Das Raubtier an die Leine legen

Der außer Kontrolle geratene Finanzkapitalismus bedroht die Gesellschaft. Sozialdemokraten müssen beweisen, dass sie nicht vor den Märkten kuschen

Wer tief genug in der Schatzkiste politischer Plattitüden gräbt, stößt unweigerlich auf einen Satz, der Oppositionspolitikern eigentlich ein Übermaß an Freizeit bescheren müsste. Dem­nach wird bei Regierungswechseln nicht die Opposition gewählt, sondern die amtierende Regierung abgewählt. Wie üblich bei Binsenweisheiten steckt auch in dieser ein Körnchen Wahrheit – aber eben nur ein Körnchen. Zwar stellt die aktuelle Bundesregierung Tag für Tag öffentlich zur Schau, dass sie es einfach nicht kann. Dennoch reicht es nicht aus, die Hände in den Schoß zu legen und sich auf den Wahltag zu freuen. Diese Haltung würde in dieselbe Sackgasse führen, in die sich Schwarz-Gelb selbst manövriert hat – ziellos, planlos, konzeptlos. Erinnern wir uns: Die FDP hatte ihr Programm vor der Wahl 2009 eingedampft, bis es auf eine Visitenkarte gepasst hätte. Und Angela Merkel hatte die CDU inhaltlich rückstandsfrei ausgehöhlt. Der Keim des Scheiterns wurde also bereits gelegt, bevor die Re­gierung die Geschäfte überhaupt aufgenommen hatte.  

Ohnmacht zersetzt Vertrauen

Nun könnte der Unterschied zur Sozialdemokratie kaum größer sein. Wir haben die vergangenen beiden Jahre genutzt, um nach dem Debakel von 2009 wieder auf die Beine zu kommen – durch intensive Diskussionen in der gesamten Partei, durch gute Arbeit in der Fraktion. Das Fundament ist also gelegt. Aber es gibt noch viel zu tun, damit wir für die Menschen auch bei der kommenden Bundestagswahl mehr sind als das kleinere Übel. Entgegen dem TINA-Prinzip (There Is No Alternative) lebt die Demo­kratie von der Alternative. Wenn wir wieder eine Mehr­heit für uns gewinnen wollen, geht es genau darum: Alter­na­tiven aufzuzeigen und für sie einzustehen.

Nichts frustriert Menschen mehr als das Gefühl der Ohn­macht – Ohnmacht, die das Vertrauen in unsere Demo­kratie langsam aber sicher zersetzt. Deshalb wandelt sich nicht nur unser Parteiensystem rasant, auch außerparlamentarisch ist vieles im Umbruch. Die Occupy-Bewegung ist dafür nicht das einzige Beispiel, aber ein wichtiges. Wer sind die Menschen, die weltweit demonstrieren, um ihrem Unmut über die Aus­wüchse des Finanzsystems Luft zu machen? Was treibt sie auf die Straße? Und vor allem: Was sind ihre Ziele? Wer einfache Antworten erwartet, wird enttäuscht sein. Doch wer den Pro­test deshalb abtut, begeht einen großen Fehler.

„Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“, fragt Mackie Messer in Brechts Dreigroschenoper. Aber die Menschen, die in New York, Brüssel oder Frankfurt ihre Stimme erheben, wollen die Banken gar nicht ausrauben. Vielmehr fühlen sie sich selbst ausgeraubt von einem Finanz­system, das einer kleinen Minderheit auf Kosten der großen Mehrheit unvorstellbaren Reichtum verschafft. Deswegen besetzen sie die Wall Street, deshalb schlagen sie in Frankfurt ihre Zelte auf und vernetzen sich weltweit im Internet.

Zukunftsangst treibt die Menschen um

Wie bei jeder Welle des Protests treibt auch die Occupy-Be­we­gung mitunter seltsame Blüten; Jon Stewart nimmt sie in seiner Daily Show in den Vereinigten Staaten regelmäßig auf die Schippe. Wer sich noch an die Bilder vom „Schweigemarsch“ der S21-Gegner  in Stuttgart erinnert, der weiß, dass so etwas einfach dazugehört. Aber man sollte sich nicht täuschen lassen: Nicht ominöse „Berufsdemonstranten“ prägen das Bild, sondern ganz normale Leute. Zwar geht bislang nur ein Bruchteil der „99 Prozent“, für die die Bewegung sprechen will, tatsächlich auf die Straße. Doch die Angst um den eigenen Wohlstand und die Zu­kunft der Kinder und Enkel treibt die Menschen aus allen Teilen der Bevölkerung um. Auch wenn die üblichen Verdäch­tigen aus der extremen Linken den Protest gern als Vorhut der bevorstehenden Weltrevolution deuten wollen und sogar Rechtsextreme bis hin zur NPD versuchen, die Demonstra­tionen zu unterwandern – im Kern ist der Protest Ausdruck einer tiefen Verunsi­che­rung der Mittelschicht, die um ihre Jobs, ihre Ersparnisse, ihre Zukunft fürchtet. Diese Menschen sind enttäuscht von einer Politik, die angesichts einer entfesselten Finanzwirtschaft ohnmächtig erscheint und von der sie sich kaum noch Lösungen versprechen.

In den Vereinigten Staaten, wo ein fester Glaube an die Seg­nungen freier Märkte spätestens seit der Präsidentschaft Ronald Reagans zum politischen Grundkonsens gehörte, spürt man diesen Schock besonders stark. Für Präsident Barack Obama ist die Occupy-Bewegung als Gegengewicht zur radikal-libertären Tea Party die vielleicht letzte Hoffnung auf eine zweite Amtszeit. Sie stellt die Ideologie der Rechten fundamental in Frage und bietet Obama zugleich die Gelegenheit, sich in der Mitte der Gesell­schaft zu positionieren.

Doch es geht um weit mehr als um politische Strategien. So diffus das Gefühl der Ohnmacht auch sein mag, so wenig lässt sich von der Hand weisen, dass zu lange zugesehen wurde, wie die internationalen Finanzmärkte das Primat der demokratischen Politik langsam ausgehöhlt haben. Auch wir Sozial­demokraten konnten die Deregulierung nicht verhindern. Damit müssen wir selbstkritisch umgehen – ohne allerdings zu vergessen, dass ein breiter Konsens darüber bestand, den Finanzplatz Deutsch­land zu einem Global Player zu machen.

Der schlimmste Fehler von Schwarz-Gelb besteht darin, dass die Regierung die historische Gelegenheit zu einer Re-Regulierung nach der Finanzkrise 2008 nicht genutzt hat – und wohl auch gar nicht nutzen wollte. Drei Jahre nach Ausbruch der größten Finanz- und Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg ist die Bilanz der Finanzmarktregulierung mehr als ernüchternd. Auf dem G20-Gipfel vom 15. November 2008 in Washing­ton wurde noch gefordert, kein Produkt, kein Akteur, kein Markt dürfe unreguliert bleiben. Dieses Postulat bleibt weiterhin Wunschdenken.

Bei der Herrschaft der Märkte darf es nicht bleiben

Die Menschen auf der Straße fordern nicht die Abschaffung der Märkte. Sie verfolgen keine ideologischen Ziele. Sondern sie erwarten vor allem, dass sich die demokratisch verfasste Poli­tik endlich ihre Handlungsspielräume zurückerkämpft und diese dann auch nutzt. Der Raubtierkapitalismus soll zurück an die Leine, damit er nicht das auffrisst, was Millionen Men­schen durch harte Arbeit geschaffen haben. Das ist nicht nur verständlich, das ist völlig berechtigt. Darum müssen wir So­zial­­de­mo­kraten beweisen, dass wir nicht vor den Märkten kuschen. Denn die Forderung, dass nicht anonyme Märkte da­rüber bestimmen, wie wir leben, sondern wir Menschen selbst, ist ursozialdemokratisch. «

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