Das Ende der Armut?

Selten bemerkt, oft unterschätzt: Mit den Mitteln der "Marktsozialdemokratie” hat die Labour Party im Kampf gegen die Armut in den vergangenen acht Jahren etliche klassisch sozialdemokratische Ziele erreicht. Doch vieles bleibt noch zu tun

Es ist die Gretchenfrage, der sich jede Regierung links der Mitte stellen muss: Wie hältst du es mit der “sozialen Frage”? Von Beginn an sah sich in Großbritannien New Labour besonders eindringlich mit dieser Frage konfrontiert, von den Migliedern, Aktivisten und Gewerkschaften, die den Dritten Weg von Beginn an mit erheblichem Argwohn und gar nicht selten dem offen verkündeten Verdacht begleiteten, es gehe den Revisionisten um Tony Blair in erster Linie um die Macht. Die Bekenntnisse zu sozialdemokratischen Werten wie sozialer Gerechtigkeit, Fairness und Chancengleichheit galten diesen Kritikern als leere Rhetorik. Hinter ihr verberge sich eine Regierung, die, fixiert auf ökonomische Effizienz, solide Finanzen und flexiblen Arbeitsmarkt, letztlich nur dabei sei, einen sanfteren neoliberalen Aufguss zu kredenzen, aber keineswegs die “selbstsüchtigen” Mittelschichten durch Umverteilung vergrätzen wolle. Diese Einschätzung litt von Beginn an daran, dass sie nicht auf Fakten sondern oftmals tiefen Vorurteilen basierte. Gleichwohl mag die Kritik von links dazu beigetragen haben, dass der Regierung Blair umso mehr daran lag, möglichst rasch ihr soziales Engagement zu demonstrieren.

Als New Labour 1997 an die Macht kam, verkündete Blair ein ehrgeiziges Ziel. Binnen 20 Jahren, so versprach er, solle die Armut im Lande überwunden sein. Sichtbarster Ausdruck von Armut und sozialen Missständen ist zweifellos die Obdachlosigkeit: jene berüchtigten cardbox houses, primitive Schlafstätten aus Pappkarton, die Mitte der neunziger Jahre in den Straßen britischer Städte allgegenwärtig waren, allen voran in der Metropole London. Noch vor ein paar Jahren kauerten dort Tausende von Menschen unter Brücken, in Hauseingängen und Torbögen. Sie bettelten in den Tunneln der U-Bahn und vor den Glitzerfassaden von Harrod’s. Allein in London wurde das Heer der Obdachlosen in den neunziger Jahren auf bis zu 100.000 geschätzt. Das Los dieser Menschen galt weithin als untrügliches Signal für eine bedenkliche Fehlentwicklung: Der Wohlstand im Lande wuchs, während sich zugleich horrende Armut ausbreitete. Bis weit hinein ins bürgerlich konservative Lager wurde dies als Schandfleck und Kehrseite der Thatcherschen Revolution gewertet.

Das Bild hat sich dramatisch gewandelt. Obdachlose sind fast vollständig von der Bildfläche verschwunden. Sie standen ganz oben auf der Prioritätenliste einer Regierung, die sich der Wirkung von Images im Zeitalter globaler Medien von Anfang an bewusst war. Reale Fortschritte im Kampf gegen die Armut lassen sich in einer Mediendemokratie nicht überzeugend vermitteln, solange zehntausende von Menschen auf den Straßen liegen.

Ein Sozialarbeiter für jeden Obdachlosen

Ein Bündel von Initiativen, eng ineinander verzahnt, wurde ab 1999 beschlossen und zeigte Wirkung. Mit 200 Millionen Pfund, deutlich mehr als Shelter und Crisis, Wohltätigkeitsorganisationen der Obdachlosen, erhofft hatten, wurden eine Rough Sleepers Unit sowie Contact and Assessment Teams geschaffen. Seither ist jedem Obdachlosen ein Sozialarbeiter zugewiesen, der sich um Unterkunft, Drogentherapie, ärztlichen Kontakt und Ausbildung kümmert. Hier arbeiten viele jener angeblichen “Bürohengste”, die in rechten Massenblättern gerne als Beweis für die verschwenderische “Aufblähung” des öffentlichen Dienstes um rund 300.000 Mitarbeiter unter der Labour-Regierung angeführt werden. Tenency Officers sorgen dafür, dass Obdachlose ihr neues Heim nicht sogleich wieder verlieren. Sie scheinen erfolgreich zu sein. Die Rate derjenigen, die aus dem System herausfallen, beläuft sich auf nur drei Prozent.

Drastisch aufgestockt wurde zugleich der soziale Wohnungsbau – seit 1997 um 250 Prozent. In Birmingham, der zweitgrößten britischen Stadt, sank die Zahl der Obdachlosen um 96 Prozent. Stillschweigend – schließlich wollte man einen Sturm der Empörung in Blättern wie der giftigen Daily Mail vermeiden – führte man die freie Verschreibung von Methadon und Heroin ein. Ermöglicht wurde das auch durch die drastisch verbesserte finanzielle Ausstattung des National Health Service, des staatlichen Gesundheitswesens. Wenngleich die Beschaffungskriminalität ein großes Problem bleibt, ist sie durch diese Maßnahme doch reduziert worden. Chris Holmes von Shelter jedenfalls bescheinigt der Regierung einen “erstaunlichen Erfolg binnen kürzester Zeit”. Besonders positiv vermerkt wird, dass Betreuung und Beschaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen sowie Unterkünften wirkungsvoll ineinander greifen.

Der ideologische Streit innerhalb der britischen wie der europäischen Sozialdemokratie über den Dritten Weg, und danach die bittere Kontroverse über den Irak und Blairs intimes Verhältnis mit Bushs Amerika, haben geraume Zeit verhindert, dass das sozialdemokratische Ethos von New Labour wahrgenommen wurde. Nun kristallisiert sich immer klarer heraus, dass Blair und Schatzkanzler Gordon Brown keine bloßen Lippenbekenntnisse abgaben, als sie wirtschaftliche Modernisierung und zugleich Hilfe für die Menschen auf der Schattenseite versprachen – für Arbeitslose, verarmte Rentner, allein erziehende Mütter und Kinder, die in Armut aufwachsen.

Labour entpuppt sich als ein neuer politischer Typus, der vielleicht am besten mit dem Begriff “Marktsozialdemokratie” zu beschreiben ist. Ökonomisch orientiert sich die Regierung eher am amerikanischen Business-Modell, für das allen voran Gordon Brown eine ausgeprägte Vorliebe besitzt, wie er bei Auftritten in Brüssel immer wieder deutlich zu erkennen gibt. Zugleich jedoch verfolgt die Regierung ein ehrgeiziges, eher europäisches Projekt des social engineering: Im Zentrum aller Initiativen und Reformen steht das Thema Arbeit. Der enabling state, der aktive, “ermöglichende” Staat fördert Hilfe zur Selbsthilfe. Ergänzt wurde das um steuerliche und sozialpolitische Schritte, die oftmals absichtsvoll der Umverteilung dienen. Keine Labour-Regierung nach 1945 hat mehr umverteilt als die Regierung Blair.

Eine gewisse Härte gehört immer dazu

Eine gewisse Härte – tough love – gehört stets dazu, ob im Umgang mit Obdachlosen, Sozialhilfeempfängern oder Arbeitslosen. Die “alte Linke” hat sich hieran seit Beginn der Ägide Blair immer gerieben. Sie bezweifelt auch heute noch, dass Sozialbetrug ein wirklich nennenswertes Problem darstellt. Sie mag nicht akzeptieren, dass der stetige Anstieg der Zahl arbeitsunfähiger Behinderter zu einem Gutteil der Fehlkonstruktionen des Sozialstaates geschuldet ist, die zu einer weiteren “Armutsfalle” führte, weil der britische Wohlfahrtsstaat Behinderte bislang großzügiger bedachte als Arbeitslose. Das zu ändern nahm sich die Regierung jetzt vor – auch um kurz vor der Wahl ein weit verbreitetes Unbehagen der Wähler über clevere “Drückeberger” aufzufangen, die sich ein Attest erschleichen und nun für immer als arbeitsunfähig gelten. Die Regierung war zu der Überzeugung gelangt, hinter der hohen Zahl der Behinderten verberge sich eben keine erstaunliche Explosion schwerer Krankheiten. Hier folgt Labour den Fußstapfen von William Beveridge, dem Vater des britischen Wohlfahrtsstaates, der nachdrücklich auf die Balance von Rechten und Pflichten gepocht hatte. Diese Einsicht war bei Parteien links der Mitte quer durch Europa in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts verloren gegangen. Sie wurde in den Neunzigern wiederentdeckt und prägt nun die Politik eigentlich aller sozialdemokratischen Parteien von Schweden über Deutschland und Holland bis zur Labour Party in Großbritannien.

Beim New Deal der Regierung Blair für jugendliche Arbeitslose erwies sich das Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche als besonders erfolgreich. Wer ein Angebot zur Aus- und Weiterbildung oder einen subventionierten Arbeitsplatz ausschlug, musste finanzielle Einbußen hinnehmen. So wurde die Jugendarbeitslosigkeit deutlich reduziert. Nach sieben Jahren sind nur noch etwa 30.000 ohne Job – abgesehen von den rund 60.000, die sich in Behinderte verwandelt haben und die man nun mit strengerer Prüfung und Hilfsangeboten zurück in die Kultur der Arbeit bringen will. Das Prinzip Welfare to Work, für das sich nun auch Deutschlands Sozialdemokratie entschieden hat, ist in Großbritannien inzwischen auf alle Arbeitslosen ausgedehnt worden. Sechs Monate lang wird unabhängig vom früheren Gehalt eine job seekers’ allowance in Höhe von 42 Pfund die Woche ausgezahlt – daneben gibt es Wohn- und Kindergeld. Nimmt der Betroffene die Chance wahr, sich beruflich weiter zu qualifizieren, erhält er die Summe weiter ausgezahlt, weigert er sich, einen Job anzunehmen, entfällt sie ganz.

Geld allein sorgt nicht für Gerechtigkeit

Wie die meisten Staaten in der EU definiert Großbritannien eine Familie dann als “arm”, wenn sie über weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens verfügt. Dabei begreift Labour Armut nicht allein als finanzielles Problem. Man spricht von social exclusion, von “gesellschaftlichem Ausschluss”, durch den ein verhängnisvoller Kreislauf entsteht: Menschen driften zwischen Arbeitslosigkeit und schlecht bezahlten Jobs hin und her, die meisten schaffen es nicht, daraus auszubrechen. Miserable Lebensumstände werden perpetuiert und an die Kinder weitergegeben. Deren Chancen, sich weiter zu entwickeln und zu lernen, sind folglich gering. Geld allein sorgt nicht für soziale Gerechtigkeit, es bedarf der Ausweitung gerade der Bildungschancen.

Als Antwort entwarf die Regierung eine Strategie, die sich auf die Situation der Kinder konzentriert. Gelingt es, sie aus Armut und social exclusion herauszuholen, sagt Blair-Berater Patrick Diamond, “könnte der fatale Generationenzyklus am wirkungsvollsten aufgebrochen werden”. Auch sei es leichter, Middle England für Transfers zugunsten Not leidender Kinder zu erwärmen als für Menschen, die als “arbeitsscheue Drückeberger” gelten.

In 20 Jahren soll die Kinderarmut besiegt sein

Ein ureigenes britisches Phänomen ist der hohe Prozentsatz von Teenager-Schwangerschaften und alleinstehenden Müttern. Sure Start bietet diesen Müttern die kostenlose Betreuung ihrer Kinder. Fortan werden, rechtzeitig zur Wahl im Mai 2005, sozial gestaffelte “Babybonds” von 250 bis 500 Pfund für jedes Neugeborene ausgezahlt. Das Geld fließt auf deren Konten, die bis zum Alter von 18 Jahren gesperrt bleiben. Die aufgelaufene Summe soll den Kindern aus sozial schwächeren Schichten zu einem besseren Start verhelfen. Die Kosten hierfür belaufen sich bislang auf eine Milliarde Pfund, doch will Gordon Brown, wenn möglich, die Beträge weiter aufstocken. Auch so genannte Educational Maintenance Allowances werden nun eingeführt: Bleiben 16-Jährige aus sozial schwachen Gruppen bis zum Abitur auf der Schule, erhalten sie pro Woche dreißig bis vierzig Pfund (50 bis 60 Euro) – regelmäßiges Erscheinen vorausgesetzt. Alles dies zusammen dient größerer Chancengleichheit; der Vorteil der Mittelschichtssprösslinge soll, so weit das möglich ist, ausgeglichen werden.

Den working poor, Arbeitskräften mit niedrigem Einkommen, hilft der Staat durch tax credits. Sie erwiesen sich als wirksames Mittel gegen die “Armutsfalle”. Familien (oder unverheirateten Paaren) mit einem Kind, in denen ein Elternteil arbeitet, wird so ein wöchentliches Mindesteinkommen von 220 Pfund (rund 350 Euro) garantiert. Damit Arbeit sich lohnt, wurde auch der Eingangssteuersatz auf zehn Prozent gesenkt und ein Mindeststundenlohn eingeführt. Er liegt jetzt bei umgerechnet knapp acht Euro.

Die Regierung ist ihrem Ziel, binnen 20 Jahren die Kinderarmut zu eliminieren, einen Schritt näher gekommen. Die Zahl der Kinder in Armut wurde nach Angaben der Joseph Rowntree Foundation zwischen 1997 und 2003 um 1,3 Millionen reduziert. Auch leben 1,9 Millionen weniger Rentner am Rande des Existenzminimums. Die britische Beschäftigungsrate liegt derzeit bei 72 Prozent (die in Deutschland bei 65 Prozent), doch bleibt die Zahl der 5,7 Millionen ökonomisch “inaktiven” Haushalte die größte, immer noch ungelöste Herausforderung der Sozialpolitik.

Was Beckham verdient, ist nicht das Problem

Konnten alle Maßnahmen zusammen die Kluft zwischen oben und unten verringern? Die Labour-nahe Denkfabrik Institute for Public Policy Research (IPPR) verneint das. Die Unterschiede seien eher noch größer geworden. Dem widerspricht das Centre for Analysis of Social Exclusion der London School of Economics. Tony Blair und Schatzkanzler Gordon Brown (der das komplexe Geflecht von Steuern, Transfers, Bedürfnistests und Welfare to Work-Initiativen entwarf) halten das ohnehin für die falsche Debatte. Er habe nicht die Absicht, das Gehalt von David Beckham zu reduzieren, erklärte der Premier 2001; vielmehr gehe es darum, die Lage der Bedürftigen zu verbessern. Das Bild verzerren Superreiche wie Beckham, Rowling und jene Topmanager, die schamlose Gehälter kassieren und mit generösen golden handshakes verabschiedet werden, selbst wenn sie gescheitert sind. Doch die jüngsten Statistiken des regierungsunabhängigen Institute for Fiscal Studies, das als Hüter statistischer Integrität gilt, bescheinigen Blair und Brown, eine überraschend deutliche Korrektur der Einkommensverteilung bewerkstelligt zu haben. Von 1997 an sind die Nettoeinkommen der unteren 40 Prozent deutlich gestiegen, die der oberen 40 Prozent gesunken. Die größten Gewinner der Umverteilung sind die unteren 20 Prozent, ihr Einkommen stieg um 8 Prozent, während das der oberen 20 Prozent um 6 Prozent fiel. In den vergangenen vier Jahren hat sich das Tempo der Umverteilung erheblich beschleunigt. Gordon Brown habe, bemerkte der Economist, durch Eingriffe ins Steuer- und Sozialsystem immer stärker “Robin Hood gespielt”.

Warum die Armut ein bewegliches Ziel ist

Labour hat also in acht Jahren einiges an klassisch sozialdemokratischen Zielsetzungen verwirklicht – oftmals unbemerkt von linken und liberalen Kommentatoren. Doch viel bleibt zu tun. Zumal sich Armut als ein moving target erweist, ein Ziel, das sich stets fortbewegt. Neue Armut entsteht, neue Sozialfälle rücken nach – Menschen der afrikanischen und asiatischen Minderheiten des Landes, abgelehnte Asylbewerber, die im Lande untertauchen, illegale Einwanderer oder jene hunderttausende von Menschen mit befristeter Arbeitserlaubnis, die nach Ablauf der Frist mit halblegalem Status ebenfalls im Lande bleiben. Auch wirken jene Faktoren weiter, die Ungleichheit erzeugen: Globale Konkurrenz drückt auf die Löhne, zerstört die Jobs weniger qualifizierter Arbeitskräfte. Viele Call-Center in Schottland oder im Norden des Landes wurden dicht gemacht und nach Indien verlagert.

Auch eine andere progressive Hoffnung dürfte unerfüllt bleiben. Die Labour-Regierung propagiert wie jede andere Mitte-links-Regierung in Europa die “Wissensökonomie”. Jedermann könne durch besere Bildung von ihr profitieren und durch bessere Ausbildung seine Chancen auf Beschäftigung und ein gutes Einkommen erhöhen. Nach dem Willen Londons soll bald schon die Hälfte aller Schulabgänger die Universität besuchen. Eine der Voraussetzungen dafür wurde durch die Einführung der so genannten top up fees geschaffen: Die neuen, noch höheren Studiengebühren haben die bislang erhobenen, sozial gestaffelten Gebühren von maximal 1.000 Pfund pro Jahr abgelöst. Fortan können Universitäten bis zu maximal 3.000 Pfund im Jahr verlangen. Dahinter steht eine Einsicht, der sich viele deutsche Sozialdemokraten derzeit noch verwehren: Nur wenn die Universitäten finanziell besser ausgestattet sind, können sie mit dem Ansturm von noch mehr Studenten fertig werden und ein – dringend erforderliches – qualitativ hohes Niveau bieten. Dem Steuerzahler, der auch unter den neuen Finanzierungsregeln immer noch den Löwenanteil der Studienkosten finanziert, kann nicht noch mehr Steuerlast aufgebürdet werden. So lauten die Argumente, die sich in der Labour Party nur nach heftigem Streit und mit knapper Mehrheit durchgesetzt haben.

Droht ein Überschuss von gut Gebildeten?

Dabei sind die soziale Staffelung der Gebühren sowie die Wiedereinführung von Studienhilfen für Studenten aus ärmeren Haushalten, die das Geld nicht zurückzahlen müssen, weitere Beispiele der Umverteilung zu ungunsten der besser gestellten Mittelschichten, zum Vorteil der Arbeiterhaushalte. Die Mittelschichten waren und sind es schließlich, die am meisten von gebührenfreien Universitäten profitierten, ein Umstand, der von den linken Kritikern der Gebühren offenkundig übersehen wird.

Alle aber scheinen nur langsam den Pferdefuß dieser bildungspolitischen Strategie zu erkennen. So richtig es ist, durch generell höhere Qualifikation die Lücken im Arbeitsmarkt zu schließen und die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Volkswirtschaft zu erhöhen – es existieren auch hier Grenzen, die sogar im boomenden Britannien bereits sichtbar werden. Die bittere Wahrheit ist, dass selbst in Zeiten der Hochkonjunktur nicht einmal alle Universitätsabsolventen mit gut bezahlten Stellen rechnen dürfen. Diese Jobs gibt es in der erhofften Fülle einfach nicht. Es könnte eine Gruppe Unzufriedener heranwachsen, deren Traum von einem gut bezahlten Job nach Abschluss eines Studiums nicht in Erfüllung geht. Das könnte sich als unerwartete Achillesferse einer sozialdemokratischen Bildungspolitik erweisen, die dazu tendiert, die Akademisierung auch bislang “handfester” Berufe voranzutreiben. Im medizinischen Bereich in Großbritannien führen die Akademisierung der Ausbildung und das Pflichtfach Soziologie dazu, dass weniger Frauen den Beruf der Krankenschwester ergreifen – obwohl sich viele von ihnen im praktischen Umgang mit Patienten und pflegebedürftigen Alten als handfest und einfühlsam erweisen könnten.

Auch anderswo werden Grenzen sichtbar, etwa bei der Subventionierung der working poor, durch welche die Arbeitslosigkeit in Großbritannien auf 4,7 Prozent gedrückt werden konnte. Die staatlichen Zuweisungen erhöhten die Lebensqualität für mehr als eine Million Familien; doch die Transfers sind teuer und auf Dauer schwerlich zu verkraften – erst recht, wenn das britische Wirtschaftswunder der vergangenen zehn Jahre enden sollte. Großbritannien ist laut OECD in der vergangenen Dekade um zehn Prozent reicher geworden und hat Frankreich an Wirtschaftskraft überflügelt. Brüssel bescheinigte Großbritannien, sein Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung liege nun über dem Deutschlands. Das Land, einst als “kranker Mann” Europas verschrien, konnte auch dank der bitteren Medizin der ThatcherJahre genesen. Blair und Brown, im Dauerkonflikt vereint, arbeiteten erfolgreich daran, das neue Stereotyp des “hartherzigen Angelsachsen” zu entkräften.

Möglich wurde das vor allem, weil die Labour-Regierung die wohlhabenderen Mittelschichten zur Kasse bat. Bislang akzeptierten diese die Umverteilung zu ihren Lasten, die de facto um ein Prozent gestiegene Einkommenssteuer, die Erodierung der in acht Jahren nicht angehobenen steuerlichen Freibeträge, nicht zuletzt die sprunghaft gestiegene Council Tax, die von Gemeinden und Städten erhoben wird. Stetiges Wachstum und steigende Hauspreise, ebenso wichtig für den Gemütszustand einer Nation von Eigenheimbesitzern wie die historisch niedrigen Zinsen, die massiven Ausgaben für öffentliche Dienstleistungen sowie eine stetig steigende Beschäftigung schufen ein gesellschaftliches Wohlgefühl.

Höhere Abgaben an den Staat wurden ohne allzu großes Murren hingenommen. Im Umfeld von Labour wie in der Partei selbst ließ das die Hoffnung aufkeimen, man habe womöglich einen Wertewandel eingeleitet. Die Wähler seien nicht mehr anfällig für das konservative Versprechen, Steuern zu senken – eine Präferenz, der auch Blair und Brown Tribut gezollt hatten, als sie die Wahlkämpfe von 1997 und 2001 mit dem Versprechen bestritten, die direkten Steuern nicht zu erhöhen. Nun, da die Erfolge höherer Ausgaben für Bildung und Gesundheit sichtbar würden, sei die Zeit gekommen, ein offenes Bekenntnis zu einer höheren Staatsquote abzulegen. Dafür plädiert etwa die Fabian Society. Öffentlich die Absicht zu bekunden, in der nächsten Amtsperiode einer Labour-Regierung die Steuern zu erhöhen, hätte zumindest einen Vorteil: Es könnte die Entscheidungen erleichtern, die nach dem erhofften dritten Wahlsieg tatsächlich anstehen werden.

Die goldenen Regeln des Gordon Brown

Gordon Browns “goldene Regeln” für die Staatsfinanzen würden nach heutigem Stand in zwei Jahren ohnehin höhere Steuern verlangen, weil ein Loch von 13 Milliarden Pfund zu stopfen ist, sofern die staatlichen Ausgaben für Bildungssektor, Gesundheitswesen und Infrastruktur wie geplant weiterlaufen, von weiterer Umverteilung ganz zu schweigen. Die Tories haben darauf mit einer Doppelstrategie reagiert: Bei den Ausgaben für Gesundheit und Bildung wollen sie Labours Kurs weiter verfolgen. Das könnte Labour als beachtlichen Erfolg werten, musste die Opposition doch ihre Agenda übernehmen. Doch zugleich wollen die Konservativen durch Einsparungen anderswo im Etat und durch Stellenabbau im öffentlichen Dienst genug Mittel auftreiben, um vier Milliarden Pfund an die Steuerzahler zurückzugeben, verbunden mit dem Hinweis, weitere Senkungen der Steuern würden, wenn irgend möglich und realisierbar, bald schon folgen.

Das ewige Dilemma kehrt zurück

Hier kündigt sich die Wiederkehr eines ewigen linken Dilemmas an: Entweder die Labour-Regierung geht weiter auf dem Pfad der Umverteilung, um einen immer höheren Grad sozialer Gerechtigkeit zu erreichen. Das könnte dazu führen, dass sie die Fähigkeit verliert, eine Mehrheit unter Einschluss der breiten Mittelschichten zu gewinnen. Die Wähler selbst könnten vereiteln, dass Labour die Steuerschraube weiter anzieht. Dann bliebe das Projekt, mehr soziale Gerechtigkeit zu schaffen, unerfüllt. Oder Labour gibt zu erkennen, dass sich der weitere Zuwachs an sozialer Gerechtigkeit und die damit erforderliche Umverteilung nicht realisieren lassen. Das könnte zu bitteren Konflikten zwischen “Idealisten” und “Realisten”, Traditionalisten und Revisionisten führen. Historisch betrachtet haben die Revisionisten stets gesiegt, wie die Geschichte der Sozialdemokratie von Bernstein über Godesberg bis zu Drittem Weg und Neuer Mitte zeigt. Setzten sich die Traditionalisten durch, wurde das stets mit dem Verlust von Mehrheitsfähigkeit und Macht bezahlt. Doch ändert auch diese Einsicht nichts daran, dass sozialdemokratische Regierungen irgendwann unweigerlich mit diesem Dilemma konfrontiert werden. Die britische Labour Party ist der Stunde der Wahrheit nahe gekommen. Irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft wird auch die deutsche Sozialdemokratie vor dieser Entscheidung stehen.

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