Der Diskurs der Sozialdemokratie braucht die Berliner Republik



Selbst in Berlin aufgewachsen, habe ich den Begriff „Berliner Republik“ immer etwas skurril, fast lustig gefunden. Er symbolisierte einen Aneignungsprozess für jene, die sich an die neue, tatsächlich aber alte Bedeutung von Berlin erst wieder gewöhnen mussten, weil sie in der schönen, alten rheinischen Bundesrepublik nicht nur einen Teil Deutschlands sahen (was sie war), sondern das ganze Deutschland (was sie nicht war). In der Tat ist der Begriff „Berliner Republik“ das Ergebnis eines altbundesdeutschen Diskurses, und dies aus zweierlei Gründen.


Zum einen waren nur jene gezwungen, einen Begriff für die Veränderung durch 1989 zu finden, die ihre Identität zuvor aus der altbundesdeutschen, Bonner Republik bezogen hatten. Wer hingegen das Ende der DDR als DDR-Bürger erlebt hat, der konnte hier kaum einer Fiktion von Kontinuität aufsitzen. Die Westdeutschen aber konnten dies. Denn die Institutionen als solche änderten sich ja nicht. Es waren nur ein paar Länder mehr als bisher, und die waren auch noch „beigetreten“ – und so ist ja auch der Vereinigungsprozess tatsächlich verstanden worden. Das erleichterte die Ignoranz gegenüber dem gewaltigen Veränderungspotential, das die Deutsche Einheit für die Bundesrepublik Deutschland in Wirklichkeit mit sich brachte.

Der Diskurs ist nicht des Ostdeutschen Sache

Zum anderen aber – das muss man als Ostdeutscher eben auch neidvoll anerkennen – ist der Diskurs nach wie vor eine Sache, an der die Ostdeutschen nur ungenügend teilnehmen und teilhaben. Die Neigung zum politischen Gespräch, zur öffentlichen Debatte als selbstverständlichem Bestandteil einer offenen, zivilen Gesellschaft ist hier nach wie vor unterentwickelt. Die Ostdeutschen schweigen lieber. Oder sie gehen ganz und übergangslos ins Gegenteil über, schreien ihre Ansichten heraus, wie bei den neuen Montagsdemonstrationen im Sommer 2004 wieder geschehen. Das ist nicht gut, aber es ist so. Und es ist auch ein Grund für die unterentwickelten Strukturen der Sozialdemokratischen Partei in Ostdeutschland, denn eine Sozialdemokratische Partei kann nur existieren, wo der offene Diskurs gepflegt wird. Also sollte die SPD in Ostdeutschland zu einem offenen Diskurs beitragen und eine lebendige, diskussionsfreudige Öffentlichkeit anstreben.


Dies ist freilich nicht der Part der Zeitschrift Berliner Republik, wenngleich sie ein Podium dafür bietet. Die eigentliche Aufgabe der Berliner Republik als Zeitschrift aber ist ein andere – und greift tief in die Strukturen der heutigen SPD ein.


Die heutige SPD – manche sagen abfällig „Schröder-SPD“, eine nicht ganz falsche Titulierung – ist von eben jenem Gerhard Schröder nach 16 Jahren Opposition wieder an die Regierung geführt worden. Diese Regierungsverantwortung ist ein Segen für die Partei. Nichts konfrontiert eine Partei so sehr mit der harten gesellschaftlichen Wirklichkeit wie Regierungsverantwortung. Man kann dann nicht mehr wegsehen. Man muss dann Fragen beantworten, auch wenn man sie am liebsten verdrängen würde. Dieser Effekt hat die SPD zweifellos verändert, und er tut dies noch immer. Die SPD muss seit ihrer Regierungsübernahme Dinge tun, die sie ursprünglich verabscheute wie der Teufel das Weihwasser. Das Spektrum der Entscheidungen reicht von Auslandseinsätzen der Bundeswehr bis hin zu harten Einschnitten ins soziale Netz. Vor sieben Jahren hat es wohl nur wenige Sozialdemokraten gegeben, die sich Maßnahmen überhaupt nur vorstellen konnten, wie wir sie heute realisieren müssen.


Um solche Veränderungen durchstehen zu können, braucht es einen ausgeprägten Machtwillen. Den hat die SPD gewiss. Und doch lässt sie sich nicht auf ihr Machtbewusstsein reduzieren. Für die SPD ist die Macht kein Wert an sich, sondern immer mit der Frage verbunden, was damit anzufangen sei. Und dafür muss sich die Partei ihrer Ziele sicher sein. Denn die SPD ist eben keine Klientel- oder Milieupartei, der die partikularen Interessen ihrer Anhänger alles sind, sondern sie ist eine Programmpartei. Als solche aber braucht sie eine attraktive Idee für die deutsche Gesellschaft, dafür braucht sie Wertegrundlagen und sie muss sich dieser Werte ständig neu versichern. Gerechtigkeit, Freiheit, Solidarität sind immerwährend in der Gefahr, zu hohlen Phrasen und leeren Begriffen zu verkommen, wenndiese Ideen oder Werte im Handeln und in den Zielen der Partei nicht permanent ihre neue Bestätigung erfahren. Deshalb kann die SPD ihren Sinn nicht allein im Regieren finden, sondern braucht einen Diskurs, der eine Verbindung von praktischer Politik hin zu ihren wertemäßigen Grundlagen knüpft. Erst dieser Diskurs gestattet es ihren Mitgliedern, Herausforderungen zu erkennen und Lösungsmodelle zu entwerfen, zu diskutieren und mitzuentscheiden. Die Mündigkeit der SPD erschöpft sich eben nicht in Personalentscheidungen, sondern sie zeigt sich besonders in ihrer Fähigkeit zu programmatischen Diskussionen.


Dieser Diskurs aber ist die schwache Seite der Schröderschen SPD. Es gibt hier eine Neigung zu einer Politik der vollendeten Tatsachen. Der Diskurs geht nicht der politischen Entscheidung voraus, sondern er hat ihr zu folgen. Das Kennzeichen einer mündigen Partei ist das nicht. Wo die Partei nicht auf der Höhe der Zeit war und teilweise auch noch nicht ist, mag dieses Muster noch angehen. Auf Dauer geht es nicht, wenn die SPD als Programmpartei nicht Schaden nehmen will.


Für die Regierenden aber, also die Inhaber der Macht, ist der Diskurs ambivalent. Er ist nötig, wenn esdarum geht, schwierige Entscheidungen auf mehr Schultern zu verteilen. Doch müssen gleichzeitig auch unangenehme Fragen beantwortet werden. Ja, sogar die Grundlagen der eigenen Macht werden unvermeidbar Gegenstand der öffentlichen Diskussionen.


Über die Strukturen der Macht selbst zu diskutieren ist schon immer das Markenzeichen einer mündigen, offenen Gesellschaft gewesen. Insofern leistet die Berliner Republik als Identität stiftendes Publikationsorgan der Netzwerker zugleich der SPD als Programmpartei einen unschätzbaren Dienst. Natürlich, die Netzwerker haben auch ihre eigenen Interessen, auch sie wollen vorankommen, auch ihre Generation will und soll Politik gestalten, so wie es in der Schröderschen SPD heute die Generation der Achtundsechziger tut. Die Berliner Republik jedoch reicht in ihrer Bedeutung weit über das Generationenprojekt der Netzwerker hinaus und ist damit kein schlechter Ausweis ihrer künftigen Handlungskompentenz.

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