Der Chefreporter mit dem Biegeeisen

Eine breite Debatte über die Rolle des freiwilligen Engagements in der Gesellschaft ist längst im Gange. Thomas Leif hat sie nicht vorangebracht

Scheuklappen beschränken die Sicht. Das soll Irritationen verhindern, die beim Wahrnehmen der Gesamtrealität eintreten könnten. So sinnvoll die Nutzung von Scheuklappen bei Kutschpferden sein mag - im Kontext gesellschaftspolitischer Diskussionen erscheint die verengte Wahrnehmung der Wirklichkeit wenig sinnvoll. Sie führt dazu, dass Wege außerhalb ausgetretener Trampelpfade nicht wahrgenommen werden.

Ein Beispiel für das scheuklappenbedingte Beschreiten eines Trampelpfades hat jüngst Thomas Leif gegeben. Ausgehend von den Ergebnissen einer Erhebung zum freiwilligen Engagement in Deutschland ("Freiwilligensurvey"), die im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Jahr 1999 durchgeführt wurde, will Leif "geschönte Zahlen" entdeckt haben, die "auf Sand gebaut sind". Leif glaubt, der "hohen Kunst der statistischen Manipulation" auf der Spur zu sein.

Dabei scheut er nicht vor großen Behauptungen zurück. Leif erweckt den Eindruck, dass der Freiwilligensurvey zu Ergebnissen kommt, die nichts mit der Realität freiwilligen Engagements in Deutschland zu tun haben. Und er unterstellt, dass die zahlreichen Aktivitäten im Internationalen Jahr der Freiwilligen wenig anderes waren als der Versuch von Lobbyisten, mehr für ihr Klientel herauszuschlagen. Doch der öffentlich-rechtliche Chefreporter Thomas Leif arbeitet an vielen Stellen mit dem Biegeeisen, er fabriziert Fehlleistungen, und er argumentiert weder sachlich noch sauber.

Jammern gehört zum Funktionärshandwerk

Bei der Einordnung der Ergebnisse des Freiwilligensurveys scheitert Thomas Leif an den Folgen mangelnder Recherche. "Wenn die Zahlen stimmen würden, wäre Deutschland Spitze im Feld des sozialen Engagements", stellt er fest. Das aber ist schlichtweg falsch. Die vom Freiwilligensurvey ermittelten 22 Millionen freiwillig Engagierten entsprechen 34 Prozent der Gesamtbevölkerung im Alter ab 14 Jahren. Das aber bedeutet gerade mal einen Platz irgendwo im internationalen Mittelfeld. So gibt Thomas Gensicke von Infratest Sozialforschung für die Vereinigten Staaten eine auf Umfragen von Robert Wuthnow gestützte Engagementquote an, die zwischen 1987 und 1995 zwischen 45 Prozent und 54 Prozent schwankt. Für Großbritannien gibt das Institute für Volunteering Research für die britische Bevölkerung ab 18 Jahren eine Zahl von 48 Prozent im Jahr 1997 an. Die Niederlande weisen für 1996 eine Quote von 46 Prozent aus, in Skandinavien liegt sie zwischen 40 und 50 Prozent.

Die mit dem Freiwilligensurvey ermittelte Angabe von 22 Millionen Menschen, die sich in Vereinen, Verbänden, Initiativen und Projekten in Deutschland freiwillig und ehrenamtlich engagieren, hält Thomas Leif auch vor dem Hintergrund der vielfachen Klagen aus gerade diesen Organisationen für nicht nachvollziehbar. Doch diese Argumentation besticht nicht. Sie entspricht auch nicht der Wirklichkeit. Jammern gehört nun einmal zum Handwerkszeug von Funktionärinnen und Funktionären, es ist ganz einfach ein förderpolitisch tradiertes Instrumentarium. Gerade um die Klagen der Funktionäre überprüfen und besser einordnen zu können, war die Durchführung der bisher umfassendsten Freiwilligenerhebung in Deutschland deshalb überfällig.

Auch bezogen auf den Umfang des freiwilligen Engagements in Deutschland existieren vielfältige Angaben. Thomas Leif selbst weist darauf hin, dass unterschiedliche Untersuchungen höchst Unterschiedliches zum Umfang freiwilligen Engagements aussagen. In der Tat existiert eine Vielzahl von empirischen Erhebungen zum Umfang ehrenamtlichen und freiwilligem Engagements in Deutschland. Allein beim Vergleich von vier gängig zitierten Erhebungen schwanken die Angaben dabei zwischen 16 bis 41 Prozent im Westen der Republik und zwischen 9 bis 37 Prozent im Osten der Republik - wobei drei Erhebungen das Engagement im Westen höher veranschlagen als im Osten, während eine Untersuchung genau das Gegenteil konstatiert.

Irgendwie passt Leif die ganze Richtung nicht

Dass derart unterschiedliche, ja widersprüchliche Ergebnisse präsentiert werden können, hängt damit zusammen, dass in der Vergangenheit alle Erhebungen ohne großen Bezug aufeinander durchgeführt wurden. Thomas Olk, Sachverständiger der Enquetekommission "Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements", stellt angesichts dessen fest, dass "unterschiedliche Begriffsdefinitionen, nicht-vergleichbare Untersuchungsdesigns und unterschiedliche Fragestellungen dafür garantieren, dass sich die vorliegenden Studien in ihren quantitativen Befunden kaum vergleichen lassen. Eine nähere Analyse auch nur der besten Studien würde rasch zeigen, das jede von ihnen einen jeweils spezifischen Ausschnitt aus dem Gesamtspektrum freiwilliger sozialer Aktivitäten zur näheren Untersuchung herausschneidet, eigene Frageformulierungen verwendet und durch die kontextuelle Einordnung der Fragen auch jeweils spezifische Antwortstimuli auslöst."

Vor diesem Hintergrund liegt der Freiwilligensurvey mit seinem Ergebnis von 34 Prozent freiwillig Engagierten in Deutschland - 35 Prozent im Westen und 28 Prozent im Osten - im Spektrum bisheriger Resultate. Angesichts der in dieser Erhebung gewählten Fragetechnik kann das Ergebnis als - vergleichsweise - äußerst valide gelten. Ein Sachverhalt, der eigentlich sehr begrüßenswert ist - und mit dem Freiwilligensurvey gerade angestrebt war. Nur Thomas Leif scheint er irgendwie nicht in den Kram zu passen.

Der Demolition Man hält einfach mal voll drauf

Leif legt nahe, im Rahmen des Internationalen Jahres der Freiwilligen habe wenig mehr stattgefunden als die Erhebung geschönter Daten, als statistische Manipulationen, eine Gutachtenflut nach Proporz und die materielle Bevorzugung von Lobbygruppen. Nun ist es gewiss richtig, bei der Diskussion über das freiwillige Engagement konstruktiv Kritik im Hinblick darauf zu üben, wie förderliche Rahmenbedingungen geschaffen werden können. Doch es grenzt an Verfolgungswahn, hinter allem, was nicht der eigenen Wahrnehmung entspricht, ausschließlich Gefälligkeitspolitik auf Bestellung zu sehen. Irgendein Interesse daran, die konstruktive Auseinandersetzung zu führen, damit die Weiterentwicklung noch nicht zufriedenstellender Zustände gelingt, ist Thomas Leifs Ausführungen jedenfalls nicht anzumerken.

Unsauber ist auch Thomas Leifs Umgang mit Begriffen. So benutzt er die Kategorien "altes Ehrenamt" und "neue Freiwilligenarbeit". Mit Blick auf Förderung und Unterstützung erkennt Leif "ein "Übergewicht′ zu Gunsten des "alten′ Ehrenamtes", das er mit lobbyistischer Pfründepolitik in Verbindung bringt. Begeistert ist Thomas Leif hingegen von neuen Ansätze der Freiwilligenarbeit und -politik. Unglücklicherweise ist diese Schwarz-weiß-Malerei der Sache nicht förderlich. An wen eigentlich sollten beispielsweise Freiwilligenagenturen zum Engagement bereite Menschen vermitteln, wenn etwa 85 Prozent allen freiwilligen Engagements gerade in den - Thomas Leif zufolge - "alten" Ehrenamtsstrukturen stattfindet?

Klar ist, dass die Diskussion über geeignete Wege zur Förderung des freiwilligen Engagements in einem komplexen Feld stattfindet. Wer hier den "Demolition Man" spielt, wird keine Erfolge feiern. Gerade das Internationale Jahr der Freiwilligen in Deutschland hat gezeigt, dass eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema begonnen hat. Diese Auseinandersetzung muss unbedingt weitergeführt werden - und zwar konstruktiv. Thomas Leif hingegen hat einfach mal voll draufhalten, ohne Rücksicht auf Verluste. Mit welchem Ziel, bleibt sein Geheimnis.

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