Das schwierige, das aufregende Jahrzehnt

Wirtschafts- und Finanzkrise, Klimawandel, Demografie, Migration, Bürgerkriege, regionale Machtverschiebungen - eine neue politische Welt entfaltet sich vor unseren Augen. Doch in Berlin geht es nur um "Steuern hoch - Steuern runter". Wie ist das möglich? Und was muss sich ändern?

Das neue Jahrzehnt startet mit Superlativen: Nicht nur befinden wir uns noch immer inmitten der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise unserer Zeit sowie der bedrohlichsten globalen Umweltkrise seit Menschengedenken. Wir erleben auch hautnah und im Zeitraffer, wie sich moderne Gesellschaften aufgrund von ungleichgewichtigen ökonomischen Entwicklungen, Bevölkerungsverschiebungen, Migration, zunehmender sozialer Ungleichheit und religiös kaschierten Machtkämpfen massiv verändern. Die zehner Jahre sind zudem das Experimentierfeld für eine Nachfolgerin der Lissaboner Strategie und die Erprobung eines neuen politischen Institutionensystems in der EU, für ein mögliches globales Umweltregime und eine neue globale Machtkonstellation zwischen den Schwellenländern, den Vereinigten Staaten und Europa. Eine aufregende globale Agenda liegt vor uns, eine neue politische Welt entfaltet sich unmittelbar vor unseren Augen.

Derweil streiten sich auf der nationalen Ebene unsere Wunschkoalitionäre in der Bundesregierung unentwegt über finanzpolitische und andere Themen – angetrieben von lokalen und regionalen Machtinteressen. Den politischen Beobachter bringt das zum Haareraufen und langfristig zur Verzweiflung. Aber die eigentliche Frage lautet: Wie kann das sein? Warum sind politisch Verantwortliche so wenig in der Lage, die überragenden globalen Herausforderungen angemessen zur Sprache zu bringen? Warum gibt es in der Bundesregierung keine parteienübergreifende Kommission für die Erarbeitung unseres Beitrags zur Lösung des Klimawandels, der Sicherheitspolitik, der globalen Finanzarchitektur oder der zunehmenden sozialen Spaltung? Warum sind diese Themen neuerdings dem Bundespräsidenten vorbehalten? Warum springt die Politik abwechselnd von Beschwichtigung zu Schwarzmalerei, von Verschweigen zu Hyperaktivität?

Die Wahrheit ist: Nationale Regierungen sind in ein enges Korsett politischer Realitäten geschnürt, weil globale Verflechtungen – von der Wirtschaft über die Medien bis zu kulturellen und ethnischen Konflikten – die Rahmenbedingungen politischer Probleme dominieren. Gleichzeitig bleibt der Nationalstaat das Fundament demokratischer Legitimation. Nur hier existiert ein politischer Diskurs über das Wohl und Wehe des Gemeinwesens. Nur hier definieren sich die Bürgerinnen und Bürger als Mitglied einer Gemeinschaft und geben damit Parteien ihr politisches Mandat. Diskurse über den Klimawandel, globale Ungleichgewichte oder über die Lissabonstrategie sind nicht nur anspruchsvoll, sondern für die Mehrheit der Bürger kaum nachvollziehbar. Die komplexen politischen Diskussionen über globale Probleme werden schon seit längerem fast ausschließlich von Fachleuten geführt, während sich das heimische Publikum mit dem Themenkomplex „Steuern hoch – Schulden runter“ (oder umgekehrt) beschäftigen kann und darf.

Wir werden unsere Institutionen anpassen müssen

Gleichwohl sind die nationalen Anpassungsstrategien und Lösungsansätze für globale Probleme weder alternativlos noch trivial. Im Gegenteil, sie werden uns alle betreffen und die Entwicklungschancen unserer Kinder nachhaltig beeinflussen. Es wird daher zunehmend darum gehen, unsere politischen Institutionen strategisch an die globalen Herausforderungen anzupassen und diese Notwendigkeit auch im politischen Diskurs zu vermitteln. Der Spagat zwischen regionalen Sonderinteressen und der Entstehung einer globalen Solidargemeinschaft wird wesentliche institutionelle Reformen erfordern, deren Formen und Formate erst noch entwickelt werden müssen. Gleichzeitig fehlt vielen politisch Handelnden noch immer das Verständnis für die Rolle von Institutionen bei der strategischen Gestaltung globaler Probleme und für deren Rückkopplung in der Bundespolitik. Es wird ein spannendes Jahrzehnt – für Deutschland wie auch für den Rest der Welt. «

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