Der bessere Fukuyama

Heinrich August Winkler hat den dritten Band seiner monumentalen Geschichte des Westens vorgelegt - ein informatives, detailsattes und gut lesbares Werk

Im Sommer des Jahres 1989, und damit noch vor dem Fall der Berliner Mauer, veröffentlichte der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama in der Zeitschrift National Interest einen Aufsatz mit der Überschrift „The End of History?“. Für die ausführliche Buchfassung, die 1992 erschien, übernahm er den Titel, allerdings ohne das Fragezeichen. Der Text sorgte weltweit für kontroverse Diskussionen. Das lag nicht an der Analyse der jüngsten weltpolitischen Entwicklungen, die Fukuyama vornahm, sondern an der apodiktisch anmutenden Schlussfolgerung, die er daraus zog: dass sich das normative Projekt des Westens, basierend auf Menschenrechten, politischer Gewaltenteilung, freiem Markt und Herrschaft des Rechts, als ein dem marxistisch-leninistischen Gegenentwurf politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich überlegenes Modell erwiesen hatte. Dieser These hätte angesichts der Umwälzungen der frühen neunziger Jahre wohl kaum jemand widersprochen. Doch dabei beließ es Fukuyama nicht. Vielmehr schlussfolgerte er, dass sich ein weltweiter Konsens etabliert habe über die Legitimität der liberalen Demokratie als bestmöglichem Regierungssystem. Folglich markiere das Ende des Kalten Krieges nicht nur eine tiefgreifende historische Zäsur, sondern auch einen „Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit“ – das vielzitierte „Ende der Geschichte“.

Von der effektheischenden Großmäuligkeit eines Fukuyama ist der Berliner Historiker Heinrich August Winkler mit seiner Geschichte des Westens weit entfernt. Denn von einem globalen Konsens, wie ihn Fukuyama zu erkennen glaubte, konnte natürlich nie die Rede sein. Der Triumph des Westens, den die Ereignisse der Jahre 1989 bis 1991 markierten, trug im Kern bereits die Saat für neue Konflikte, deren exakte Grenzlinien – siehe die aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten, wo der so genannte Islamische Staat bestehende Freund-Feind-Konstellationen mitunter auf den Kopf stellt – bis heute nicht exakt festzumachen sind. Nüchtern erinnert Winkler an die Tatsache, dass es heute zahlreiche Gruppen und sogar Staaten gibt, die sich dem von ihnen so empfundenen „Wertediktat der Sieger des Kalten Krieges“ vehement und teilweise mit Waffengewalt widersetzen. Daran dürfte sich auch in Zukunft nichts ändern. Ohnehin erscheint es fraglich, so Winkler weiter, ob 25 Jahre nach dem Mauerfall überhaupt noch von einer „globalen Vorherrschaft des Westens“ gesprochen werden könne. Mehr dazu wird man im für 2015 angekündigten vierten Band der Geschichte des Westens nachlesen können, der Winklers monumentales, in der Antike einsetzendes Geschichtsepos mit einer Betrachtung unserer Gegenwart abschließt.

Der Westen als Wertegemeinschaft

Die Lektüre des vorliegenden dritten Bandes zeigt jedoch, dass der Verweis auf Fukuyama nicht gänzlich aus der Luft gegriffen ist. Im Grunde sind die beiden gar nicht so weit voneinander entfernt; besonders wenn es um die ideengeschichtliche Dimension des Kalten Krieges geht. Geografisch versteht Winkler, wie Fukuyama, unter dem „Westen“ neben Europa und den englischsprachigen Demokratien auch Israel und Japan; also all jene Länder und Weltgegenden, die sich (mittlerweile) als eine westliche Wertegemeinschaft definieren, und deren gemeinsame normative Charakteristika – allen voran die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte – eingangs bereits genannt wurden.

Der Aufbau von Winklers Buch ist eher unspektakulär. Die Jahre 1945 und 1989/90 markieren für ihn historische Zäsuren, vergleichbar mit den Revolutionsjahren 1776 und 1789 oder dem Ende des Ersten Weltkrieges. Dazwischen liegt die Nachkriegszeit. Deren Binnengliederung entspricht dem, was sich in den Geschichtswissenschaften in den vergangenen Jahren als Konsens herausgebildet hat: Es geht von den Anfängen des Kalten Krieges 1945–1949 (Entstehung des Ost-West-Konflikts, deutsche Teilung, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte) über Koreakrieg und Kubakrise in die Phase der vorübergehenden Entspannung (1963–1975) und erneuter Konfrontation 1975–1985 (Ölpreiskrise, Nato-Doppelbeschluss), bevor schließlich mit Gorbatschow, Glasnost und Perestroika der Weg in Richtung Niedergang des Sowjet­kommunismus und deutscher Einheit eingeschlagen wurde. In Einzelkapiteln werden die relevanten politischen und – wenngleich deutlich knapper – ökonomischen sowie gesellschaftlichen Ereignisse und Dynamiken skizziert. Die narrative Verknüpfung zwischen den Teilen fällt eher lose aus; der verbindende Leitfaden ist die Chronologie.

Der nationalstaatliche Blick überwiegt

Der von der Forschung seit einiger Zeit häufig bemühten – und mitunter deutlich überstrapazierten – transnationalen Geschichtsschreibung folgt Winkler nur sehr bedingt. Zwar bezieht er sich bei der Darstellung der Länder auch vergleichend auf die Entwicklungen andernorts, die grundsätzliche Anordnung ist gleichwohl an den einzelnen Nationalstaaten ausgerichtet. Auf die Darstellung der Regierungszeit Georges Pompidous in Frankreich folgen Kapitel zur Situation Großbritanniens und Italiens Anfang der siebziger Jahre sowie zur Neuausrichtung der deutschen Ostpolitik unter Willy Brandt. Kurzzeitig verlassen wird die nationalstaatliche Perspektive nur dann, wenn von einer dezidiert Grenzen überschreitenden Dynamik die Rede ist, etwa bei den Ereignissen des Jahres 1968.

Komplettiert wird das Winklersche Geschichtspanorama durch ausführliche Betrachtungen der Geschehnisse in den USA sowie – wenn auch nur punktuell – den Staaten Südeuropas. Eine Stärke des Werkes ist zudem, dass sich eine Geschichte des Westens der Jahre 1945 bis 1990 seriöserweise nicht ohne eine detaillierte Befassung mit den Entwicklungen auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs schreiben lässt, wobei sich Winkler nicht alleine auf die Sowjetunion beschränkt, sondern auch die zahlreichen Satellitenstaaten Ost- und Mitteleuropas miteinbezieht. Dasselbe gilt für die bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hineinreichenden kolonialen Verstrickungen der Westmächte, die ebenfalls nicht ausgespart werden, zumal mit ihnen fast immer grundlegende Auswirkungen auf die jeweiligen Heimatländer verbunden waren – man denke nur an das französische Vorgehen in Algerien während der fünfziger und frühen sechziger Jahre.

Dass es sich bei Winklers Buch dennoch nicht um eine der momentan populären Globalgeschichten handelt, ist zum einem dem spezifisch auf den Westen ausgerichteten Erkenntnisinteresse des Autors geschuldet und zum anderen der Tatsache, dass einzelne Weltregionen wie der mittlere Osten, China oder der gesamte pazifische Raum allenfalls am Rande in Erscheinung treten.

Renaissance des Nationalen?

Dies dürfte sich jedoch spätestens im nächsten Band ändern. Denn die von der Regierung Obama vollzogene Hinwendung zum pazifischen Raum ist letztlich nur das konsequente Nachvollziehen einer Entwicklung, deren Ursprung bis in die frühen neunziger Jahre zurückreicht. Mittlerweile ist der Westen lediglich ein Akteur unter vielen – und seine Geschichte ist unauflöslich verwoben mit der Geschichte der Welt. Ob dabei die Nationalstaaten tatsächlich, wie Winkler meint, „zugunsten übernationaler Institutionen … an Integrationskraft und historischer Legitimation“ einbüßen werden, wird sich allerdings erst herausstellen müssen. Die jüngsten Erfahrungen, gerade im westlichen Teil der Welt, wo man sich vielerorts eher mit einer Renaissance denn einem Niedergang des Nationalen konfrontiert sieht, geben Anlass zur Skepsis. Allerdings gehört das Denken in langen Linien bekanntlich zum Handwerkszeug des Historikers.

Nicht alles am Westen war gut

Heinrich August Winkler hat mit dem dritten Band seiner Geschichte des Westens einen außergewöhnlich informativen, detailsatten sowie gut lesbaren Überblick der Jahre 1945 bis 1989/90 vorgelegt. Nicht alles, was in dieser Zeit aus dem Westen kam, war gut. Man denke nur an die späten Exzesse des Kolonialismus, oder, wenn man das Rad ein Stückchen weiterdreht, auch an einen aus dem Ufer laufenden Finanzkapitalismus. Dennoch ist das von Winkler so überzeugend dargelegte „normative Projekt des Westens“, trotz all seiner Heterogenität im Detail, eine Errungenschaft, ohne deren gemeinsamen Wertekanon ein lebenswertes Gemeinwesen heute nicht existieren kann.

Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens: Vom Kalten Krieg zum Mauerfall, München: C.H. Beck 2014, 1258 Seiten, 39,95 Euro

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