Ankunft in der Zwischenwelt



1 Sämtliche westliche Industriestaaten erleben derzeit, wie die Rollen von Staat und Markt von der Gesellschaft neu verhandelt werden. Rund 30 Jahre nachdem Ronald Reagan und Margaret Thatcher die neoliberale Revolution in Gang gesetzt haben, ist der Laisser-faire-Kapitalismus während der Weltfinanzkrise hart und deutlich an seine Grenzen gestoßen. Soweit die Ultrakurzanalyse, in der sich nicht nur Sozialdemokraten weitgehend einig sein dürften. Auch die meisten konservativen oder ökologischen und sogar viele liberale Parteien rund um den Globus würden ihr wohl zustimmen. Die zentrale Frage lautet: Was kommt jetzt?

Die Antworten der Sozialdemokraten darauf scheinen beim Wähler nicht so selbstverständlich zu verfangen, wie sich das manch altgedienter Sozialdemokrat vielleicht wünscht. Frei nach der Formel: „Die Rechten haben den Karren in den Dreck gefahren, also wer soll ihn herausziehen, wenn nicht wir?“ Sicher, die Bürger wünschen sich weniger Markt, im Sinne eines besser eingehegten Kapitalismus. Aber sie glauben eben auch nicht daran, dass eine Rückkehr zu mehr Staatstätigkeit ihr Leben verbessert. Zu viele Deutsche haben inzwischen frustrierende Erlebnisse mit staatlichen Großbürokratien gemacht, sei es die Bundesagentur für Arbeit, das gesetzliche Gesundheitssystem oder auch nur ein steuerfinanziertes Großbauprojekt wie Stuttgart 21, dessen Sinn sich den Bürgern nicht erschließt. Gleichzeitig ist für die meisten die Belastung durch Steuern und Sozialabgaben längst an einem Punkt angelangt, an dem „mehr Staat“ eher wie eine Bedrohung für das eigene Netto-Einkommen klingt als wie eine Verheißung auf mehr und bessere staatliche Leistungen.

Das Marktmisstrauen in Deutschland ist durch die Finanzkrise gewachsen, aber das Staatsvertrauen nicht im Gegenzug gestiegen. Sozialdemokraten werden jedoch noch immer als die Partei wahrgenommen, die Probleme im Zweifel durch den Ausbau des Staates lösen will. Dass die rot-grüne Landesregierung in Düsseldorf unmittelbar nach der Wahl die Neuverschuldung drastisch nach oben fährt, um ihre Wahlversprechen zu erfüllen, bestätigt dieses (Vor-)urteil der Bürger leider aufs Schönste.

2 Es wird darauf ankommen, dass Sozialdemokraten den Mut haben, sich aus dem schlichten Dualismus von mehr Markt versus mehr Staat zu befreien. Die SPD muss sich von ihrer Fixierung auf steuer- und sozialabgabenfinanzierte Großbürokratien verabschieden und jene artenreiche Zwischenwelt (wieder) für sich entdecken, mit deren Hilfe sich gesellschaftliche Aufgaben auch jenseits von Markt und Staat erledigen lassen. Starke Gewerkschaften und Betriebsräte können auch ohne staatliche Mindestlöhne für eine faire Arbeitswelt sorgen. In Genossenschaften lassen sich Wohnungsbau oder Energieversorgung auf kommunaler Ebene solidarisch und unbürokratisch organisieren. Bürgerinitiativen und Vereine wissen oft am besten, wo im Stadtteil ein Spielplatz fehlt oder eine Sportanlage renoviert werden müsste – und sind im Gegenzug oft auch bereit, dort den Rasen zu mähen oder das Klettergerüst neu zu streichen.

Wohlgemerkt: Es geht hier nicht darum, unter dem Deckmantel der Bürgergesellschaft den Rückbau des Staates zu propagieren. Es geht darum, neue Antworten darauf zu finden, wie der Staat mit begrenzten finanziellen Mitteln mehr erreichen kann, ohne entweder immer größere Teile des Gemeinwesens den Unwägbarkeiten des Marktes zu überlassen oder sich alternativ am Gebot finanzieller Nachhaltigkeit zu versündigen. Denn beides wird der Wähler mit Recht hart bestrafen. Sozialdemokraten müssen deshalb umlernen. Sie müssen erkennen, dass mehr Haushaltsmittel plus mehr Planstellen noch lange kein gesellschaftliches Problem lösen und dass möglichst viele durchschnittene rote Bändchen noch keinen politischen Tätigkeitsnachweis bedeuten.

3 In vielen westdeutschen Groß- und Mittelstädten, also dem klassischen Wählerrevier der SPD, bilden die Grünen inzwischen das wichtigste Bindeglied zwischen Politik einerseits und Vereinen, Initiativen und Genossenschaften andererseits. Kein Wunder, denn ideologisch steht den Grünen der Grassroots-Ansatz der Bürgergesellschaft wesentlich näher als den Sozialdemokraten mit ihrer in Jahrzehnten der Regierungsverantwortung erlernten Vorliebe für zentral gelenkte grand designs samt der Macht, die solchen Großstrukturen innewohnt. Es hilft alles nichts: Die Sozialdemokraten müssen diese Position im Westen von den Grünen zurückerobern und im Osten von der Linkspartei, die dort vielerorts die Rolle des bürgernahen Kümmerers übernommen hat. Die SPD muss lernen, die facettenreichen Spielarten der Bürgergesellschaft ernst zu nehmen und in ihre Politik einzubinden. Nur wenn die SPD diesen mühsamen Weg beschreitet, wird sie je wieder aus ihrem Paarundzwanzig-Prozent-Ghetto herausfinden. Wie die Alternative aussieht, hat die SPD in der Wahlnacht in Stuttgart gezeigt: ehrliche Freude über die Selbstverzwergung als Juniorpartner in einer grün-roten Koalition. «

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