Der dauerhafte Bärendienst



Es ist schon eine Ironie der Geschichte: Ausgerechnet im Jahr 2010 tragen die  Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 deutlich sichtbare Früchte – aber anstatt die Erfolge offensiv für sich zu reklamieren, rückt die SPD von den beschlossenen Maßnahmen wieder ab. Den „Aufschwung XXL“ schreiben sich derweil Union und FDP auf die Fahnen.  Wie die Umfragewerte der SPD zeigen, schert sich out there kaum jemand um diese Form der Vergangenheitsbewältigung. Interessant kann die SPD nur dann wieder werden, wenn sie sich den neuen arbeitsmarktpolitischen Herausforderungen zuwendet, die mittlerweile entstanden sind. Gerade im Aufschwung zeichnet sich der zunehmende Fachkräftemangel ab, den die demografische Entwicklung noch verstärken wird.

Unseren Wohlstand werden wir nur sichern können, indem wir erstens die Beschäftigungsquote bestimmter Personengruppen erhöhen, allen voran von Frauen. Dafür hat die SPD durchaus gute Konzepte: Ausbau der Kinderbetreuung, flexiblere Arbeitszeiten, gute Arbeitsbedingungen, anständige Bezahlung. Zweitens werden wir künftig auf mehr Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen sein – und zwar auf Hoch- wie Niedrigqualifizierte gleichermaßen. Doch dieses Thema reden Sozialdemokraten gern klein. So vertritt der stellvertretende Parteivorsitzende Olaf Scholz die Auffassung, Deutschland könne den Fachkräftemangel in Lehrberufen dadurch lösen, dass die Berufsausbildung verbessert und Arbeitslose nachqualifiziert werden. Überdies seien wir für den globalen Wettbewerb um die klügsten Köpfe gut gerüstet. Als Arbeitsminister habe er den „weltweit offensten Arbeitsmarkt für Akademiker“ geschaffen, schrieb Scholz jüngst in der Financial Times Deutschland. Selbst wenn das so wäre, ist es ein Irrtum zu glauben, man müsse nur technokratisch an ein paar Stellschrauben drehen – und schon strömten die Wunschkandidaten in Scharen herbei. In Wirklichkeit ist Migration ein langfristiger und hochkomplexer Prozess, der nie gradlinig und rational verläuft und stets auf der Basis individueller Entscheidungsfindung beruht. Nicht nur Gesetze oder gute Sozial- und Steuersysteme, sondern vor allem weiche Faktoren wie das Image und die Willkommenskultur des Aufnahmelandes sind wichtig. Unglücklicherweise hat Deutschland auf diesem Gebiet deutlichen Nachholbedarf – nicht erst seit der Sarrazin-Debatte und Angela Merkels weltweit mit Empörung aufgenommenem Satz „Multikulti ist absolut gescheitert“. So zeigen etwa Umfragen unter ausländischen Studierenden, dass Deutschland bei dem Punkt „Offenheit gegenüber anderen Kulturen“ schlecht abschneidet.

Als Großbritannien und Irland im Jahr 2005 ihre Arbeitsmärkte für die Bürger der zehn neuen EU-Mitgliedsstaaten öffneten, um die eigene Wirtschaft zu stärken, trat ein nicht zu unterschätzender Nebeneffekt ein: Sie „anglophilisierten“ eine ganze Generation junger Osteuropäer, die der Sprache, dem Land und den Leuten noch verbunden bleiben werden, wenn sie schon längst wieder in ihr Heimatland zurückgekehrt sind. Dagegen haben sozialdemokratische Arbeitsminister auf einer siebenjährige Übergangsfrist für den deutschen Arbeitsmarkt bestanden – und der Fachkräftesituation in Deutschland damit dauerhaft einen Bärendienst erwiesen. Viel spricht dafür, dass nur noch eine überschaubare Zahl von Osteuropäern in Deutschland eine Arbeit aufnehmen wird, wenn im nächsten Jahr die Übergangsfrist endet. Schon heute fällt die Resonanz auf Versuche deutscher Unternehmen, in Polen Auszubildende zu finden, eher kläglich aus.  

Laut einer Studie der FES ist Ausländerfeindlichkeit unter den Anhängern keiner anderen demokratischen Partei so verbreitet wie unter denen der SPD. Der Verdacht drängt sich auf, dass sozialdemokratische Politiker das Thema Zuwanderung meiden, um die sozialdemokratische Kernklientel nicht zu verunsichern. Damit aber handeln diese Politiker entgegen der aufklärerischen Tradition ihrer Partei. Und sie übersehen, dass die übergroße Mehrheit der Bevölkerung die objektive Notwendigkeit der Zuwanderung sehr wohl versteht oder davon überzeugt werden kann – nicht zuletzt, weil schon heute jeder fünfte Einwohner Deutschlands einen Migrationshintergrund besitzt. Die umsichtige Ausgestaltung der Zuwanderung wird zentraler Bestandteil jeder wirklichkeitstauglichen „Agenda 2020“ sein müssen.

Unsere Kolumnistin Anke Hassel veröffentlicht in diesem Heft einen
längeren Beitrag und wird durch Katarina Niewiedzial vertreten.


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