Das Gegenteil von Deutschland

Als Kind wanderte ADAM SOBOCZYNSKI Anfang der achtziger Jahre mit seinen Eltern aus Polen nach Deutschland aus. Lange Zeit interessierte er sich nicht für sein Geburtsland, dann ging er auf Wiederentdeckungsreise. In seinem gerade im Verlag Kiepenheuer erschienenen Buch "Polski Tango" erzählt er von den Unterschieden zwischen beiden Ländern und von der eigenen Integration in die deutsche Gesellschaft. Polen sei "das Gegenteil von Deutschland", glaubt der promovierte Germanist und Autor der "Zeit". Dennoch würden sich beide Länder aufeinander zu bewegen. Die Berliner Republik hat mit ihm gesprochen.

BERLINER REPUBLIK: Sie schildern das heutige Polen teilweise mit einer gewissen Verständnislosigkeit und Distanz. Mit dem polnischen Konservatismus und der derzeitigen Regierung scheinen Sie zumindest nicht viel anfangen zu können. Mögen Sie das Land eigentlich?
ADAM
SOBOCZYNSKI: Natürlich, das ist doch die Quintessenz meines Buches. Mir imponiert zum Beispiel das enorme Improvisationstalent der Polen. Und ich bewundere den schnellen ökonomischen Aufstieg, den sich das Land ganz alleine erarbeitet hat, ohne Transferleistungen aus einem reichen Bruderland. Sicher schaffe ich in dem Buch eine Distanz, indem ich mit Überspitzungen und Klischees arbeite. Je persönlicher ein Thema, desto distanzierter muss man sich ihm nähern, um eine naive Einfühlung zu vermeiden.

Woher haben die Polen ihr Improvisationstalent?
SOBOCZYNSKI: Im Polnischen gibt es das schöne Wort „zalatwiac“, was „sich durchwurschteln“, „es irgendwie hinkriegen“ bedeutet, aber auch „jemanden reinlegen“. Improvisieren mussten die Polen schon im 18. Jahrhundert, als das Land von Preußen, Russland und Österreich besetzt war. Später stand das Land unter nationalsozialistischer, dann unter kommunistischer Fremdherrschaft. Heute erfordert der Turbokapitalismus „zalatwiac“, es gibt in Polen ja kaum soziale Sicherungssysteme. Diese Mentalität schafft heute auch Probleme, die Korruptionsrate ist die höchste in der EU. Aber Eigeninitiative ist gleichzeitig die große mentale Stärke der Polen.

Sie bringen „zalatwiac“ auch mit dem polnischen Katholizismus in Verbindung.
SOBOCZYNSKI: Weil ich glaube, dass die christlichen Glaubensrichtungen sehr prägend sind. Deutschland ist stark vom Protestantismus beeinflusst, ebenso wie die gesamte deutsche Aufklärung. Deshalb gab es im 18. Jahrhundert in Deutschland einen Verinnerlichungskult, der sehr folgenreich war. Und deshalb spielen in Deutschland das Gewissen, die Selbstauseinandersetzung, die Moral eine große Rolle. Die Polen hingegen haben einen Hang zum Theatralischen.

Auch in anderen Bereichen ist Polen für Sie das „Gegenteil von Deutschland.“ Was ist der größte Unterschied?
SOBOCZYNSKI: Vielleicht das Verständnis von Staat und Nation. Die Polen sind extrem patriotisch, erwarten vom Staat aber sehr wenig. Die Deutschen sind eher unpatriotisch, vom Staat erwarten sie jedoch große Sozialleistungen. Dabei haben beide Länder einen Komplex. Polen hat einen Minderwertigkeitskomplex gegenüber den mächtigen Nachbarn Deutschland und Russland, sieht deshalb ständig die eigene Nation bedroht. Deutschland hat nach seiner schlimmen Geschichte einen moralischen Komplex entwickelt. Deutlich wird das beim Thema Europa. Die Deutschen suchen eine europäische Identität, um die eigene loszuwerden. Die Polen sind europaskeptisch, weil sie um ihre nationale Identität fürchten.

Andererseits sprechen Sie von Angleichungsprozessen.
SOBOCZYNSKI: Paradoxerweise bewegen sich beide Länder soziokulturell aufeinander zu. In Deutschland entdeckt man bürgerliche Werte wieder neu. Die Familie, Kinder, Ehe, Religion, auch ein Stilbewusstsein werden wichtiger. Polen leidet derzeit an den Geburtswehen des westlichen Individualismus. Familien zerbrechen, die Scheidungsquote ist fast so hoch wie im Westen, die Geburtenrate sinkt. Das Land durchlebt im Schnelldurchlauf, was in Deutschland bereits mit den Achtundsechzigern begann.

Polenwitze sind in Deutschland eine rare Spezies geworden. Selbst Harald Schmidt macht keine mehr. Die Polen hingegen scheinen ihre Vorurteile gegenüber Deutschland mit Hingabe zu pflegen, wie die Debatte über das Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin zeigt. Warum entspannt sich das Verhältnis zu Deutschland nicht im Zuge des wirtschaftlichen Fortschritts?
SOBOCZYNSKI: Zunächst: Umfragen ergeben, dass die Polen von den Deutschen ein positiveres Bild haben als umgekehrt. Aber es gibt einen deutschfeindlichen Bodensatz, der politisch instrumentalisiert wird. Gründe für Ressentiments sind die drei Teilungen Polens unter deutscher Beteiligung sowie die NS-Herrschaft. Nach 1945 stand dann die DDR auf der polnischen Rangliste nationaler Antipathien ganz oben. Denn der Erzfeind war übergangslos zum Klassenbesten unter den Satellitenstaaten des Ostblocks geworden. Polen hingegen war immer ein kommunistisches Problemkind. Weder funktionierte die Kollektivierung der Landwirtschaft, noch konnten die Machthaber den Katholizismus bändigen. Westdeutschland war für die Polen allerdings das positive kapitalistische Gegenbild zur DDR. Diese fungierte somit als Blitzableiter für die antideutschen Ressentiments. Den Blitzableiter gibt es jetzt nicht mehr. Vielleicht ist das Misstrauen gegenüber dem wiedervereinigten Deutschland deshalb gewachsen. Manchmal scheint es, als sei ihnen der berühmte Satz des französischen Schriftstellers François Mauriac wichtiger denn je: „Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich froh bin, zwei davon zu haben.“

Übertreiben es die Polen nicht ein wenig mit dem historischen Denken?
SOBOCZYNSKI: Polen war eben lange von der Landkarte verschwunden, die Nation bestand fort, indem sie sich auf die eigene Leidensgeschichte besann und den Mythos der Opfer und Helden kultivierte. Dieser Mythos ist mit dem Buch „Nachbarn“ des Historikers Thomas Grosz ins Wanken geraten. Grosz belegt, dass während des Zweiten Weltkriegs in Jedwabne im Nordosten des Landes auch Polen jüdische Mitbürger exekutiert haben. Dennoch: Das historische Denken führt dazu, dass viele Polen die enorme Aufarbeitung der NS-Zeit in Deutschland ausblenden und die Stabilität der deutschen Demokratie verkennen. Sie sehen nicht, dass nur eine winzige Minderheit der Deutschen die Oder-Neiße-Grenze in Frage stellt oder Häuser in Masuren wiederhaben will.

Die konservativen Zwillingsbrüder Lech und Jaroslaw Kaczynksi wollen mit Korruption und Vetternwirtschaft aufräumen und appellieren an die Moral der Polen. Haben Sie etwas dagegen?
SOBOCZYNSKI: Nein, dieser Prozess der „Lustration“ ist gewiss notwendig. Nur steht die Aufarbeitung der Vergangenheit zunehmend unter einem inquisitorischen Geist. Staatliche Sender werden unter Druck gesetzt, komplette Redaktionen ausgetauscht, wenn sie regierungskritisch sind.

In Ihrem Buch heißt es, die Kaczynskis brächten das „katholische Paradox der polnischen Sünde, die in Unschuld erstrahlt“ ins Wanken. Das müssen Sie erklären.
SOBOCZYNSKI: Ich meine die polnische Ablassmentalität. Zugespitzt gesagt: Man schlägt sich mit kleinen Nebengeschäften durchs Leben und geht abends trotzdem milde lächelnd in die Kirche. Das Leben in Polen kann etwas produktiv Chaotisches, Improvisiertes haben. Genau das setzen die Kaczynskis mit ihrer moralinsauren Stimmung aufs Spiel.

Die Krise in den deutsch-polnischen Beziehungen schieben die Deutschen vor allem der Regierung Kaczynski in die Schuhe – und machen es sich damit ganz schön einfach. Sind wir denn den polnischen Befindlichkeiten gegenüber sensibel genug?
SOBOCZYNSKI: Manchmal sogar zu sensibel. Nehmen wir mal das geplante Zentrum gegen Vertreibungen. Die Art und Weise, wie es politisch vorangebracht wird, kann man sicher kritisieren. Aber das Zentrum wird in Deutschland parteiübergreifend von prominenten Einzelpersonen unterstützt. Und der Bund der Vertriebenen ist im pluralistischen Deutschland nun mal eine politische Größe. Die Polen können das Zentrum nicht einfach zum kompletten Unsinn erklären. Sie müssen produktiv mit der Situation umgehen. Beide Länder haben bestimmte Interessen, auch Deutschland. Die Deutschen müssen den Polen auf gleicher Augenhöhe begegnen. Dazu gehört auch, die eigenen Interessen zu benennen und deutliche Kritik zu äußern.

Bei all der politischen Aufregung wird manchmal übersehen, dass in Deutschland sehr viele Menschen polnischer Herkunft leben. Vielleicht, weil die Polen eine „unsichtbare“ Einwanderergruppe sind, wie es in Ihrem Buch heißt. Wieso haben sich die polnischen Einwanderer unsichtbar gemacht?
SOBOCZYNSKI: Ich spreche vom „Dritten Weg“ zwischen Integration und Abkapselung, den die polnischen Einwanderer zumindest in den Achtzigern gewählt haben. Meine Eltern gingen mit Clownsnase und Kopfschmuck zum Karneval, fanden aber nie deutsche Freunde. Einwanderer suchen ja überall ihresgleichen. Aber Deutschland war in den Achtzigern auch nicht gerade das liberalste Einwanderungsland, eine durchdachte Zuwanderungspolitik gab es kaum. So galten die polnischen Aussiedler offiziell gar nicht als Einwanderer, weil sie ja einen deutschen Pass hatten. Andererseits ließ sich in den achtziger Jahren schneller Arbeit finden als heute, was die Integration wiederum erleichterte. Es gab damals einen enormen Bedarf an Dienstleistungen; die polnische Putzfrau ist ja kein Mythos, sondern Realität. Insgesamt war die polnische Parallelwelt in Deutschland aber produktiv, die zweite Generation ist ja sehr gut in diesem Land angekommen.

Als Jugendlicher schämten Sie sich für Ihre polnische Herkunft. Und Ihre Eltern schämten sich in Deutschland für die schlechten Anzüge des polnischen Besuchs und verschwiegen in Polen, dass sie in Deutschland putzen gingen. Woher kamen die Schamgefühle?
SOBOCZYNSKI: Bei Einwanderern geht ja häufig ein wirtschaftlicher Aufstieg mit einem sozio-kulturellen Abstieg einher. Deshalb fuhren meine Eltern mit einem dicken Auto nach Polen, wollten aber nicht preisgeben, womit das Statussymbol erkämpft war. Was mich betrifft: In Deutschland war es in den achtziger Jahren nicht schick, aus Polen zu kommen. Polen galten zwar als sympathisch, aber auch als kleinkriminell, ärmlich und verlottert. Damit wollte ich als Jugendlicher nichts zu tun haben.

Ihr Buch beginnt mit einem Paar, das in einer verrauchten Krakauer Kneipe „Polski Tango“ tanzt. Am Ende des Buches greifen Sie die Szene wieder auf. Plötzlich stürzt das stolze Paar, bleibt lange liegen und setzt sich schließlich an die Bar. Wenn das Paar Deutschland und Polen symbolisiert – was bedeutet dann der Sturz?
SOBOCZYNSKI: Dass zuleben auch immer zu verlieren heißt. In Polen gibt es eine Tradition der Niederlage und des Verlustes. Die Deutschen haben damit wenig Erfahrung und kommen in große Schwierigkeiten, wenn irgendetwas schief läuft. Aber es läuft doch immer irgendetwas schief. Mit diesem Bild wollte ich ausdrücken: Mit Krisen, wie derzeit zwischen Deutschland und Polen, muss man produktiv umgehen. Wer hinfällt, sollte mit Würde wieder aufstehen.

Herr Soboczynski, vielen Dank für das Gespräch!

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