Das Paradigma hat ausgedient

Befürworter der Genforschung übertreiben deren Chancen, die Gegner malen Horrorgemälde - auf der Strecke bleibt der Realismus

Die molekulare Genetik wurde von Anfang an von zwiespältigen Erwartungen begleitet. Die Befürworter hofften, Hunger und Krankheit zu besiegen, die großen Plagen der Menschheit. Die Kritiker warnten vor unkontrollierbaren Risiken und einer neuen Gen-Ideologie. Als 1973 in den USA das erste genmanipulierten Bakterium entwickelt wurde, entstand dort eine Gentechnik-kritische Bewegung. In Deutschland formierte sich die öffentliche Kritik in den achtziger Jahren als Antwort auf die zunehmende Förderung der Genforschung.


Bisher hat der Gentechnik-Gau zwar nicht stattgefunden, aber auch die vorzeigbaren Erfolge in der grünen wie in der roten Gentechnik sind bescheiden. Trotzdem reißt die Kontroverse um die Genforschung nicht ab. Die Bevölkerung müsse einfach besser informiert werden, so hört man, dann werde sich endlich die notwendige Akzeptanz für die Genforschung entwickeln. Aber so einfach ist die Sache nicht. Die Widersprüche stecken in der Forschung selbst.


Nehmen wir das Genomprojekt. Die erste europäische Initiative trug den Titel "prädiktive Medizin". Das Programm von 1988 versprach, die genetischen Ursachen für die großen Zivilisationskrankheiten wie Herz-Kreislauferkrankungen, Krebs und Diabetes zu finden. Die betroffenen Menschen könnten dann Risikofaktoren vermeiden und die Weitergabe der genetischen Anlagen an ihre Kinder verhindern. Nicht ganz zu Unrecht wurde dem EU-Programm daher eine eugenische Schlagseite vorgeworfen.

Die eigentliche Arbeit kommt erst noch

Inzwischen ist das Genom des Menschen (fast) vollständig entschlüsselt. Einzelgendefekte können heute per Gendiagnostik erkannt werden - für die Behandlung oder gar Verhinderung von Zivilsationskrankheiten aber hat das Genomprojekt kaum Fortschritte gebracht. Außerdem stehen wir nicht, wie angekündigt, vor dem "gläsernen Menschen", sondern bloß vor einer Unmenge von Daten. Der größere Teil der Arbeit - die Zuordnung von Funktionen und Merkmalen im Körper - steht erst bevor. Davon war im EU-Programm von 1988 nicht die Rede. Ein recht erstaunliches Ergebnis des Genomprojekts ist im Übrigen, dass der Mensch offensichtlich wesentlich mehr Proteine als Gene besitzt. Ob die Grundregel der Genetik noch gilt, dass ein Gen genau einem Merkmal oder einer Funktion zugeordnet werden kann, ist damit fraglich.


Noch ein Beispiel. 1990 wurde mit dem ersten klinischen Versuch einer somatischen Gentherapie begonnen. Einem kleinen Mädchen mit einem erblichen Defekt des Immunsystems wurden im Labor genetisch "reparierte" weiße Blutkörperchen übertragen. Seitdem sind weltweit hunderte von Patienten gentherapeutisch behandelt worden - bislang weitgehend erfolglos.


Die ursprüngliche Idee der Gentherapie war, genetische Defekte zu reparieren oder zumindest zu kompensieren. Vorausgesetzt wird, dass die betreffenden Gene bekannt sind, dass die Gene effektiv in die betroffenen Zellen übertragen werden können und dass die Gene im Körper dann ihre natürliche Funktion wahrnehmen. Nun funktioniert dieses Modell aber offensichtlich nicht. Das könnte daran liegen, dass die Methoden nicht ausgereift sind. Oder daran, dass das Modell selbst fehlerhaft ist.


Die Gentherapie baut auf der theoretischen Annahme auf, dass eine genetische Veränderung zu einem genau vorhersagbaren Effekt im Organismus führt. Das sogenannte molekulargenetischen Paradigma besagt nämlich, dass ein Gen mit einer Eigenschaft oder einer Funktion im Körper kausal verknüpft ist.


Der Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn bezeichnete die methodischen und theoretischen Voraussetzungen eines Forschungsfeldes als Paradigma. Die Wissenschaftler, die innerhalb eines Paradigmas arbeiten, müssen Kuhn zufolge diese Voraussetzungen relativ unkritisch übernehmen. Es ist ihre Aufgabe, in dem so vorgegebenen Rahmen "Normalwissenschaft" zu betreiben. Beim Arbeiten innerhalb eines Paradigmas treten aber regelmäßig Schwierigkeiten auf. So auch in der Genforschung.
Bis vor einigen Jahren wurde unter einem Gen ein Abschnitt auf der DNA verstanden, der die Information für ein Protein oder ein Enzym enthält. Heute wird ein Gen als funktionelle Einheit beschrieben, ohne dass alle daran beteiligten Elemente genau angegeben werden könnten. Es wurden nämlich überlappende Gene und Gene innerhalb anderer Gene gefunden. Man kennt Regulationselemente, welche die Aktivität mehrerer Gene gleichzeitig kontrollieren. Und es gibt Gene die in unterschiedlichen Geweben zu verschiedenen Proteinen führen. Bei vielen Genen wird ein Teil der zunächst abgelesenen genetischen Information nachträglich wieder entfernt. Man kennt sogar Gene, deren Informationen nachträglich verändert werden.


Diese Erkenntnisse widersprechen dem klassischen molekulargenetischen Paradigma. Um sie zu erklären, wird heute auf systemtheoretische Modelle zurückgegriffen. Lebensprozesse werden hier durch Wechselwirkungen von genetischen und nichtgenetischen Faktoren auf allen Organisationsstufen erklärt. Den Genen wird dabei keine herausragende Rolle mehr zugeschrieben. Sie repräsentieren lediglich eine von mehreren Kategorien.

Die totale Kontrolle findet nicht statt

Mit diesem neuen Erklärungsmodell muss von simplen Ursache-Wirkungs-Annahmen Abschied genommen werden. Technische Eingriffe in komplexe organische Systeme folgen immer dem Prinzip von Versuch und Irrtum. Das bedeutet nicht, dass Eingriffe ins Genom keine gewünschte Effekte bewirken könnten - nur, dass diese nicht genau geplant werden können. Weder die positiven noch die negativen Folgen genetischer Eingriffe sind exakt vorhersehbar.


Diese Überlegungen haben Auswirkungen für die Evaluation der Genforschung. Einerseits ist sicher nicht mit einer totalen genetischen Kontrolle zu rechnen; derartige Befürchtungen sind offensichtlich überzogen. Andererseits aber müssen auch die Erfolgsversprechungen der Genforschung korrigiert werden.


Ein Sieg über Zivilisationskrankheiten durch das Genomprojekt oder über Erbkrankheiten durch die Gentherapie wird heute nicht mehr gerechnet. Ähnliches Heil scheint inzwischen aber die Stammzellforschung zu versprechen. Auf der Grundlage eines theoretischen Modells und spärlicher Erkenntnisse aus Tierversuchen stellt man die Heilung beispielsweise von Parkinson und Alzheimer in Aussicht. In der Debatte wird die Machbarkeit dieser Visionen von Befürwortern wie von Kritikern einfach vorausgesetzt. Was die öffentliche Diskussion der Genforschung am nötigsten hat, ist daher eine realistische und kritische Prüfung der Erfolgsaussichten und Risiken. Denn mit überzogenen Erwartungen wird sich die öffentliche Akzeptanz der Genforschung auf Dauer nicht herstellen lassen.

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