Das Problem fragiler Staatlichkeit

Staaten können ihre territorialen Grenzen nur sichern, wenn sie über funktionierende Strukturen verfügen. Doch viele Länder befinden sich in einem »Schwebezustand« zwischen Schwäche und Stabilität. Sie gefährden dadurch die eigene Bevölkerung ebenso wie die internationale Ordnung

Wenn es im internationalen Staatensystem eine Konstante gibt, dann ist es ironischerweise die Etablierung neuer Staaten und damit die wiederkehrende Infragestellung von Territorialgrenzen. Zwar sind separatistische Projekte zumeist nicht erfolgreich und nicht jeder Staatszerfall führt zu neuen staatlichen Gebilden. Gleichwohl ist in den vergangenen sechzig Jahren die Zahl unabhängiger Staaten global stetig gewachsen, meist schubweise. So gehörten den Vereinten Nationen bei ihrer Gründung 51 Staaten an, heute sind es bereits 193 – mit dem Südsudan als jüngstem Mitglied. Die größten „Wellen“ der Staatsbildung sind mit der Dekolonisierung in Afrika und Asien nach 1960 sowie mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und der Auflösung der Sowjetunion nach 1990 verbunden.

Zu glauben, dass dieser Prozess mittlerweile zum Erliegen oder gar zum Abschluss gekommen ist, wäre ahistorisch. Die Staatengemeinschaft wird sich auch künftig an neue Mitglieder gewöhnen müssen. Einige Anwärter wie der Kosovo, Palästina oder Taiwan stehen schon länger vor der Tür. Und wer weiß beispielsweise schon, ob es in zwei Jahrzehnten China in der heutigen Form noch geben wird, ob nicht Schottland oder Katalonien neue EU-Mitglieder werden, ob nicht in der arabischen Welt neue Grenzen gezogen werden, oder ob vielleicht Somaliland die bis dato versagte internationale Anerkennung erhält und damit von einem de facto auch zu einem de jure Staat wird? Umgekehrt vereinigen sich möglicherweise Zypern oder Korea.

Zwei von drei Staaten gibt es noch nicht lange

Das Kommen und (seltener) das Gehen von Staaten spielt für die Debatte um fragile Staatlichkeit in mehrfacher Hinsicht eine Rolle. Zum einen ist militanter Separatismus beziehungsweise die Forderung nach neuen Grenzen offenkundig ein Indiz für Fragilität und für den Mangel an gesellschaftlicher Identifikation mit dem bestehenden Staatswesen. Zum anderen – und das soll hier im Vordergrund stehen – existieren gut zwei Drittel aller Staaten erst seit wenigen Jahrzehnten als adressierbare politische Einheiten. Man findet zwar stets Vorläufer in Form kolonialer oder proto-staatlicher Strukturen, doch die Attribute staatlicher Souveränität sind zumeist jüngeren Datums. In den meisten Fällen konnte die Eigenstaatlichkeit nach außen behauptet werden – wahlweise gegen die einstige Kolonialmacht, gegen ein Imperium oder gegen ein politisches Zentrum (sei es Moskau, Belgrad oder Khartum). Langwieriger und konfliktreicher gestaltet sich jedoch der Prozess der Staatsbildung nach innen, also der Aufbau und die Durchsetzung staatlicher Strukturen, einschließlich des Gewalt-, Steuer- und Rechtsetzungsmonopols. Nicht selten trifft diese „Durchstaatlichung“ einer Gesellschaft und eines Territoriums auf lokale Widerstände, gerade in peripheren Räumen; sie verläuft ungleichzeitig, geht einher mit Elitenkonflikten, der Mobilisierung gesellschaftlicher Kräfte sowie der Umverteilung von politischer Macht und ökonomischen Ressourcen. Vielfach gerät der Staat zur „Beute“ einer dominierenden Elite, die wiederum bestimmte Klientelgruppen in der Gesellschaft bedient, auch state capture genannt.

Gestern stabil, morgen ein Krisenherd

Das Ergebnis sind unterschiedliche Grade fragiler Staatlichkeit. Damit ist gemeint, dass Staaten – verkörpert durch ihre Regierungen und ihren Apparat – nicht in der Lage sind, elementare Funktionen zu erfüllen und wesentliche Dienstleistungen für ihre Bürger zu erbringen. Üblicherweise sind diese Länder geprägt von internen Gewaltkonflikten, Formen von bad governance, rentenwirtschaftlichen Strukturen, tiefgreifenden sozio-ökonomischen Krisen, vom Zerfall öffentlicher Institutionen, einem schlechten Gesundheits- und Bildungswesen sowie einem Mangel an Rechtsstaatlichkeit und politischer Legitimität. Akute Krisenfälle wie Irak, Syrien, Libyen, Afghanistan oder die Ukraine bilden das Problem allerdings nur ansatzweise ab. Je nach Perspektive und „Messkriterien“ sind heute zwischen 40 und 60 Länder in stärkerem Umfang von solchen Symptomen fragiler Staatlichkeit betroffen. Schon der kursorische Blick auf die genannten Fälle zeigt, wie unterschiedlich sie jeweils gelagert sind und wie rasant mitunter staatliche Macht untergraben werden kann. Was gestern noch als leidlich stabil galt, kann morgen bereits ein veritabler Krisenherd sein. Medial wechseln die Schauplätze ohnehin in rascher Folge.

Löst man sich von einer tagesaktuellen Betrachtung, stellt man jedoch fest, dass ein anderer Typus vorherrschend ist: In den meisten Fällen finden eher schleichende Erosionsprozesse statt, bei denen – teilweise über Jahrzehnte hinweg – staatliche Strukturen durch eine Ambivalenz von Schwäche und Stabilität charakterisiert sind. Genau dieser „Schwebezustand“ soll mit dem Begriff der Fragilität erfasst werden. Die typischen Fälle heißen hier eher Pakistan, Jemen oder Zimbabwe – und weniger Irak oder gar Somalia. Die von außen messbaren Krisensymptome sind gegeben, die (vor allem sozioökonomischen) Daten sprechen eine vermeintlich eindeutige Sprache, dennoch lässt sich auch ein gewisser Grad an interner Stabilität feststellen, der es den herrschenden Eliten offenbar ermöglicht, sich wiederholende Krisen abzufedern und durchzustehen. Bei solchen Fällen fragiler Staatlichkeit sind daher reine Defizitanalysen unzureichend, wie sie zumeist von internationalen Organisationen, westlichen Geberländern oder spezialisierten „Staaten-Rankings“ (beispielsweise dem „Failed States Index“ oder „State Fragility Index“) mittels aufwendiger Indikatorenmodelle durchgeführt werden.

Es geht nicht allein um die Frage, warum vieles nicht funktioniert, sondern auch warum gewisse Staatsfunktionen trotz widriger Bedingungen doch leidlich ausgefüllt werden. Diese Perspektive öffnet den Blick für eine herrschaftssoziologische Analyse, bei der die Rolle lokaler Eliten, sozialer Praktiken und Techniken zur Sicherung von Gefolgschaft betont wird. Dazu zählen der Einsatz von Patronage und Klientelismus, die Etablierung neo-patrimonialer Strukturen, die Kooptation von Gruppen, informelle Konzepte von Machtteilung, die Mobilisierung traditionaler Strukturen ebenso wie die Anwendung repressiver Methoden und die Optimierung von externen Zuflüssen („Renten“). Auf diese Weise können lokale Eliten ein mehr oder minder geschicktes „Fragilitätsmanagement“ betreiben, das zwar primär den herrschenden Umständen geschuldet ist, aber gleichzeitig die Steuerungs- und Funktionsfähigkeit staatlicher Strukturen in Maßen aufrechterhält.

Externe Akteure werden zu Insidern

Nun führen solche Mechanismen allerdings erfahrungsgemäß nicht zu einer nachhaltigen Staatlichkeit, sondern sind selbst Teil des Problems. Die entscheidende Frage ist daher, ob und inwieweit es gelingt, diese Praktiken zu überwinden, ohne gleichzeitig die damit überdeckten innergesellschaftlichen Problem- und Konfliktlagen zu verschärfen. Diese Frage müssen vor allem jene beantworten, die zum Zweck des state building vor Ort eingreifen, unabhängig davon, ob es sich um die Vereinten Nationen, die Weltbank, einen bilateralen Geldgeber oder eine Nichtregierungsorganisation handelt. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass immer zwei Prozesse des state building parallel stattfinden: Zum einen der extern beförderte Prozess, der sich an internationalen Normen und Maßstäben ausrichtet (etwa an den allgemein formulierten „Peace- and Statebuilding Goals“ von 2011); zum anderen der lokale, „indigene“ Prozess interner Staatsbildung, der, wie angedeutet, oftmals nach einer anderen Logik abläuft und stark von den Interessen lokaler Eliten (und ihrer Widersacher) abhängt.

Was auch immer externe Akteure konkret tun, sie greifen stets in den indigenen Prozess ein. Sie tun dies auf unterschiedliche Weise, je nachdem, welche Prämissen sie für das Verhältnis von Staat und Gesellschaft zugrunde legen und an welche unterschiedlichen Ebenen und Akteure sie sich richten. Gleichwohl: Ihr Engagement verändert die lokalen Kräfte- und Machtverhältnisse. Ob beabsichtigt oder nicht, sie werden bestimmte Mechanismen und soziale Praktiken stärken, andere schwächen, bestimmte Gruppen in der Gesellschaft werden davon profitieren, andere nicht. Diese Situation wird von den lokalen Eliten zumeist rascher antizipiert als von den externen Akteuren, die sich in erster Linie ihren Auftrags- und Mandatsgebern in New York, Brüssel, Genf oder Washington verpflichtet sehen. Die Präsenz der externen state builders führt zu Verschiebungen im lokalen Gefüge, da sie den Zugang zu Ressourcen eröffnen, bestimmte Akteure in ihrer Rolle als gatekeeper stärken und politische Legitimität verteilen, abhängig davon mit wem sie kooperieren und mit wem nicht.

Je umfassender das internationale Engagement ausfällt, umso deutlicher sind diese vielfach unterschätzten Effekte. Externe Akteure, besonders bei länger anhaltenden Missionen wie in Afghanistan, werden Teil der lokalen politischen Szenerie und eingebettet in lokale Prozesse, deren Dynamik sie nur begrenzt überblicken können. Sie werden durch diese geprägt und prägen sie gleichzeitig mit. Sie unterstützen nicht einfach nur den Aufbau oder die Transformation staatlicher Strukturen, sondern werden – ob gewollt oder nicht – vielerorts direkt oder indirekt Teil dieser Strukturen. An dieser Paradoxie ändern auch die häufig bemühten Vokabeln der internationalen Geber von local ownership oder dem „Transfer von Verantwortung“ wenig, da diese Begriffe auf einer mechanistischen Logik basieren, wonach die externen Akteure sich zurückziehen können, wenn der „Job“ getan ist. Eine solche Sichtweise mag zwar das heimische Publikum beruhigen, unterschätzt jedoch die Dynamik solcher Prozesse von state building vor Ort.

Dies soll beileibe kein Plädoyer dafür sein, sich nicht zu engagieren – oder dem Problem fragiler Staatlichkeit den Rücken zu kehren. Allerdings müssen besonders westliche Akteure im Hinblick auf die Ergebnisse ihrer Bemühungen offener und flexibler sein als bisher. Sie sollten bereit sein, ihre Politiken zu ändern, um nicht in verhängnisvolle Pfadabhängigkeiten zu geraten. Dabei gilt es vor allem, sich wesentlich stärker auf lokale Gegebenheiten und Praktiken einzulassen und nicht systematisch die Fähigkeiten von Teilen der betroffenen Gesellschaft auszublenden, die lernen mussten, mit dem Mangel an Ressourcen und staatlicher Steuerung zu leben. Externe state builders müssen schlicht mehr über solche Praktiken und Mechanismen wissen – auch wenn diese nicht den eigenen Vorstellungen von Demokratie, Marktwirtschaft, Rechtsstaat oder Zivilgesellschaft entsprechen. Wer die damit verbundenen politischen wie normativen Ambivalenzen und Dilemmata nicht aushalten kann, der sollte sich erst gar nicht in solchen Kontexten engagieren.

Fragilität wirkt grenzüberschreitend

State building im Sinne einer nachhaltigen Stärkung staatlicher Strukturen bleibt eine zentrale Aufgabe internationaler Politik. Und dies nicht allein, weil erodierende oder dysfunktionale Staatlichkeit vielfach negative Folgen für die betroffene Bevölkerung hat, sondern auch, weil dadurch grenzüberschreitende oder gar globale Probleme geschaffen oder verschärft werden, seien sie sicherheitspolitischer, sozialer, ökonomischer oder ökologischer Natur. Anders formuliert: Fragile Staatlichkeit lässt sich nicht „in Grenzen halten“, sondern erfordert vielfach überstaatliches Handeln, damit solchen transnationalen Problemen begegnet werden kann. Gleichzeitig jedoch unterminiert fragile Staatlichkeit die Wirksamkeit internationaler Aktivitäten, Abkommen, Fonds oder Regime (beispielsweise zur Bekämpfung von Epidemien oder zum Schutz der Menschenrechte).

Aufgrund der doppelten Ordnungsfunktion von Staaten gefährdet fragile Staatlichkeit nicht nur die jeweilige lokale Ordnung, sondern berührt stets auch multilaterale Ordnungsstrukturen, etwa im Rahmen der Vereinten Nationen, der Regio­nalorganisationen oder politikfeldspezifischer Regime. Diese sind elementar darauf angewiesen, dass Staaten ihren internationalen Verpflichtungen gerecht werden.

Es ist paradox: Je mehr Politikprozesse auf die internationale Ebene verlagert werden, je mehr von Global Governance die Rede ist, desto relevanter wird die Frage, ob staatliche Akteure willens und in der Lage sind, internationale Beschlüsse, Regelungen und Standards zu implementieren. Wer an der Weiterentwicklung – und letztlich am Erfolg – multilateraler Strukturen Interesse hat, kann deshalb das Problem fragiler Staatlichkeit nicht ignorieren.

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