der Glaube an geheimnisvolle Mächte von den Rändern der deutschen Gesellschaft allmählich in ihre Mitte hineinfrisst. Der Begriff „Lügenpresse“ ist mittlerweile selbst unter konservativen Akademikern anschlussfähig – das dazu passende Buch Gekaufte Journalisten von Udo Ulfkotte ein Bestseller. Und in der Euro-Krise gehören Verschwörungstheorien plötzlich zum Diskurs des politischen Mainstream. „Die haben uns den Währungskrieg erklärt“, schimpfte der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok 2012 – und sprach geheimnistuerisch von „starken Kräften in den USA, insbesondere aus der Finanzwirtschaft“, die „die Eurozone zerschießen“ wollten. Sogar in der US-Regierung gebe es viele, denen „ein geteiltes, weniger einflussreiches Europa lieber“ wäre. Belege: Fehlanzeige.

Wenn derartiges Geraune die anonymen Onlineforen verlässt und plötzlich von Politkern kommt, die sich selbst bürgerlich nennen, haben die Verschwörungstheoretiker einen ersten Sieg errungen.

Christian Rickens ist Herausgeber des Buches „Das Glühbirnenkomplott: Die spektakulärsten Verschwörungstheorien – und was an ihnen dran ist“, das im Januar im Kiepenheuer & Witsch Verlag erschienen ist. Es hat 224 Seiten und kostet 8,99 Euro.

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