Das unterschätzte Projekt

Auch nach mehr als fünf Jahren rot-grüner Regierung gibt es in Deutschland noch kein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz. Sachlich ist das kaum zu begründen und auch mit Blick auf die Erwartungen der Wähler nicht klug

Einer contergangeschädigten Frau wird in einem Restaurant die Bedienung verweigert. Die Begründung: Ihr Anblick beim Essen sei anderen Gästen nicht zuzumuten. Ein Versicherer lehnt den Abschluss einer Lebensversicherung ab, da als Begünstigter eine Person gleichen Geschlechts genannt wird. Ein lesbisches Paar wird wegen des Austausches relativ "harmloser" Zärtlichkeiten einer Gaststätte verwiesen. Ein 70-Jähriger findet aufgrund seines Alters keinen KfZ-Versicherer.

Diese wie unzählige weitere Diskriminierungsfälle wurden von Antidiskriminierungsbüros, Behindertenorganisationen oder Schwulen- und Lesbenverbänden in den letzten Jahren zusammengetragen und dokumentiert. Noch immer gibt es in Deutschland keine Antidiskriminierungsgesetzgebung, welche die Betroffenen vor derartiger Ungleichbehandlung schützt und das rechtliche Vorgehen gegen Diskriminierung ermöglicht.

Bereits im Jahr 2000 hat der Rat der Europäischen Gemeinschaft Richtlinien beschlossen, die den EU-Mitgliedstaaten vorschreiben, dass nach nationalem Recht mit Blick auf die Behandlung in Beschäftigung und Beruf niemand wegen seiner ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität benachteiligt werden darf. Zugleich wurde festgehalten, dass Benachteiligungen auf Grund ethnischer Herkunft generell unzulässig sind und die Mitgliedsstaaten eine Gesetzgebung zu schaffen haben, welche Diskriminierungen in diesem bereich effektiv unterbindet.

Im Dezember 2001 hat das Bundesjustizministerium einen Entwurf für ein umfassendes "Gesetz zur Verhinderung von Diskriminierung im Zivilrecht" vorgelegt. An einer zentralen Stelle ging der Entwurf über die - laut Vertragstext als Mindestanforderungen gedachten - Richtlinien hinaus: Der Diskriminierungsschutz im Zivilrecht - also im Hinblick auf Waren und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen (einschließlich Wohnraum) -, der nach Vorgabe der Richtlinien nur in Bezug auf die "Rasse" oder der ethnischen Herkunft vorgeschrieben ist, wurde um die Diskriminierungsmerkmale Geschlecht, Behinderung, Alter, Religion oder Weltanschauung und sexuelle Identität erweitert. Ein zivilrechtliches Diskriminierungs-Verbot, so die Begründung, sollte keine Hierarchisierung von Diskriminierungstatbeständen mit sich bringen.

So stand es um das geplante Diskriminierungsgesetz zum Ende der 14. Wahlperiode. Schnee von gestern.

Wie die Arbeit ins Stocken geriet

"Die Regierungskoalition wird auf der Grundlage der Vorarbeiten aus der 14. Legislatur ein Antidiskriminierungsgesetz auf den Weg bringen und die EU-Richtlinien hierzu umsetzen" - so heißt es im rot-grünen "Koalitionsvertrag 2002-2006". Mit Beginn der neuen Wahlperiode jedoch sind die Arbeiten an der Antidiskriminierungsgesetzgebung ins Stocken geraten. Die Frist zur Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinie in Bezug auf "Rasse" und ethnische Herkunft in nationales Recht verstrich am 19. Juli 2003, ohne dass ein nationales Antidiskriminierungsgesetz in Sicht gewesen wäre. Schließlich einigte man sich innerhalb der Regierung darauf, die Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien auf verschiedene Fachressorts aufzuteilen.

Diejenigen Teile der Richtlinien, welche die Bekämpfung von Diskriminierung wegen der "Rasse" oder der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters, der sexuellen Identität und des Geschlechts hinsichtlich Beschäftigung oder beruflicher Bildung betreffen, werden in einem "Gesetz zur Verhinderung von Diskriminierung im Arbeits- und Sozialrecht" in die Tat umgesetzt, das in Zusammenarbeit von Familienministerium und dem Ministerium für Wirtschaft und Arbeit vorbereitet wird. Die allgemeinen zivilrechtlichen Aspekte der Richtlinien soll ein vom Justizministerium vorzulegendes "Gesetz zur Verhinderung von Diskriminierungen im Zivilrecht" regeln. Während das Familien- und das Wirtschaftsministerium zügig an einer Umsetzung der Richtlinien in nationales Recht arbeiten, scheint im Justizministerium eine Zeit der politischen Enthaltsamkeit angebrochen zu sein. Bekannt ist nur, dass das Ministerium vorsieht, die ursprünglich geplante Erweiterung der Diskriminierungsmerkmale zurückzunehmen, also im Bereich des Zivilrechts keinen Schutz gegen Diskriminierung auf Grund der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters, der sexuellen Identität oder des Geschlechts aufzunehmen.

"K.A." steht für "keine Ausländer"

Dies würde bedeuten, dass die nationalen Antidiskriminierungsbestimmungen hinter die geplante Antidiskriminierungsgesetzgebung aus der 14. Wahlperiode zurückfallen. Damit würde nur das ins nationale Recht gelangen, was die EU-Richtlinien zwingend vorschreiben.

Die Verwirklichung der Richtlinien im Maßstab eins zu eins hätte allerdings zur Folge, dass eine Wohnungsanzeige mit dem heute noch zu findenden Kürzel "k.A." (für "keine Ausländer") verboten wäre, während es zulässig bliebe, den Abschluss eines Mietvertrags zu verweigern, weil der oder die Wohnungssuchende behindert ist. Diese Reduzierung des Diskriminierungsschutzes auf das Merkmal der ethnischen Herkunft und die damit verbundene Hierarchisierung unterschiedlicher Diskriminierungsarten ist schon verfassungsrechtlich höchst problematisch: Nach Artikel 3 des Grundgesetzes darf niemand auf Grund seines Geschlechts, seiner Abstammung, seines Glaubens seiner politischen Anschauungen oder wegen einer Behinderung benachteiligt werden. Obgleich die Grundrechte in erster Linie Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat sind, ist unumstritten, dass sich jede privatrechtliche Vorschrift auch an den Grundrechten messen lassen muss. Den Schutz vor Diskriminierung einzig auf eine Form der Diskriminierung zu beschränken, würde somit eine besondere Rechtfertigung durch den Gesetzgeber erfordern.

Kommt die "Gesinnungsdiktatur"?

Davon abgesehen ist die ministerielle Zurückhaltung gegen umfassende Antidiskriminierungsbestimmungen im Privatrecht sachlich nicht nachvollziehbar. Ein Gesetz, das Diskriminierung im Bereich des Zivilrechts untersagt, schränke die "Privatautonomie" ein - so lautet ein oft genanntes Argument der Gegner einer Antidiskriminierungsgesetzgebung. Das Zivilrecht sei einfach "nicht der richtige Ort", um Diskriminierung zu unterbinden. Denn Kern des Zivilrechts sei gerade die Freiheit des Einzelnen, seine Rechtsverhältnisse nach eigenem Willen zu gestalten; das Recht des Einzelnen, seine Vertragspartner frei wählen zu können; die Möglichkeit zur Ungleichbehandlung - aufgrund welcher Motive auch immer. Ein zivilrechtliches Antidiskriminierungsgesetz führe zur staatlichen Bevormundung der Bürger und stelle einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen dar; die Möglichkeit zur Ungleichbehandlung werde ersetzt durch den "staatlichen Zwang zur Gleichbehandlung". Einige Kritiker sehen hierdurch sogar den gesamten liberalen Verfassungsstaat in seinen Grundwerten erschüttert und warnen vor dem Aufzug einer "Gesinnungsdiktatur".

Zurück zur repressiven Toleranz?

Selbstverständlich bedeuten Antidiskriminierungsbestimmungen im Bereich des Zivilrechts einen Eingriff in die Privatautonomie: Dem Einzelnen wird durch ein Antidiskriminierungsgesetz die "Freiheit" genommen, Personen auf Grund ihrer Hautfarbe, einer Behinderung, ihrer sexuellen Identität et cetera ungleich zu behandeln (aus sachlichen Gründen darf freilich auch weiterhin unterschieden und ein Vertragsabschluss abgelehnt werden). Mit anderen Worten: Dem Einzelnen wird die generelle Freiheit genommen, zu diskriminieren. Insofern bedeutet ein zivilrechtliches Antidiskriminierungsgesetz tatsächlich einen Eingriff in die Privatautonomie.

Aber dieser begrenzte Eingriff ist gerade das Ziel von Antidiskriminierungsbestimmungen im Zivilrecht! Dass sich der Staat durch ein zivilrechtliches Antidiskriminierungsgesetz zur moralischen Überwachungsinstanz von Privatbeziehungen schlechthin aufschwinge, dass die für das Privatrecht und unsere Gesellschaftsordnung notwendige Möglichkeit der Ungleichbehandlung insgesamt beseitigt und durch den "staatlichen Zwang zur Gleichbehandlung" ersetzt werde - das alles ist bloße Polemik. Oder bestenfalls Ausdruck falsch verstandener Liberalität. Herbert Marcuse bezeichnete eine Toleranz, die sie sich allseitig indifferent zeigt - also auch gegenüber den Feinden der Toleranz -, mit Recht als repressiv.

Genau genommen kann die Privatautonomie ihre grundlegende Wirkung erst durch Grenzen entfalten. Denn die Privatautonomie stößt bereits dort an ihre (immanenten) Grenzen, wo die Handlungen des Einzelnen den persönlichen Schutzbereich Anderer verletzen. Es ist offenkundig, dass eine grenzenlose Privatautonomie unweigerlich im Recht des Stärkeren mündet. Dass die "Privatautonomie notwendigerweise begrenzt" ist und "der rechtlichen Ausgestaltung bedarf", hat dementsprechend auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung festgehalten (BVerfGE 89, 214).

Und in unzähligen Bestimmungen des Bürgerlichen Rechts - vor allem dort, wo die Beziehungen zwischen strukturell ungleichen Vertragspartnern geregelt sind - ist die Privatautonomie bereits rechtlich ausgestaltet (so etwa im Mietrecht, in den Bestimmungen des Verbraucherschutzes et cetera). Die Grenzen der Privatautonomie festzulegen ist Aufgabe des Gesetzgebers. Und die Frage, ob dem Einzelnen eine Ungleichbehandlung auf Grund von Merkmalen wie ethnischer Herkunft, Geschlecht, Behinderung, Alter oder sexueller Orientierung erlaubt oder untersagt sein soll, ist letztlich allein politisch zu entscheiden.

Tugend und Vorbilder genügen nicht

Die selbst ernannten Verteidiger der Privatautonomie lassen in ihrer Argumentation zudem meist unberücksichtigt, dass das Prinzip der Privatautonomie für beide potentiellen Vertragsparteien gelten muss. Dies ist nicht gewährleistet, wenn Personen zum Beispiel aufgrund ihres Alters, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Identität der Abschluss eines Vertrags prinzipiell verweigert wird. Deshalb kann der "Schutz der Privatautonomie" auch gerade als ein Argument für umfassende Antidiskriminierungsbestimmungen im Zivilrecht gesehen werden - mit Blick auf diejenigen, die sich ohne ein Antidiskriminierungsgesetz stets im Zustand der Waffenungleichheit befinden müssen.

Doch die Gegner einer Antidiskriminierungsgesetzgebung fahren noch weitere Geschütze auf. Anstatt Antidiskriminierungsbestimmungen im Privatrecht zu verankern, so argumentieren sie, solle der Gesetzgeber überlegen, ob es nicht besser wäre, bürgerliche Tugenden und demokratisches Bewusstsein durch Vorbild und Anreize, durch intelligente staatliche Hilfe und Kampagnen zu fördern. Eine wirksame und dauerhafte Überwindung von Benachteiligungen auf Grund der ethnischen Herkunft, einer Behinderung, des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung bedürfe einer nachhaltigen Änderung der Einstellungen und des Verhaltens jedes Einzelnen. Und durch Gesetze sei dies nun einmal nicht zu erreichen.

Gesetze ändern Einstellungen

Auch dieses Argument hält einer Überprüfung durch empirische Befunde nicht stand. Soziologische und sozialpsychologische Untersuchungen belegen seit langem, dass Gesetze (Verhaltens-) Standards setzen und ein bislang fehlendes Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden schaffen - also auch Einstellungen beeinflussen, die zu Diskriminierung führen. Die Herausbildung des Gewissens und von Idealen beim Einzelnen ist untrennbar mit gesellschaftlichen Fremdzwängen wie Gesetzen verknüpft (über deren Einhaltung der Staat wacht).

In Bezug auf Diskriminierung zeigt dies auch der Blick auf Länder, in welchen bereits seit langem eine umfassende Antidiskriminierungsgesetzgebung existiert. In England oder den Niederlanden ist zu beobachten, dass die Bevölkerung bei der Bekämpfung von Diskriminierung eine gestiegene Sensibilität an den Tag legt und die Durchsetzung der entsprechenden Gesetze unterstützt. Und die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit berichtet: "Wir wissen aus allen Untersuchungen, vor allem aber aus der Antise- mitismusforschung in Deutschland, dass Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit dann zurückgehen, wenn eine klare politische Orientierung gegeben wird. Hier wird die Antidiskriminierungsgesetzgebung in allen Mitgliedsländern eine entscheidende Funktion haben."

Auch in Hinblick auf die Gunst der Wähler für Rot-Grün muss die gegenwärtige Zurückhaltung beim Thema "Antidiskriminierungsgesetzgebung" in Frage gestellt werden. "Nicht mit Kompetenz für das Ökonomische" gewännen Sozialdemokraten Wahlen, so schrieb Hans-Peter Bartels unlängst in dieser Zeitschrift, "sondern als Vertreter von Gerechtigkeit und rot-grünen Lebensgefühls". Der Einsatz für eine bessere Chancenverteilung, die Verteidigung der Rechte von Machtschwächeren und der Einsatz für eine Gesellschaft, die neben dem Markt auch die Menschenwürde im Blick hat - all das sind sozialdemokratische Themen. Themen, mit denen nicht defensiv und verzagt, sondern offensiv und selbstbewusst umgegangen werden kann und muss.

Modernität ist mehr als Wirtschaft

Nach der Agenda 2010 ist es nun geboten zu zeigen, dass die Bemühungen zur "Modernisierung der Gesellschaft" nicht allein auf die Sphäre der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes beschränkt bleiben. Das Eintreten für ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz könnte dazu beitragen.

Statt den Eindruck zu vermitteln, dass die zu schaffenden Antidiskriminierungsbestimmungen im Arbeits- und Zivilrecht nur die unabwendbare Realisierung unliebsamer EU-Richtlinien darstellen, sollte das Vorhaben eines Antidiskriminierungsgesetzes als genuin rot-grünes Projekt aufgegriffen werden. Und als Chance, wichtige gesellschaftspolitische Reformen aktiv zu gestalten. Diese Chance darf sich die Sozialdemokratie nicht entgehen lassen.

zurück zur Person