Das Erbe der 68er

Lucky Strikes und die Notwendigkeit einer zweiten Bildungsreform

Als im bundesdeutschen Herbst 1997 an den Hochschulen eine Protestbewegung aufflackerte, die allgemein als Lucky Strike bekannt wurde, gab es kaum jemanden, der die aufbegehrenden Studierenden nicht mit Sympathie umarmen wollte. Medien und Öffentlichkeit ergötzten sich an kreativen und spaßigen Aktionen. Die Parteien erfreuten sich am moderaten Grundton des Protests. So passte der Lucky Strike in das Bild einer modernen Spaßgesellschaft, konnte wirken wie die Übertragung von Love Parade und Technokultur auf die akademische Welt der Hochschulen.

Die Eigenschaften, welche mittlerweile einer noch hauptsächlich im Feuilleton sich tummelnden Generation Berlin zugeschrieben werden, hätte man vor zweieinhalb Jahren auch den streikenden Studenten attestieren können. Desillusioniert sei die Generation Berlin, leistungsbereit, jenseits von Anpassung und Auflehnung - und vor allem: geprägt von heftiger Abneigung gegen das Vorbild der 68er. Gleich wie sich das Bild der aktuellen Jugend in späteren Zeiten auch darstellen mag, an den Hochschulen scheint eine ganz andere Generation zugange zu sein als diejenige vor 30 Jahren, welche für das Muster aller modernen Studentenproteste verantwortlich zeichnete. Besonders für die Politik an den Hochschulen muss dies weitreichende Auswirkungen haben. Denn fast alles, was an politischer Struktur und Betätigung an den Hochschulen existiert, ist Erbe der 68er. Dies betrifft sowohl die akademischen Gremien als auch die Aktionsformen studentischer Politik und lohnt einen näheren Blick auf die Geschichte.

Die Studentenbewegung ist auch eine hochschulpolitische Reformbewegung gewesen. Sicher hätte sie ohne den Konflikt um die Notstandsgesetze nie ihre spätere Größe erreicht, und vor allem der Vietnam-Krieg war ein maßgebliches Konstituierungselement. Doch die ersten Konflikte an der FU Berlin, der Keimzelle des Protests, waren inneruniversitärer Natur. Und an der in den 60er Jahren aufbrechenden Diskussion um Hochschulreform hatten studentische Konzepte einen wichtigen Anteil.

In keinem anderen Bereich hatte die Studentenbewegung faktisch so durchschlagenden Erfolg wie in der Hochschulpolitik. Anfang der 70er Jahre wurden hochschulpolitische Entscheidungen von einer Tragweite beschlossen, wie sie 1967 von den sich erst radikalisierenden Studenten noch nicht einmal im Traum gefordert worden waren. Die Abkehr von der Ordinarienuniversität alten Typs vollzog sich in kürzester Zeit und machte Modellen drittelparitätischer Mitbestimmung Platz. Das politische Mandat der Studentenvertretungen wurde weitestgehend anerkannt, und mit der Einführung des BAföG wurde den sozialpolitischen Forderungen der jungen Hochschulreformer Rechnung getragen. Die Universitäten waren schon zwei, drei Jahre nach dem Aufkommen der Bewegung nicht mehr wiederzuerkennen. Die 68er bescherten den Hochschulen die Struktur der akademischen Gremien, die auch heute noch Bestand hat. Und: Sie legten den Grundstein dafür, dass diese niemals uneingeschränkt funktionieren konnte.

Als die Vorstellungen der radikalen Studenten politisches Gehör und Umsetzung fanden, war das inneruniversitäre Klima längst vergiftet. Nach dem Motto "Nur eine nicht erfüllte Forderung ist eine gute Forderung" verfiel das studentische Reformprogramm für einen Teil der kritischen Studentenschaft jeweils in dem Maße, wie es vom politischen Gegner akzeptiert wurde. Schon 1969 gab es kaum noch einen Professor, egal ob liberal oder konservativ, der ungestört seine Vorlesungen abhalten konnte, teilweise war der Lehrbetrieb völlig lahmgelegt. Ein konkretes hochschulpolitisches Programm brauchten die StörerInnen dabei längst nicht mehr. Es versteht sich von selbst, dass dies der konservativen Reaktion in die Hände spielte, wie sie sich etwa im Hochschulbund "Freiheit der Wissenschaft" organisierte. Mit der eben eingeführten Drittelparität in den Hochschulgremien etwa war es zu Ende, als 1973 die Klage mehrerer konservativer Professoren vom Bundesverfassungsgericht positiv beschieden wurde.

Doch nicht nur in der Gestalt der Hochschulen erscheint der Schatten von 1968, mit dem sich die Masse der heutigen Studenten offenbar nicht mehr identifizieren möchte. Auch die traditionellen Aktionsformen scheinen auf immer geringeres Interesse zu stoßen. Immer weniger Studierende verspüren Lust auf endlose Gremiensitzungen, in denen ihre Stimme sowieso kaum zählt. Lieber beweist man gesellschaftliches Engagement in anderen sozialen Zusammenhängen. In der Nachkriegszeit erfolgte die Neugründung der studentischen (und Schüler-) Selbstverwaltungen auch mit dem Ziel, die deutschen Jugendlichen zur Demokratie zu erziehen. Durch eigene Praxis sollte das demokratische Prinzip verinnerlicht werde. Ein großer Teil dieser Intention ist in den letzten fünfzig Jahren obsolet geworden. Das geringe Interesse der Studenten an der Hochschulpolitik kann jedoch auch als Indikator für die Haltung der jungen Generation zur etablierten Parteiendemokratie gesehen werden. Denn nicht nur die Betätigung in akademischen Gremien wird gering geschätzt, sondern offenbar auch politisches Engagement generell, was vor allem die einstigen "Jugendparteien" SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei den vergangenen Wahlen schmerzlich zu spüren bekommen haben.

An den Hochschulen mag für das Desinteresse mit verantwortlich sein, dass neue, begeisterungsfähige Konzepte zur Hochschul- und Bildungspolitik vergeblich zu suchen sind. Es ist lange her, dass die intellektuellen Größen der Gesellschaft sich laut hörbar zur Zukunft des Bildungs- und Hochschulsystems äußerten, wie dies zu Zeiten der ersten Bildungsreform vor dreißig Jahren unablässig geschah. Es ist ebenso lange her, dass eine Regierung die Bildungspolitik zu ihrem vordringlichen Arbeitsfeld erkoren hat und große Konzepte parat hatte.

Dies soll nicht als Kritik an der gegenwärtigen Regierung verstanden werden, immerhin ist etwa mit der Einrichtung des Forums Bildung ein Anstoß zu der erforderlichen Diskussion gegeben, die Notwendigkeit einer neuen "Bildungsoffensive" erkannt worden - jedoch ohne sich vorher über ein Ziel verständigt zu haben.

Ein breiter Diskurs über Aufgaben und Ziele von Bildungspolitik ist dringend notwendig. Dabei geht es nicht nur um die Einführung von Studiengebühren oder die Veränderungen, welche die neuen Kommunikationstechnologien mit sich bringen. Es geht auch nicht nur um mehr Autonomie, um neue Abschlüsse oder einen verstärkten Wettbewerb zwischen den einzelnen Bildungseinrichtungen. Es geht vielmehr um das Wesen von Universität an sich. Von Humboldt und Schleiermacher bis zu den Zeiten der ersten Hochschulreform hatte zumindest im intellektuellen Diskurs ein genaues Bild dessen existiert, was "Universität" bedeutet. Welche Aufgaben unsere Hochschulen abseits von Ausbildung leisten sollen, wie das Verhältnis von Hochschule und Gesellschaft sich gestaltet - darüber findet heute kaum eine Diskussion statt.

Die Veränderungen vollziehen sich oft heimlich, und vermutlich werden wir erst in gewissem Abstand ihre wirkliche Tragweite ermessen können. Dringend notwendig ist deshalb eine breite gesellschaftliche Diskussion über die Zukunft des deutschen Bildungswesens und die Richtung der Bildungspolitik. Denn die erforderliche zweite Bildungsreform kann nur Erfolg haben durch einen intensiv geführten Wettstreit um die besseren Konzepte.

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