Das neue Kartell der Angst

In Deutschland nehmen sich die politischen Eliten selbst noch immer nicht als Elite wahr. Darum agieren sie zurückhaltend und unambitioniert. Mehr gesundes Selbstbewusstsein der Profession würde die Qualität der politischen Führung erhöhen

Wem die Geschichte als ewige Wiederkehr des Gleichen gilt, den müssen die in den vergangenen Jahren geführten Diskurse über Eliten in deutschen Landen irritieren. Zumindest ist die Forderung nach Eliten in der fast 60-jährigen Geschichte der Bundesrepublik selten mit so viel Verve und vergleichbarer Breitenwirkung erhoben worden. Es scheint, dass der deutschen Malaise nur durch eine neue Form der Bestenauslese beizukommen ist. Entsprechend haben Eliteschulen, Begabtenförderung und Exzellenzinitiativen Hochkonjunktur. In einer Zeit der Verunsicherung und der Allgegenwart globalen Wettbewerbs wird verstärkt nach Sinnstiftern und Gestaltern gesucht.

Die anschwellende Elitenbegeisterung weist dabei einige Eigentümlichkeiten auf. Zu nennen ist erstens die Trivialität vieler Aussagen im Elitendiskurs. Die Emphase etwa, mit der betont wird, wie unverzichtbar Eliten für moderne Gesellschaften sind, steht in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur Relevanz dieser Aussage. Schließlich sind die Zeiten, in denen ein anti-autoritärer Geist jedwede Hierarchie in Frage gestellt hat, lange passé. Ähnlich begrenzte Relevanz besitzen die Loblieder auf das meritokratische Prinzip und auf den offenen Zugang zu Elitepositionen. Beide sind ebenso berechtigt wie banal, verkennen jedoch die eigentliche Herausforderung, die darin besteht, Verfahren zu finden, die die Nichtselektivität der Elitenauswahl garantieren – und damit den Vorrang von Leistung vor sozialer Herkunft oder „Vitamin B“.

Bemerkenswert ist zweitens, mit welcher Selbstverständlichkeit die Elitendebatte um den Bildungssektor kreist, während die Politik nur am Rande thematisiert wird. Die Elitenbildung gerät zu einer Frage nach Bildungseliten. Diese Engführung ist ebenso plausibel wie problematisch. Ihre Plausibilität ergibt sich aus der zentralen Stellung des Bildungswesens für die Elitenauswahl (allgemeiner: für die Chancenverteilung auf dem Arbeitsmarkt und darüber hinaus) sowie aus der wiederholt dokumentierten Selektivität des Bildungssystems. Sie ist problematisch, weil die Auswahlmechanismen in wichtigen gesellschaftlichen Sektoren wie Politik und Wirtschaft eben nicht allein im Bildungswesen liegen.

Tief verwurzeltes Misstrauen gegen Parteien

Auf diese Weise gerät die Formation und Reproduktion politischer Eliten aus dem Blickfeld. Die Ausblendung der politischen Elite – und gewissermaßen deren Abschreibung als eine relevante Kraft – mag einerseits auf den schwindenden Glauben an ihre Gestaltungskraft in Zeiten der Globalisierung zurückgehen. Andererseits ist sie Ausdruck eines tief verwurzelten Misstrauens gegenüber dem Führungspersonal in Parteien, Parlamenten und Regierungen. So populär der Ruf nach Eliten mittlerweile geworden ist, so selbstverständlich ist auch – als dritte Eigentümlichkeit des aktuellen Elitendiskurses –, dass damit die gegenwärtigen Eliten nicht gemeint sind. Glaubt man der opinio communis, dann gilt: Neue Eliten braucht das Land!

Mit dieser allgemeinen Stimmung korrespondiert eine Selbstwahrnehmung von weiten Teilen des politischen Personals, die an Ralf Dahrendorfs Skizze jener Eliten erinnert, die einst die Geschicke der jungen Bundesrepublik gelenkt haben. Dahrendorf charakterisierte diese als zurückhaltend, ängstlich und konfliktscheu – ständig darauf bedacht, nicht aufzufallen und keine gesellschaftliche Kritik auf sich zu lenken. Zwar bestand damals (wie heute) ein Elitenpluralismus. Doch blieb die Konkurrenz unter den Eliten im Interesse des gemeinsamen Machterhalts gedämpft. Laut Dahrendorf verhinderte ein „Kartell der Angst“ den offenen Wettbewerb zwischen den Eliten.

Das geringe Selbstbewusstsein der Eliten scheint sich bis in die Gegenwart erhalten zu haben. Mag dazu vor einem halben Jahrhundert noch die Diskreditierung des Elitebegriffs durch die NS-Ideologie beigetragen haben, so scheint dieses Phänomen in der Gegenwart einem spezifischen deutschen Pfad der Selbstwahrnehmung von Eliten geschuldet zu sein. Schon Theodor W. Adorno meinte einst, dass man wohl Elite sein, sich aber nicht als Elite fühlen dürfe. Der Befund einer im vergangenen Jahr durchgeführten Befragung unter Repräsentationseliten – der Zweiten Deutschen Abgeordnetenbefragung – liest sich wie die zeitgenössische Illustration dieses Bonmots.

Von mehr als 1.200 befragten deutschen Mitgliedern des Europäischen Parlaments, des Bundestags und von 13 der 16 Landesparlamente betrachtete sich kaum mehr als ein Drittel als Teil der politischen Elite. Dieser Befund ist auch deshalb überraschend, weil sich die überwältigende Mehrheit der Parlamentarier als Berufspolitiker sah. Offenbar akzeptieren die meisten Mandatsträger zwar die Verberuflichung der Politik als Selbstverständlichkeit, nicht aber den eigenen Elitenstatus. Immerhin fühlte sich unter den „Berufspolitikern“ eine knappe Mehrheit zugleich als Elite.

Auch in der Opposition fühlt man sich als Elite

Erwartungsgemäß steigt diese Selbsteinschätzung mit dem Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse. Dies gilt zunächst im Vergleich der parlamentarischen Ebenen: Die befragten Bundestagsabgeordneten und die deutschen Mitglieder des Europäischen Parlaments nahmen sich weit häufiger als Eliten wahr als ihre Kollegen in den Landesparlamenten. Gleiches galt für langjährige Parlamentarier im Vergleich zu Abgeordneten mit weniger parlamentarischer Erfahrung. Schließlich spielten auch die subjektiven Wahrnehmungen eine Rolle: Je mehr die tatsächlichen Gestaltungsspielräume im Parlament die erwarteten überstiegen, desto eher sahen sich die Befragten als Teil der politischen Elite. Ohne Bedeutung blieb hingegen – erstaunlich genug – die Zugehörigkeit zum Regierungs- oder Oppositionslager.

Die befremdliche Bescheidenheit der Politik

Bemerkenswert ist aber vor allem, wie groß auch unter den Abgeordnetengruppen mit vergleichsweise ausgeprägtem elitären Selbstverständnis die Anteile derjenigen waren, die sich nicht der Elite zurechneten. Vier von zehn Abgeordneten des Deutschen Bundestags und der deutschen Mitglieder des Europäischen Parlaments sahen sich nicht als Teil der politischen Elite; unter den befragten langjährigen Abgeordneten war es fast die Hälfte. Mehr noch: Fast 40 Prozent der Befragten bestritten, dass die Entwicklung der Gesellschaft maßgeblich durch das Handeln von Eliten bestimmt werde. Jeder vierte deutsche Parlamentarier nahm weder einen wesentlichen gesellschaftlichen Einfluss von Eliten wahr, noch zählte er sich selbst dazu.

Man mag in diesen Befunden einen Ausdruck der Bescheidenheit erkennen. Vor dem Hintergrund der jüngst gerade auch im politischen Raum erhobenen Forderungen nach mehr Elitenbildung und -förderung mutet derlei Bescheidenheit jedoch befremdlich an. Nun wird niemand behaupten, dass Parlamentarier – allein aufgrund ihres Status als Abgeordnete – zu den Primär- oder Top-Eliten der Republik gehören. Zieht man den Kreis aber nur ein wenig weiter, so besteht kaum ein Zweifel, dass sie ihrer Position und Funktion nach zu den politischen (Sekundär-)Eliten gehören.

Dass sich dennoch die Mehrheit der Befragten nicht als solche fühlt, dürfte nicht zuletzt im internationalen Vergleich eine Besonderheit darstellen. Um die Sonderstellung zu veranschaulichen, muss man gar nicht die ostentativ präsentierte Elitenzugehörigkeit afrikanischer Führungskräfte oder weiter Teile der Wirt-schaftseliten postkommunistischer Staaten bemühen. Auch den Eliten in Frankreich, Großbritannien oder in den USA gilt der eigene Status als selbstverständlich; er wird nicht als Makel verstanden, der schamhaft verborgen werden müsste. Ein solches Selbstverständnis des politischen Führungspersonals wird freilich dadurch begünstigt, dass auch die dortigen Bürger Elitenbildung und den Elitenstatus als vorteilhaft erachten.

Davon kann hierzulande nicht ausgegangen werden. Schon die Frage nach der Notwendigkeit einer speziellen Elitenförderung spaltet die Bevölkerung in zwei etwa gleich große Gruppen. Den Abgeordneten wird gar jede noch so geringe Distinktion negativ ausgelegt. So rangieren die Vorwürfe der „Abgehobenheit“ und der mangelnden Responsivität unter den Top Ten der Pauschalverdammungen deutscher Volksvertreter ganz vorn – direkt hinter dem Vorwurf andauernder Selbstbereicherung. Vor diesem Hintergrund müssen Repräsentationseliten, die sich als solche verstehen, dem Gros der Wahlbürger suspekt erscheinen.

Die politische Elite steht (fast) jedem offen

Der Generalverdacht gegenüber Abgeordneten, sie würden sich mit elitärem Dünkel von ihren Wählern abgrenzen, ist empirisch kaum aufrechtzuerhalten – und dies keinesfalls deswegen, weil sich die Parlamentarier mehrheitlich nicht als Elite verstehen. Sicher gilt auch für deutsche Repräsentationseliten Robert Putnams Gesetz der wachsenden Disproportionalität: Je weiter oben auf der Karriereleiter die Eliten stehen, desto weniger ähneln sie in ihrer sozialen Zusammensetzung der Bevölkerung insgesamt. Im Vergleich zu anderen Elitensektoren ist der Zugang zur politischen Elite jedoch vergleichsweise offen. Dies ist vor allem den so oft gescholtenen politischen Parteien zu verdanken. Bei der Rekrutierung von Mandatsträgern räumen sie der politischen Erfahrung und Loyalität Vorrang ein etwa vor der sozialen Herkunft und der beruflichen Qualifikation – freilich um den Preis der weitgehenden Exklusion von Quereinsteigern.

Eine für ein vermeintlich oder tatsächlich „elitäres“ Selbstverständnis ihrer gewählten Repräsentanten sensibilisierte Bevölkerung ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist die Antizipation derartiger Reaktionen durch die Repräsentationseliten selbst, die durch die Logiken des politischen Wettbewerbs noch befördert wird. Denn besonders die politischen Kräfte ohne Aussicht auf eine Regierungsbeteiligung neigen dazu, jedes Anzeichen eines „elitären“ Selbstverständnisses bei der politischen Konkurrenz zu skandalisieren. Angesichts des notorisch schwachen Selbstbewusstseins der politischen Eliten in Deutschland wirkt dieser Reflex als ein weiterer Anreiz, die eigene Zugehörigkeit zur Elite zu bestreiten.

Schließlich liegt das gering ausgeprägte Elitenbewusstsein der Abgeordneten auch in den Anforderungen begründet, die sich aus ihrem Status als Repräsentationseliten ergeben: Einerseits wird von ihnen politische Führung und Orientierung erwartet, andererseits sollen sie Anregungen und Anliegen der Bürger aufgreifen. Die Parlamentarier sind sich dieses Spannungsfelds schmerzlich bewusst. Eine relative Mehrheit unter ihnen betrachtet beide Aufgaben als gleichermaßen wichtig; jeweils 30 Prozent favorisieren eine der Optionen, wobei die Abgeordneten mit einem vorhandenen Elitenbewusstsein die zu erbringende Orientierungsleistung betonen.

Das Selbstverständnis als Elite beeinflusst nicht allein das Rollenverständnis der Abgeordneten, sondern auch ihre Ambitionen. Parlamentarier, die sich als Elite verstehen, streben überproportional häufig Führungspositionen in Partei, Parlament und Kabinett an, und sie bewerten ihre Aussichten auf eine erneute Nominierung überdurchschnittlich gut – was wohl auch ihrer besseren Verankerung in Partei und Fraktion geschuldet ist.

Das hier festgestellte geringe Elitenbewusstsein deutscher Repräsentationseliten entfaltet seine stärksten Wirkungen aber wohl – durchaus im Sinne der Analyse Dahrendorfs – auf den innerelitären Konfliktaustrag und die Interaktion mit den Repräsentierten. Der Karrierisierung der (parlamentarischen) Politik tut es jedenfalls keinen Abbruch. Vielmehr verstärkt das neue „Kartell der Angst“ das Bestreben, sich bestmöglich gegen die Risiken der Politik als Beruf abzusichern.

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