Das finanzielle Analphabetentum



Mit knapper Not ist im Oktober die Kernschmelze des Finanzsystems verhindert worden. Von einem Ende der Finanzkrise kann jedoch noch keine Rede sein. Schon jetzt hat sie Folgen von historischem Ausmaß. Sie erinnern an die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre und an den Systemzusammenbruch 1989/1990: Die Verstaatlichung von Banken in Großbritannien und den Vereinigten Staaten, das Verschwinden der Investmentbanken, jener Ikonen der Wall Street, und die Entschlossenheit der großen Industriestaaten, eine neue internationale Finanzarchitektur zu schaffen sowie künftig alle Marktteilnehmer schärfer zu kontrollieren – dies alles deutet auf das Ende einer Ära hin.

Das Verhältnis von Staat und Wirtschaft ändert sich möglicherweise so grundlegend, dass auch in dieser Hinsicht der Vergleich zu den frühen dreißiger Jahren gezogen werden kann: Damals gestalteten die Vereinigten Staaten im Gefolge der Weltwirtschaftskrise ihr Wirtschaftssystem um und schlugen mit dem New Deal eine Politik ein, die auf sozialen Zusammenhalt und Interessenausgleich ausgerichtet war. Ob es erneut zu so grundlegenden Veränderungen kommt, werden wir erst nach dem Regierungswechsel in Washington erfahren.

Anders als in Großbritannien und den Vereinigten Staaten wird die Krise in Deutschland von den meisten Menschen nicht als eine Widerlegung des eigenen Wirtschaftssystems gedeutet, sondern fast als Bestätigung, dass eine Volkswirtschaft dann gut fährt, wenn sie eine starke Industrie hat, wenn sie die Rolle von Finanzdienstleistungen nicht überbetont, deren Wachstum und Regeln nicht sich selbst überlässt. Vieles davon ist richtig. Irreführend wird diese Auffassung aber, wenn sie sich zum vereinfachenden Gegensatz „angelsächsischer Kapitalismus böse – deutsche soziale Marktwirtschaft gut“ auswächst und aus der Krise die Lehre gezogen wird, der Rest der Welt müsse nur dem deutschen Modell folgen, dann werde schon alles gut.

Denn schließlich hat die Krise auch bei uns zugeschlagen, und das nicht nur in Form von Ausläufern des angelsächsischen Bebens, sondern durchaus hausgemacht. Einige der Krisenursachen, auf die wir zu sprechen kommen werden, finden sich in Kontinentaleuropa ebenso wie in den Vereinigten Staaten, obwohl es unterschiedliche Varianten des Kapitalismus sind, die sich auf beiden Seiten des Atlantiks entwickelt haben.

Ganz links wird jetzt mit kruden Vorstellungen vom Ende des Kapitalismus gewunken. Doch die gemäßigte Linke verhält sich anders. Auf dem SPD-Parteitag Anfang Oktober wurde deutlich, dass die Führung der Sozialdemokraten der Versuchung widersteht, ihr Heil in simpler Kapitalismuskritik zu suchen. Noch ist ihre Reaktion unfertig, verständlicherweise dominiert vom Bestreben, durch akutes Krisenmanagement die Erschütterung des Finanzsektors einzugrenzen und die Auswirkungen auf die Realwirtschaft so gering wie möglich zu halten.

Doch in Europa wie auch weltweit ist die Debatte darüber angelaufen, welche Faktoren die Krise ausgelöst haben und wie eine Wiederholung zu vermeiden ist. Robert Shiller, Ökonomie-Professor an der Yale Univerity, ist einer der wenigen, die schon seit Jahren vor den Gefahren der Spekulationsblase am Immobilien- und Rohstoffmarkt warnen. In seinem jüngsten Buch The Subprime Solution schreibt Shiller: „Die Krise wurde nicht vom Einschlag eines Meteors oder dem Ausbruch eines Vulkans ausgelöst, sondern durch das Missachten offensichtlicher Risiken, durch ‚irrationalen Überschwang‘ angesichts der in Aussicht stehenden Gewinne, wenn man nur daran glaubte, die Blase könne sich immer weiter ausdehnen.“

Und der Economist analysiert ganz ähnlich: „Die Krise hat ihre Wurzeln in der größten Hauspreis- und Kreditblase der Geschichte.“ Das größte Wirtschaftsmagazin der Welt sieht den „intellektuellen Aufstieg der angelsächsischen Variante eines Kapitalismus freier Märkte“ am Ende. Die Vereinigten Staaten würden „wirtschaftliche Macht und intellektuelle Autorität“ einbüßen, der Einfluss Asiens und vor allem Chinas zunehmen. Und der frühere US-Notenbankchef Paul Volcker stellt sarkastisch fest: „Das strahlende neue Finanzsystem hat den Markttest nicht bestanden.“

Volckers Bemerkung berührt einen neuralgischen Punkt: Der Markt selbst hat mit der Kette von Zusammenbrüchen, die sich seit einem Jahr vor unseren Augen vollzieht, die These widerlegt, das Finanzsystem gedeihe besser, wenn es sich selbst überlassen bleibe. Statt der Schaffung von Werten erleben wir eine Wertvernichtung unvorstellbaren Ausmaßes.

Der Staat erweist sich nicht als hinderlicher, überforderter und geschichtlich überholter Pappkamerad, sondern als letzte Instanz der Stabilität. Seine mit Steuermitteln organisierte Rettungsaktion hat allerdings zweischneidige Folgen: Sie verhindert den völligen Systemzusammenbruch, belohnt aber gleichzeitig Banken und andere Marktteilnehmer, die unsinnige Risiken eingegangen sind. Bestraft werden dagegen alle anderen, die sich solide verhalten haben: in Form von möglichen höheren Steuern (zur Finanzierung der Rettungspakete), höherer Inflation (aufgrund der ständigen massiven Geldspritzen der Zentralbanken) und erratischer Zinsentwicklung. Der bailout, das Heraushauen von Instituten, die in Schieflage sind, lässt sich nicht vermeiden – aber es hat einen hohen Preis.

Wie ist es zur Krise gekommen? Je länger das Beben an den Finanzmärkten dauert, desto mehr Bruchlinien und Fehlentwicklungen werden diskutiert, die alle ihren Beitrag zur Katastrophe geleistet haben. Mal rücken bestimmte toxische Finanzprodukte, mal die Schwächen unregulierter Märkte, eine weit verbreitete Unterschätzung von Risiken und – im Zusammenhang damit – falsche Gehaltsstrukturen in den Vordergrund. Es handelt sich zwar nicht allein um eine amerikanische, auf schlechte Hypothekenrisiken zurückgehende Krise. Aber die an überforderte Kreditnehmer (Subprime) vergebenen Hypotheken und der damit einhergehende Wahn, der Hauspreisboom könne noch lange weitergehen und jedem, der aufs Karussell steigt, zu schnellem Reichtum verhelfen, waren die Auslöser der akuten Krise im Sommer 2007.

Im Gefolge der Immobilienblase hat sich die Verschuldung der Privathaushalte in den Vereinigten Staaten zwischen 1990 und 2007 nahezu verdoppelt: von unter 80 Prozent auf 140 Prozent ihres verfügbaren Einkommens. In Großbritannien ist der Verschuldungsgrad noch höher, er hat sich im selben Zeitraum von rund 120 Prozent auf nahezu 180 Prozent der Haushaltseinkommen gesteigert. In der Bundesrepublik liegt er dagegen bei 100 Prozent. In den Vereinigten Staaten machte sich die Vorstellung breit, ein kreditfinanzierter Hauskauf sei der kürzeste Weg zum Reichtum: Da die Hauspreise ja fortlaufend stiegen und die aufgenommene Verschuldung deshalb schon bald nur noch einen Bruchteil des Immobilienwertes ausmachen werde, sei dies eine narrensichere Investition. So wurde die private Überschuldung umgedeutet in ein besonders cleveres Nutzen von Marktchancen. Vor dem Hintergrund derselben Fehlannahmen lockerten die Banken ihre Kreditvergabe: Wenn die Immobilienpreise immerzu stiegen, musste man schließlich nicht so genau darauf achten, wem man einen Kredit gab.

Die Fehlentwicklungen, die zur Krise beigetragen haben, gehen aber darüber hinaus. Hier eine – selbstverständlich unvollständige – Aufzählung einiger Faktoren:

Asymmetrische Information: Die Hypothekenfinanzierer haben ihre Forderungen weiter verkauft (Verbriefung). Spezielle Anbieter wie Investmentbanken oder teilweise ausgelagerte Abteilungen normaler Banken haben diese Verbriefungen weiterverarbeitet zu neuartigen Finanzprodukten. Diese Produkte selbst sind durchaus sinnvoll, weil sie eine weitere Kreditvergabe und damit auch mehr Investitionen ermöglichen. Gefährlich aber war der laxe Umgang mit ihnen. Käufer der Finanzinstrumente wussten oft überhaupt nicht, was sich hinter den wohlklingenden Namen asset backed security oder collateralized debt obligation verbarg. Sie vertrauten den Verkäufern und den Rating-Agenturen, die ihre Bewertungen ebenfalls ohne exaktes Wissen im Detail und auf Basis von abstrakten Ausfallwahrscheinlichkeiten abgaben. Die Financial Times hat die Qualität dieses Geschäftszweiges deshalb mit Kettenbriefen und Betrugs-Pyramiden verglichen.

Falsche Anreize: Behalten Banken einen Teil eines klassischen Kredites, sind sie daran interessiert, solvente Schuldner zu haben. Denn sie selbst müssen für einen Teil dieser Forderung Eigenkapital vorhalten, und Eigenkapital ist teuer. Die Bank wird sich also um gute Schuldner bemühen und diese Geschäftspartner auch nicht bei der erstbesten Gelegenheit über die Klinge springen lassen. Geht diese Nabelschnur zwischen Gläubigerbank und Schuldner aber verloren, erlischt auch das Interesse an der Qualität der Schuldner und an seine Stelle tritt das Interesse, die Weitergabe der Kredite (Verbriefung) zu forcieren. Sie wird zum eigentlichen Schwerpunkt des Geschäfts, weil sie schnelle und hohe Gewinne ermöglicht.

Irrige Annahmen über Risikostreuung: Die Verbriefung von Krediten und ihre Zusammenfassung in Paketen mit anschließendem Weiterverkauf wurde als per se gesunde, das Finanzsystem stabilisierende Innovation gesehen: Risiken würden gestreut, auf viele Schultern verteilt und dadurch die Wahrscheinlichkeit reduziert, dass der Ausfall eines Schuldners schlimme Folgen haben werde. Risikostreuung wurde mit Risikominderung verwechselt. Doch die Streuung mindert nicht das gesamte Risiko im Markt, sie erhöht aber die Zahl der Teilnehmer, die potenziell betroffen sind.

Der Effekt war in einer Hinsicht sogar schlimmer als vor der Verbriefung, als lokale Immobilienkrisen lediglich lokale Bankenprobleme zur Folge hatten: Völlig unerwartet ließ die Immobilienkrise in den Vereinigten Staaten beispielsweise eine Bank in Deutschland, die IKB, in die Knie gehen. Dieses unberechenbare Aufplatzen von Krisensymptomen hat das Vertrauen der Banken zueinander zerstört: Niemand weiß, was der andere noch an wenig werthaltigen Papieren in den Büchern hat und ob er nicht über Nacht in eine Schieflage geraten könnte. Dadurch hat die im Oktober 2008 plötzlich verschärfte Liquiditätskrise ihren Anfang genommen: Ohne Vertrauen der Banken zueinander kann es keinen Interbankenmarkt geben, auf dem Liquidität verteilt wird. Dieses Problem besteht noch immer fort, obwohl die Zentralbanken Unsummen von Geld zur Verfügung stellen.

Mangelnde Aufsicht: In den Vereinigten Staaten und auch in Europa ist die Aufsicht sehr unterschiedlich mit den neuen Produkten und den Instituten umgegangen, die speziell für den Handel mit Verbriefungen geschaffen wurden. In Deutschland hat die Bankenaufsicht erlaubt, dass Kreditinstitute (private wie staatliche) Zweckgesellschaften oder SIVs (special investment vehicles) schufen. Sie lagerten damit die Risiken aus ihrer Bilanz aus. Die SIV’s wurden aus steuerlichen Gründen, aber auch um der Aufsicht noch weiter zu entgehen, im Ausland – wie etwa in Irland – angesiedelt. Die Aufsicht war zwar darüber im Bilde, bewertete die Risiken der SIV’s aber nicht als Risiken der Mütter, obwohl sie letzten Endes auf diese zurückfielen, wie der Fall der Sachsen LB gezeigt hat. In Spanien dagegen hat die Zentralbank die Kreditinstitute davon abgehalten, Risiken auf undurchsichtige SIV’s auszulagern.

Fehlende Lernfähigkeit und Wiederholung katastrophaler Fehler: Die Wirtschaftsgeschichte kann auch als Historie spekulativer Blasen gelesen werden, von der Tulpenspekulation in den Niederlanden im frühen 17. Jahrhundert, auf deren Höhepunkt ganze Vermögen für ein paar Tulpenzwiebeln bezahlt wurden, über die Spekulation mit Eisenbahnenaktien im 19. Jahrhundert bis zur New-Economy-Blase Ende der neunziger Jahre. Obwohl Finanzmärkte angeblich völlig rational sind und jede Information sofort verarbeiten, ist oft das Gegenteil der Fall: Vorhandene Informationen über ungewöhnliche und überzogene Preisanstiege werden vernachlässigt, weil sie nicht in die euphorische Story passen, der sich die Marktteilnehmer verschrieben haben. So kommt es dazu, dass Finanzinstitute zwar über modernste Computer und komplexe mathematische Modelle verfügen, diese aber mit falschen, übermäßig optimistischen Annahmen füttern und die Blase nicht sehen, die sie mit aufpumpen.

Hinzu kommt, dass Finanzinstitute viel zu wenig in Forschung und Entwicklung investieren. Ein modernes Finanzprodukt ist in seinen Wirkungsweisen komplexer als ein Medikament und wesentlich anspruchsvoller als ein Kraftwerk. Dennoch geben die Banken nur einen Bruchteil dessen für Forschung aus, was die Industrie dafür völlig selbstverständlich aufwendet. Auch das wird in Zukunft nicht so bleiben können. Das überlegene Expertenwissen und die Finanzkraft der Institute muss in den Dienst einer besseren Erforschung der Finanzmärkte gestellt werden. Die Beamten der Notenbanken sind damit überfordert.

Mangelndes Wissen gesellt sich zu gewollter Ignoranz. Die größten amerikanischen Hypothekenfinanzierer haben in den vergangenen Jahren zwar durchrechnen lassen, bei welchem Preisrückgang sie in Probleme geraten würden. Doch bei einem Minus von 13 Prozent ließen sie die Kalkulationen abbrechen: Ein größerer Einbruch sei einfach nicht möglich. Man wollte die mögliche Katastrophe schlicht nicht sehen. Psychologie ist also mindestens so wichtig wie Mathematik, aber das wollten und wollen viele Finanzmarktgurus nicht wahrhaben.

Dabei geschah vor zehn Jahren mit der Fast-Pleite des Hedge Fonds LTCM (Long Term Capital Management) bereits Ähnliches wie jetzt im Zuge der Finanzkrise. Der Fonds, dessen Arbeitsweise zwei Nobelpreisträger entworfen hatten, wettete auf sehr kleine Preisunterschiede von Finanzinstrumenten. Um daraus erkleckliche Gewinne machen zu können, setzte er sehr hohe Geldbeträge ein, wovon nur der geringste Teil Eigenkapital war, der größte Teil Schulden (große Hebelwirkung oder leverage). Das Modell galt als absolut robust – bis etwas geschah, was vorher noch nie geschehen war und deshalb in keinem Modell simuliert werden konnte: Die Russlandkrise zu Beginn der neunziger Jahre ließ das Land nahezu zahlungsunfähig werden und brachte die gesamten Anleihemärkte durcheinander.

Zweistellige Eigenkapitalrenditen galten als objektive Messlatte

Einige große Marktteilnehmer drohten, in eine Schieflage zu rutschen. Die amerikanische Notenbank organisierte eine Notfallrettung durch ein Konsortium von Banken. Mit von der Partie bei LTCM waren einige der größten Investmentbanken, die nun, bei der Wiederholung der Ereignisse, das Zeitliche gesegnet haben. Sie hatten aus dem LTCM-Desaster nichts gelernt, sondern über Jahre hinweg weiter mit sehr hoher leverage gearbeitet.

Im Laufe der neunziger Jahre kam die Idee auf, zweistellige Eigenkapitalrenditen seien die objektive Messlatte, die eine international wettbewerbsfähige Bank überspringen müsse. Dem modernen Finanzsektor wurde eine so überwältigend große produktivitätssteigernde Wirkung zugeschrieben, dass sogar Renditen von 25 Prozent keine Zauberei seien, sondern ein angemessenes Entgelt für die geschaffenen Werte. Daraus wurde eine Jahr für Jahr zu erreichende Vorgabe gemacht, die durch eine starke Spezialisierung auf Investmentbanking (das mit den oben beschriebenen Instrumenten und Hebeln beziehungsweise hoher Verschuldung arbeitet) erreichbar sei.

Man muss kein Nobelpreisträger sein, um das Voodoohafte dieser Renditebeschwörung zu erkennen: Keine Volkswirtschaft der Welt kann dauerhaft ein Wachstum von 10 oder gar 20 Prozent erreichen. Wenn der Finanzsektor aber eine solche Rendite erzielen will, während die Volkswirtschaft der reifen Industrieländer bestenfalls mit einer Rate von 3 Prozent wächst, geht das nur um den Preis der Verdrängung anderer Wirtschaftssektoren oder aufgrund einer spekulativen Blase – genau das, was mit Subprime-Krediten und den folgenden Verbriefungen geschehen ist.

Schwer verständlich, aber wahr: Nur fünf Jahre nach dem Platzen der Internetblase hatte sich ein neuer, ungleich größerer spekulativer Ballon aufgeblasen, wieder verbrämt mit demselben pseudo-marktwirtschaftlichen Geschwätz von „höherer Effizienz durch weniger Regulierung“ und „besonders flexiblen Märkten“, garniert mit herablassenden Urteilen über angeblich „objektive Anforderungen“ des internationalen Finanzsektors, denen sich niemand entziehen könne.

Wieder war von einem neuen Zeitalter die Rede, ganz ähnlich wie während der New Economy. Auch damals waren die klassischen Marktgesetze ja angeblich durch ein „neues Paradigma“ außer Kraft gesetzt. War es während der Internetblase der Dotcom-Gründer, der angeblich durch eine möglichst hohe Cash-Burn-Rate – das Verheizen von Fremdkapital – sein gewaltiges Marktpotenzial bewies und die Unternehmer der Old Economy alt aussehen ließ, war nun der smarte Investor das Rollenmodell.

Dabei haben viele mitgespielt, nicht nur die Investmentbanker. Auch Kleinanleger wurden gierig und stürzten sich – gerade in Deutschland – auf Zertifikate, extrem komplexe Finanzprodukte, deren wirtschaftliche Funktionsweise sie nicht im Entferntesten verstanden, die ihnen aber als schnellster Weg zum Reichtum erschienen. Im schlimmsten Fall ist heute das komplette investierte Kapital weg, wie es die Kunden der Pleite gegangenen Investmentbank Lehman Brothers erlebt haben.

Über die Folgen eines Jahrhundertereignisses

Auch wenn die Krise noch lange nicht überwunden ist, ist es sinnvoll, sich Gedanken über die wahrscheinlichen Folgen dieses Jahrhundertereignisses zu machen. Die Konsequenzen werden zuerst natürlich den Finanzsektor selbst betreffen. Sie reichen von höheren Anforderungen an das Eigenkapital bis zu einer strikteren Aufsicht. Die Finanzmärkte leiden nicht unter zu viel Globalisierung, sondern unter einer zu wenig globalisierten Regulierung, wie der frühere Ökonom der Europäischen Zentralbank (EZB) Ignazio Angeloni kürzlich in einem Essay schrieb.* Angeloni macht allerdings auch klar, dass viele Staaten in der jüngsten Vergangenheit für eine möglichst unverbindliche Aufsicht im Rahmen des Financial Stability Forum waren, statt auf „harte“ Regulierung etwa im Rahmen des EU-Rechts zu setzen: Sie wollten möglichst große nationale Spielräume bewahren.

Die politische Globalisierung der Finanzmärkte wird nun nachgeholt werden. Ob sie sich auf andere Sektoren erstrecken wird, über die Finanzmärkte hinaus, ist noch nicht absehbar, es wäre aber wünschenswert. Leider wird die engere internationale Kooperation, möglicherweise mit einem gestärkten Internationalen Währungsfonds im Zentrum, viel zu spät kommen, um das Übergreifen der Finanzkrise auf die Entwicklungs- und Schwellenländer zu verhindern.

Sah es anfangs so aus, als könnten sich diese Staaten von der Krise in den Vereinigten Staaten und Europa abkoppeln, muss man nun das Schlimmste befürchten: Nicht nur ihre Finanzmärkte brechen ein, sondern ähnlich wie in früheren Krisen wird Kapital abgezogen, das diese Länder für die eigene Entwicklung benötigen. Nur wenige asiatische Länder sind wie China in der glücklichen Lage, über so gewaltige Devisenreserven zu verfügen und so hohe Handelsbilanzüberschüsse zu erreichen, dass sie selber Kapitalexporteure sind. Die übrigen werden wesentlich härter unter dem zu einer realen Krise werdenden Finanzdebakel leiden als die hoch entwickelten Industriestaaten.

Im Zuge der Krise sind auch die Managergehälter wieder in die Diskussion geraten. Dabei geht es, soweit politisches Handeln nötig ist, nicht um ein moralisches Problem und auch nicht um die Frage, ob manche Vorstände unanständig hohe Bezüge einstreichen. Die Krise hat bewiesen, dass das System der Gehälter und Boni kein unternehmensinternes Problem ist, sondern die gesamte Volkswirtschaft berührt. Erfolgsorientierte Boni waren schlicht falsch, weil risikofördernd, definiert. Sie wiesen vorübergehende Erträge, die sich aus dem Eingehen hoher Risiken ergaben, als persönlichen Erfolg des jeweiligen Managers aus. Sogar mitten in der Finanzkrise wurden noch hohe Boni gezahlt. Die Anreize müssen nun anders gesetzt werden, weil ihre Folgen die gesamte Wirtschaft in Mitleidenschaft ziehen. Bewegen sich die Banken nicht von sich aus, muss der Staat handeln. Die Legitimation dafür hat er, denn das Fehlverhalten vieler Institute hat gesamtwirtschaftlichen Schaden angerichtet.

Denken wir über den Finanzsektor hinaus an die politischen Folgen der Krise, drängen sich ambitionierte Reformen der Europäischen Union beziehungsweise der Währungsunion auf. In der Krise ist deutlich geworden, dass die Europäische Währungsunion zwar das Geld vergemeinschaftet hat, die wirtschafts- und finanzpolitischen Handlungsmöglichkeiten aber allein beim Nationalstaat geblieben sind. Es gibt keine europäische Instanz, die in einer gefährlich zugespitzten Krise mit Kapital und Entscheidungsvollmacht handlungsfähig ist.

Das hat die EU an den Rand einer brandgefährlichen, an die Weltwirtschaftskrise erinnernden beggar thy neighbour-Politik getrieben: nationale Lösungen, die den heimischen Sprengel schützen und Gefahren auf die Nachbarn abwälzen sollten. Der von Irland begonnene Schutz allein der nationalen Banken, der alle übrigen Institute zusätzlich destabilisierte, hat das nur zu deutlich illustriert. Genau dieses egoistische Verhalten hat in der Weltwirtschaftskrise die Nationen in eine Abwärtsspirale getrieben.

Quasi auf den letzten Zentimetern hat die EU dieses rat race nach unten gestoppt. In einer Reihe von Ad-hoc-Treffen hat sich eine improvisierte politische Führung der Währungsunion gezeigt. Auf Dauer kann man dem Improvisationsgeschick aber nicht vertrauen. Man muss sich nur die Frage stellen, was geschehen wäre, wenn nicht gerade Frankreich die EU-Präsidentschaft inne gehabt hätte, sondern etwa Irland! Die Währungsunion muss deshalb ihr politisches Standbein stärker entwickeln. In der Vergangenheit hat Deutschland das verhindert, aus Angst davor, Frankreich könne eine gemeinsame politische Instanz missbrauchen, um auf die EZB Einfluss zu nehmen. Im Licht der Krise sollten diese Eifersüchteleien und gegenseitigen Verdächtigungen überholt sein.

Nicht allein Regulierung und Stärkung von Institutionen der Aufsicht sind nun gefragt, sondern auch die Weiterentwicklung des Finanzsektors. Gerade die deutsche Politik, der eine gerechte Vermögensverteilung nicht gleichgültig ist, steht vor einem Paradox: Menschen mit niedrigem Einkommen zu Immobilienbesitz zu verhelfen – der Ursprung der Subprime-Krise – ist ja kein ehrenrühriges Ziel. Robert Shiller bezeichnet es als „democratizing finance“, davon zuvor ausgeschlossenen Menschen die Vorteile des Finanzsystems zugänglich zu machen. Doch weil dies in den Vereinigten Staaten mit falschen und aggressiven Methoden verfolgt wurde, erleben wir nun nicht eine breitere Vermögensstreuung, sondern das Subprime-Desaster.

Nicht „Weniger Finanzmarkt!“, sondern „Bessere Finanzprodukte!“

Die Folge kann aber nicht sein, das Ziel einfach aufzugeben, sondern sorgfältig und solide an „democratizing finance“ zu arbeiten, mit dem Ziel, die Möglichkeiten moderner Finanzprodukte in den Dienst der Absicherung von Lebensrisiken von Millionen Menschen zu stellen. Shiller nennt beispielsweise beim Immobilienmarkt die Absicherung gegen das Risiko fallender Hauspreise. Blickt man auf die Entwicklungsländer, sieht man schon jetzt den Beitrag, den Finanzprodukte zur Überwindung von Armut leisten können. Die Mikrokredit-Bewegung von Nobelpreisträger Mohamed Yunus hat Hunderttausenden zu Arbeit und Einkommen verholfen. Nicht „Weniger Finanzmarkt!“ lautet also die Lehre, die wir aus der Krise ziehen sollten, sondern „Bessere und verständlichere Finanzprodukte!“

Das oben genannte Paradox ist im Grunde genommen noch größer: Auf den ersten Blick suggeriert die Krise, der Kapitalismus habe eine schwere Niederlage erlitten und stehe vor der Ablösung durch ein irgendwie anders geartetes Gesellschaftssystem, wenn die Politik ihn nur entschieden genug angreife. Auf den zweiten Blick sieht man, dass das Gegenteil der Fall ist: Die in den vergangenen Jahren oft überfordert wirkende Politik kann in die Offensive kommen, wenn sie die in der Krise offenkundig werdende Fehlentwicklung eines bestimmten Kapitalismus (nicht „des“ Kapitalismus) korrigiert. Sie muss den Kapitalismus nicht schwächen, sondern stabilisieren. Dazu gehört auch, die weitere Entwicklung der Finanzmärkte sowie den Umgang der Bevölkerung mit Finanzprodukten zum politischen Thema zu machen. Gerade politische Kräfte, die sich selbst als progressiv verstehen, können hier ein Alleinstellungsmerkmal entwickeln, wenn sie bereit sind, über ihren Schatten zu springen.

Die Krise konnte ja auch deshalb entstehen, weil sich die Politik in einer Mischung aus Misstrauen und Verunsicherung von den Finanzmärkten abgewandt hatte und diese sich selbst oder einer kleinen Schar beauftragter Spezialisten überließ, die aber überfordert waren. Diese Abstinenz hat dazu beigetragen, dass die Märkte mit ungeprüften, ständig weiterentwickelten Produkten geflutet werden konnten, denen keine mit vergleichbarem Wissen gewappneten Nachfrager gegenüberstanden. In der Masse der Bevölkerung hat sich sogar das finanzielle Analphabetentum breit gemacht.

Wer die Anerkennung der Wähler ernten wird

Es geht nach der Krise deshalb nicht allein um die bessere Regulierung der Anbieter, möglicherweise bis hin zu einem Finanz-TÜV. Die ist nötig und bereits in Arbeit. Nicht weniger wichtig ist aber die Qualifizierung der Nachfrager. Millionen von Menschen fehlen grundlegende Begriffe vom Funktionieren des modernen Finanzmarktes. Hätten sie auch nur rudimentäre Kenntnisse gehabt, wäre es vielleicht nie zur Immobilienblase und der übermäßigen Verschuldung der Privathaushalte gekommen. Unbeschlagene Privathaushalte sind dankbare Opfer für Berater, die oft selber keine Ahnung haben und nur die Sprechzettel vorlesen, die sie morgens aus ihrer Zentrale bekommen. Das finanzielle Analphabetentum zu überwinden ist ein wesentlicher und noch zu wenig diskutierter Teil der Aufräumarbeiten nach der Krise. Die entsprechenden „Schulen“ wird der Privatsektor alleine nicht aufbauen. Hier zeichnet sich eine Aufgabe für den Staat und den tertiären Sektor ab.

Ohne Fahrprüfung darf niemand ein Auto fahren. Sicher sollte man die Analogie nicht übertreiben, aber ein Minimum an finanziellen „Fahrkenntnissen“ muss sich eine Gesellschaft leisten, will sie künftige Krisen vermeiden. (Sie sollten wohl nicht nur für Privatanleger gelten, sondern auch für Bankmanager!) Im Straßenverkehr vertrauen wir ja auch nicht allein auf die Hersteller und den TÜV, sondern befähigen den Einzelnen. Andererseits wäre das Verbot von Autos keine kluge Antwort auf eine Massenkarambolage. Ebenso wenig ist das Verbot aller möglichen derzeit als toxisch geltenden Finanzprodukte, wie es hier und da gefordert wird, die sinnvollste Reaktion auf die Finanzkrise.

Der Finanzmarkt ist kein Monster, das nun bestraft werden muss. Er ist Teil einer modernen Volkswirtschaft, der zum Wachstum und zu breit gestreutem Wohlstand beitragen kann. Sich selbst überlassen wird er allerdings immer wieder zu irrationalen Übertreibungen und an Massenhysterie grenzenden Spekulationsblasen neigen. Ihn in vernünftige Bahnen zu lenken erfordert keine schwallende antikapitalistische Rhetorik, sondern konkrete und zähe Arbeit an Details. „Piecemeal engineering“ hat Helmut Schmidt das in den siebziger Jahren in Anlehnung an Karl Popper genannt. Wer sich als politische Kraft in den kommenden Jahren beharrlich an diese Aufgabe macht, wird auch Anerkennung beim Wähler ernten.

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