Das Weltwissen der Meinungsforscher

Nach der Bundestagswahl 2005 war viel von einem "Debakel der Wahlforschung" die Rede, nachdem Demoskopen das Kräfteverhältnis der beiden großen Parteien falsch vorausgesagt hatten. Warum der Vorwurf zumindest stark übertrieben war

In den Tagen nach der Bundestagswahl 2005 war in der Presse viel von einem Debakel der Wahlforschung die Rede. Der Grund dafür waren die Vorwahlumfragen. Die führenden Umfrageinstitute hatten einen klaren Vorsprung der Union vor der SPD vorausgesagt. Doch um 18 Uhr zeigten die Prognosen von Infratest dimap für die ARD und von der Forschungsgruppe Wahlen für das ZDF ein anderes Bild: Zwar wurde die Union stärkste Partei, jedoch nicht so stark wie erwartet. Kritiker attestierten der Wahlforschung daraufhin Unfähigkeit und zogen die Erhebungsinstrumente in Zweifel. Fragen kamen auf, ob die Wahlforschung "am Ende" sei (Viola Neu) und ob nicht sogar "Taxifahrer mehr als Demoskopen" wüssten (Simon Vaut).

Dagegen hat die Forschungsgruppe Wahlen (wie nahezu alle Institute) das Ergebnis der SPD richtig vorhergesagt, während sie die kleinen Parteien - im statistisch tolerablen Fehlerbereich - allesamt unterschätzte. Beispielsweise kamen die Grünen in der letzten Umfrage auf 7 Prozent, bei den Wahlen aber auf 8,1 Prozent.

Die Kritiker der Meinungsforscher verschweigen, dass sich die beiden Institute der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, Infratest dimap und die Forschungsgruppe Wahlen, lediglich bis zur vorletzten Woche öffentlich äußern dürfen, also maximal neun bis zehn Tage vor der Wahl. Und schon zu diesem Zeitpunkt sagten beide Institute voraus, Schwarz-Gelb werde eine parlamentarische Mehrheit knapp verfehlen. Die Stärke des rot-grünen wie des schwarz-gelben Lagers schätzten sie richtig ein, lediglich das Kräfteverhältnis innerhalb des bürgerlichen Lagers war noch nicht absehbar. Wenige Tage vor der Wahl hätten die Zahlen ganz sicher anders ausgesehen. Aber schon davor war zu erahnen, dass die beiden großen Parteien sich annähern würden. Außerdem gab es starke Anzeichen der Verunsicherung und der Unentschlossenheit vieler Wahlberechtigter. Einiges deutete also darauf hin, dass die vorgezogene Bundestagswahl noch keineswegs entschieden war. Von einem Debakel der Wahlforschung zu sprechen, greift daher zu kurz.

Im vergleichsweise kurzen Wahlkampf 2005 sahen die Umfragewerte für Union und FDP zunächst relativ günstig aus; auch äußerten die Befragten in den Umfragen kurz vor der Bundestagswahl mehrheitlich Schwarz-Gelb als Wunschkoalition. Allerdings schmolz dieser Vorsprung bis zum Ende des Wahlkampfes dahin. Mit Hilfe einer massiven Retraditionalisierung ihres politischen Programms gelang es der SPD in der Schlussphase, in der Wählergunst zuzulegen.

Die Union bot keine überzeugende Alternative

In der letzten veröffentlichen Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen lagen Union und SPD sogar beinahe gleichauf. Dieses politische Stimmungsbild täuschte über die tiefe Unzufriedenheit mit der amtierenden Bundesregierung hinweg, wobei damals besonders die SPD schlecht beurteilt wurde; gleichzeitig erschien die Union inhaltlich und personell aber nicht als überzeugende Alternative. Das Wahlergebnis war daher Ausdruck der Unsicherheit auf Seiten der Wähler. Einserseits spiegelte es das Unbehagen vieler Bürger gegenüber der Agenda 2010 wider, andererseits das fehlende Vertrauen in das neoliberale Wahlprogramm der Union.

Werfen wir noch einmal einen Blick zurück auf die letzten Wochen vor der Wahl 2005: Weil die Wahlberechtigten mit Rot-Grün zutiefst unzufrieden waren, hatte die Union ihr Potenzial bereits in einer frühen Phase des Wahlkampfes weitgehend ausgeschöpft, wogegen die SPD gebundene wie ungebundene Wähler erst relativ spät rekrutieren konnte. Die Mehrheit wollte zwar eine politische Veränderung, doch anders als 1998 stellte sich im Jahr 2005 keine Wechselstimmung ein. Hinzu kommt, dass erneut ein typischer Basistrend zugunsten des Regierungslagers zu beobachten war, je näher der Wahltag rückte: Die politisch eher risikoscheuen Deutschen halten gern an Bekanntem fest und wenden sich - trotz forcierter Kritik während der Legislaturperiode - gegen Ende des Wahlkampfes zunehmend den Regierungsparteien zu.

Die Wähler legen sich immer später fest

Ein Blick auf die verbleibenden Rekrutierungsmöglichkeiten der Parteien und Lager im Zeitverlauf des Wahlkampfes macht deutlich, wie wenig sich die Wähler heute vorzeitig politisch festlegen. Das Politbarometer erfasst die erweiterten Potenziale der einzelnen Parteien und Lager: Neben der aktuellen Wahlabsicht wird ermittelt, welche Parteien für die Wahlberechtigten noch in Frage kämen. Das Ergebnis im Wahlkampf vor vier Jahren: Zusätzlich zu den Befragten, die die Union wählen wollten, konnte sich im Zeitraum von Ende Juni bis Mitte September 2005 durchschnittlich jeder achte Wahlberechtigte vorstellen, das Kreuz bei CDU beziehungsweise CSU zu machen. Bei der SPD lag dieses "erweiterte Parteipotenzial" sehr viel höher, jeder sechste Befragte gehörte dazu. Angesichts einer derartig hohen Volatilität des Elektorats und einem Anteil von rund einem Drittel aller Wähler ohne irgendeine Bindung an eine Partei war klar, dass sich die Gewichte kurzfristig noch verschieben konnten.

Die Verluste der Union sind aber auch das Resultat erheblicher Bewegung im schwarz-gelben Lager kurz vor der Bundestagswahl: Immer mehr unionsnahe Wähler wünschten sich einen vollständigen Machtwechsel hin zu einer schwarz-gelben Regierung, die nur mit starken Liberalen realisierbar erschien: Gut zwei von fünf Wählern, die der FDP ihre Zweitstimme gaben, standen eigentlich der Union näher. Als sich schließlich eine Woche vor der Wahl andeutete, dass es für Schwarz-Gelb vielleicht doch nicht reichen könnte, hat sich offenbar die Motivation vieler unionsnaher Wähler verändert: Angesichts der Drohkulisse Schwarz-Rot entschieden sich viele für die FDP. In den letzten Tagen vor der Wahl gab es also einen "koalitionstaktischen Swing" innerhalb des bürgerlichen Lagers.

Auch ein anderes Phänomen zeigt die hohe Volatilität im Vorfeld dieser Wahl: Der Anteil derjenigen, die ihre Wahlentscheidung erst in den letzten Tagen vor der Wahl trafen, verdoppelte sich 2005 im Vergleich zu 2002 und 1998 nahezu. Rund 11 Prozent aller Wahlberechtigten gaben an, sich erst in den letzten Tagen vor dem Urnengang für eine Partei entschieden zu haben, unter Anhängern der FDP waren es sogar 18 Prozent. Und 18 Prozent der Befragten hatten kurz vor dem Urnengang noch gar keine Entscheidung getroffen. Zwei Tage vor der Wahl gaben nur noch 54 Prozent der Befragten an, ihre Wahl schon seit langer Zeit getroffen zu haben. Auch dies machte es extrem schwierig, die Wahlergebnisse richtig vorauszusagen.

Journalisten, die Sonntagsfrage ist nicht alles!

Die Wahlen der vergangenen zwei bis drei Jahre bestätigen den Trend zu einer späten Entscheidung der Wähler, so dass die Arbeit der Wahlforscher weiter schwierig bleiben wird. Was also tun? Zwei Seiten müssen sich bewegen. Journalisten sollten Agentur- und Pressemeldungen über Umfragen nicht unkritisch übernehmen und die Komplexität des politischen Prozesses nicht auf die Sonntagsfrage reduzieren. Andererseits müssen sich die Institute an die eigene Nase fassen und die unterschiedlichen Faktoren, die das Wahlverhalten beeinflussen, besser erläutern. Im Jahr 2005 rückte die Sonntagsfrage medial viel zu sehr in den Vordergrund, während die wachsende Unsicherheit und Unentschlossenheit im Elektorat kaum Aufmerksamkeit fand.

Ferner müssen die Institute sowohl ihre Gewichtungsmethoden als auch ihre Rohdaten publizieren. Damit würde besser ersichtlich, ob die Erhebungsinstrumente "etwas taugen" oder nicht. Und nur so lassen sich etwa auch die viel diskutierten Unterschiede in zeitgleich von verschiedenen Instituten veröffentlichten Sonntagsfragen der Öffentlichkeit erklären. Beispielsweise wurde die SPD nach dem "Hessischen Experiment" im Februar 2009 bei der Sonntagsfrage zwischen 22 und 26 Prozent gehandelt. Die Union rangierte im März 2009 zwischen 32 und 37 Prozent. Und nach der Europawahl 2009 erreichte die SPD Werte zwischen 21 und 25 Prozent. Solche Unterschiede lassen sich nur erklären, wenn sich die Institute in die Karten schauen lassen und ihre Ergebnisse nachvollziehbarer publizieren.

In dem Artikel "Wissen Taxifahrer mehr als Demoskopen?" von Simon Vaut auf der Homepage des Think Tanks Das Progressive Zentrum (www.progressives-zentrum.org, 21. August 2008) wird Elisabeth Noelle-Neumann mit den Worten zitiert: "Zwischen dem, was wir an Rohergebnissen erhalten, und dem, was wir als Prognose publizieren, liegt manchmal eine Differenz von zehn oder elf Prozent." Ähnlich äußerte sich Manfred Güllner in einem Artikel in der Berliner Zeitung über das angebliche Versagen der Umfrageforschung bei der Bundestagswahl 2005: Handwerklich müssten die Meinungsforscher nichts ändern, allenfalls seien die erhobenen Daten heutzutage anders zu interpretieren als früher. Vertrauen in wissenschaftliche Methoden schaffen solche Äußerungen nicht, stattdessen geben sie den Manipulationsvorwürfen nur neue Nahrung.

Genau deshalb unterscheidet die Forschungsgruppe Wahlen bei ihren Veröffentlichungen zwischen "politischer Stimmung" und "Projektion": Die politische Stimmung basiert auf den Rohdaten-Ergebnissen der Wahlabsichtsfrage (Sonntagsfrage). Bei der Projektion werden zusätzlich mittel- und längerfristige Parteibindungen, taktische Koalitionsüberlegungen sowie ein "time lag" zum Wahltermin mit eingerechnet. Übrigens sind die Daten des Politbarometers über das Zentralarchiv für empirische Sozialforschung in Köln auch für wissenschaftliche Auswertungen zugänglich.

Präzise Daten jedoch wird nach wie vor nur der Exit Poll am Wahlabend um 18 Uhr liefern. Denn beim Befragen von tatsächlichen Wählern, nicht von potenziellen wie bei Vorwahlumfragen, "versagen" die Wahlforscher nur äußerst selten.

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