Das zweite Jahrzehnt denken

Die "Berliner Republik" wird zehn Jahre alt. Feierlichkeiten und eine Sonderausgabe haben wir ins kommende Frühjahr verlegt, doch gute Wünsche nehmen wir natürlich bereits gerne entgegen. Besonders gefreut haben wir uns über diesen hier von Frank-Walter Steinmeier

„Sieh, dass Du Mensch bleibst. Und das heißt: fest und klar und heiter sein, ja, heiter trotz alledem und alledem, denn das Heulen ist Geschäft der Schwäche.“

Rosa Luxemburgs Brief an eine verbitterte Sozialdemokratin ist ein Wort aus einer anderen Zeit. Aber es lässt aufscheinen, dass es Mangel an Kritik und Selbstkritik selten gab in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Beides ist nötig und zeichnet uns aus. Dieser Artikel aber ist kein weiterer Beitrag zum „Elend der Sozialdemokratie“ (Franz Walter), sondern der Versuch einer Ermutigung in schwieriger Zeit – eine Haltung, die eben auch Teil unserer Tradition von 146 Jahren ist.

Wo stehen wir also? 2010 hat das neue Jahrhundert – das erste wirklich globale Jahrhundert – seine erste Dekade und seine Feuertaufe hinter sich. Wir lesen im Feuilleton die ersten Rückschauen. Was hat uns dieses Jahrzehnt gebracht? Den sagenhaften Erfolg von Google und i-Pod, aber nach langem Marsch auch die Ankunft von China an der Spitze der Weltwirtschaft. Was in der Parodie der britischen Komikertruppe Monty Pythons noch so gemütlich klang, wenn sie „I like Chinese“ sangen und uns den Rat gaben „There’s nine hundred million of them in the world today. You’d better learn to like them“, das ist heute eine unausweichliche weltpolitische Tatsache: Nicht nur, dass es mittlerweile 1,3 Milliarden Menschen in China sind, die denselben Wohlstand beanspruchen wie 300 Millionen US-Amerikaner und 500 Millionen EU-Bürger. Vor allem kann es keine globale Verantwortungspartnerschaft, kein Krisenmanagement auf den Finanzmärkten, keinen Klimaschutz, keine Energiesicherheit ohne China oder auch Indien geben. Das haben wir in der Tat gelernt – und lernen müssen.

Die vergangenen zehn Jahre hatten es in sich. Denn die flotte Internet-Suchmaschine oder das smarte Phone, so harmlos, nützlich und unterhaltsam sie erscheinen, sind nichts anderes als Vorboten und Ikonen einer welthistorischen Umwälzung, die fast alles verändert. Die Grenzen der Kommunikation sind verschwunden und mit ihnen oft auch die Grenzen der Märkte. Viele Menschen haben die Erfahrung gemacht, dass Grenzen nicht nur einengen, sondern auch schützen können. Schutzlosigkeit ist das, was viele in diesem Jahrzehnt erlebt haben, und es prägt ihr Verhältnis zur Politik. Ende der sechziger Jahre, als meine Generation mit Aufbruch, Emanzipation und Willy Brandt politisiert wurde, war das „I can’t get no satisfaction“ der Rolling Stones wie eine Hymne. Heute singen Silbermond „Gib mir ein kleines bisschen Sicherheit in einer Welt, in der nichts sicher scheint“.

Illusionen wurden weggefegt

Dieses erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts steckt uns in den Knochen. Illusionen wurden weggefegt. Am 11. September 2001 auf brutale Weise die Illusion, dass die Sicherheit von uns Deutschen sich national abschotten ließe von den Konfliktherden des Nahen, Mittleren und Fernen Ostens. Dass wir uns in einer Art Inselexistenz nur um unsere eigenen Angelegenheiten kümmern müssten, damit die Gefahren zerfallender Staaten, ethnischer Bürgerkriege und des Terrorismus an uns vorbeiziehen. Ich meine, es sind konservative Illusionen, die da in sich zusammengefallen sind. Die konservative Fiktion einer nationalen Sicherheitspolitik, die auf den mühsamen Weg der multilateralen Zusammenarbeit und internationaler Verantwortung verzichten zu können glaubt. Der konservative Irrglaube, man brauche nur den Begriff „Einwanderungsland“ zu tabuisieren, um die Tatsache der jahrzehntelangen Migration mit ihrer Veränderung der deutschen Gesellschaft aus der Welt zu schaffen. Aber eben auch die Illusion, Deutschland könne die Trophäe des Exportweltmeisters stolz hochhalten, ohne sein Sozialmodell dem internationalen Wettbewerb aussetzen zu müssen.


Wie oft in der deutschen Geschichte fallen diese Jahre harter Auseinandersetzungen zusammen mit der Regierungsverantwortung der SPD. Das mag man für einen dummen Zufall oder für tragisches Schicksal halten. Ich glaube, es hat seinen guten Sinn. Denn konservative Kräfte haben oft auf Zeit gespielt und ihre Macht zu erhalten versucht, indem sie die sich auftürmenden politischen, ökonomischen und sozialen Probleme leugneten. Der große Entscheidungsstau, die Schmiergeldpolitik, die Unfähigkeit zur Erneuerung und zu einem ehrlichen Politikstil, der vom Verwalten auf das Gestalten umschaltet, das hat schließlich auch die Ära Kohl gekennzeichnet. Konservative Verweigerung und sozialdemokratische Verantwortung für den Neubeginn sind zwei Seiten derselben Medaille. Die SPD sollte sich nicht beklagen, dass sie die Partei der Modernisierung ist. „Ehre jeder Hand voll Schwielen“, hieß es in den Gründerjahren der Sozialdemokratie. Wer in schwieriger Zeit nicht mehr ausweicht, sondern anpackt, der riskiert eben, sich Blessuren zu holen.

Provinzialismus und Allmachtsphantasie

Wer aber die stürmische Entwicklung seit 1998 im Rückblick so diskutiert, als hätten wir eine Wahl gehabt, den globalen Wandel zu akzeptieren oder nicht, als hätten wir alles in unserer Hand gehabt, der verfällt einer leider typisch deutschen Mischung aus Provinzialismus und Allmachtsphantasie. Regieren bleibt, in kritischer Zeit zumal, die Kunst des Möglichen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Unter den Bedingungen der Globalisierung war es und bleibt es unsere Aufgabe, den beschränkten Spielraum der politischen Handlungsmöglichkeiten erst einmal zu erkennen, um ihn dann schrittweise wieder zu erweitern: Durch internationale Bündnisse und grenzüberschreitende Regeln, um den schrankenlosen Finanzkapitalismus zu zähmen, die Prekarisierung des Staates zu beenden, die soziale Erosion der Arbeitsverhältnisse aufzuhalten und ein Stück Sicherheit im Wandel wiederzugewinnen. Durch einen Vorrang für Zukunftsinvestitionen, zu denen nicht mehr nur Beton, sondern vor allem bessere Bildung und mehr Chancengleichheit gehören, Chancen für alleinerziehende Mütter, für die Kinder am Rand der großen Städte, Chancen für junge Männer aus Einwandererfamilien. Durch ökologische Ordnungspolitik, die den wahren Preis von Rohstoff- und Energieverschwendung in den Markt integriert und dadurch Umweltschutz nicht nur idealisiert oder moralisiert, sondern an der ökonomischen Basis materiell belohnt.

Auf die Qualität des Gedankens kommt es an

Das alles ist moderne sozialdemokratische Politik, mit der wir noch lange nicht am Ziel sind. Mit ihr haben wir das neue Selbstbewusstsein, das realistische, skeptische und doch fortschrittsorientierte Selbstvertrauen der Berliner Republik geprägt. Und die Zeitschrift, die sich vor zehn Jahren unter dem programmatisch gemeinten Namen der Berliner Republik gründete, sie hat diesen Weg ausleuchten helfen. Wer sich die bis an diese Stelle genannten Stichworte eines neuen Politikstils und die damit verbundene Öffnung des Denkens vor Augen führt, der ruft sich zugleich einen Gutteil der Debatten in Erinnerung, die in dieser Zeitung ausgetragen wurden. Die Berliner Republik hat bis heute mehr als 600 Autorinnen und Autoren für die Diskussion sozialdemokratischer Politik gewonnen. Viele junge und noch unbekannte Köpfe sind darunter, aber ebenso große Namen der Publizistik. Zu diesen 600 gehören treue Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sämtlicher Flügel ebenso wie Freidemokraten, Grüne und Mitglieder der Linkspartei. Denn nicht das Lager oder das Parteibuch, sondern die Qualität des Gedankens hat hier den Ausschlag gegeben. Vor allem ist es gelungen, internationale Stimmen in die deutsche Debatte zu holen. Diese Weltläufigkeit hat geholfen, manch alten Trampelpfad eines miesepetrigen Fortschrittspessimismus zu verlassen, der im Kreis verlief. Aber sie hat auch manche gute sozialdemokratische Idee, die fast vergessen war, aus der intellektuellen Emigration reimportiert, zum Beispiel die makroökonomische Konjunkturpolitik eines Karl Schiller.

Wer ehrlich ist, der weiß, wie einschläfernd die parteidiplomatischen Routinen und Delegationsreisen sein können. Im Umfeld der Berliner Republik ist jedoch mit Unterstützung des vorwärts-Verlages und der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Wiederbelebung der internationalen sozialdemokratischen Programmdebatte gelungen. Das über Großbritannien, Skandinavien, die Niederlande, Spanien, Portugal bis nach Polen oder Tschechien reichende Netzwerk sozialdemokratischen Denkens, das hier gewachsen ist, die Beteiligung junger Leute, würde ganz sicher den Beifall eines Willy Brandt oder auch – warum nicht? – der jungen Rosa Luxemburg finden, die mit aller Leidenschaft die grenzüberschreitende Freiheit des Gedankens gefordert und verteidigt hat.

Wofür diese Zeitschrift gebraucht wird

Die deutsche Sozialdemokratie ist nicht frei von Fehlern. Die SPD, das ist wahr, hat einen existenziell dramatischen Verlust von Wählern zu verkraften und muss in der Opposition den Selbstbehauptungskampf als Volkspartei aufnehmen. Dieser Kampf aber kann nur gelingen, wenn wir der Versuchung widerstehen, nur noch die eigenen Wunden zu lecken, sondern, wie es eingangs hieß, „fest und klar und heiter“ weiterdenken und die nächsten zehn Jahre in den Blick nehmen. Das nächste Jahrzehnt stellt uns neue Fragen, die Antworten haben auch wir nicht sämtlich beieinander. Nur: Weiter als wir ist auch keiner! Und es ist und bleibt unsere Aufgabe – unter erneut veränderten Bedingungen – in dieser Gesellschaft eine soziale Balance zu schaffen und gegen individualistischen Zynismus Verantwortung und Gemeinsinn zu stärken. Keine kleine Aufgabe. Aber ein Auftrag, der eine Zeitschrift wie diese braucht, samt Autoren und Lesern.

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