Chancen für alle durch Elite-Universitäten

Wer soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit will, tritt typischerweise auch für ein egalitäres Hochschulsystem ein. Das ist falsch. Gerade wenn der Weg nach oben allen offen stehen soll, brauchen wir ausdifferenzierte Universitäten

Seit kurzem wird in deutschen Feuilletons und Sachbuchabteilungen eine intensive Eliten-Debatte geführt: Was sind Eliten? Wer gehört dazu? Was zeichnet Eliten aus? Woraus leiten sie ihren Führungsanspruch ab? Brauchen wir Eliten oder müssen wir sie abschaffen? „Elite“ zu sein wird wieder chic, auch an den Universitäten: Die Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder bricht mit dem alten Prinzip der formalen Gleichwertigkeit aller Universitäten und führt eine Differenzierung in Elite-, Leuchtturm-, oder Exzellenz-Universitäten auf der einen und schnöde Massenuniversitäten auf der anderen Seite ein.

Auf den ersten Blick passt das gut ins Bild: Als Folge der zunehmenden Elitisierung unserer Gesellschaft muss auch der Zugang zur Bildung elitisiert werden. Aus dieser Perspektive sind Elite-Universitäten nur ein weiteres Puzzle-Stück in der Geschichte zunehmender sozialer Ungleichheit und schwindender Chancengerechtigkeit: Generation Praktikum, Hartz IV – und jetzt auch noch Elite-Universitäten!

Ich möchte eine Gegenthese vertreten: Ein leistungsfähiges und leistungsgerechtes Bildungssystem ist der Schlüssel zur Vermeidung zunehmender sozialer Ungleichheit; und die Ausdifferenzierung der Hochschullandschaft stellt ein Element dar, um ein leistungs- und wettbewerbsfähiges Bildungssystem zu schaffen. Dieser Zusammenhang besteht jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen. So kann ein ausdifferenziertes Hochschul- und Ausbildungssystem nur dann einen positiven Beitrag zur Chancengleichheit leisten, wenn im Sekundarschulbereich Bildungsungleichheiten abgebaut, und nicht – wie heute – sogar noch verstärkt werden.

In ihrem lesenswerten Buch Gestatten: Elite – Auf den Spuren der Mächtigen von morgen zeichnet Julia Friedrichs ein Porträt deutscher Eliten und Möchtegern-Eliten und zeigt, wie wichtig Bildung für den Zugang zu Leitungspositionen ist.1 Die entscheidende Frage jedoch diskutiert Friedrichs nicht systematisch: Wie steht es um den Zusammenhang zwischen Leistung und Elitenbildung? Anders gesagt: Kommen die Absolventen vermeintlicher Elite-Universitäten deswegen in bessere Positionen, weil sie anderen Kandidaten in einem offenen Leistungswettbewerb tatsächlich überlegen sind? Oder ist die Elite-Institution selbst schon eine Folge der Elitisierung der Gesellschaft, quasi ein Versuch der etablierten Eliten, mittels Vorfeldinstitutionen im Bildungsbereich die Aufteilung in Elite und Masse schon früh zu verfestigen?

Wie viel leisten die Leistungseliten?

Die Elitesoziologen im Nachkriegsdeutschland wie Ralf Dahrendorf sprachen in diesem Zusammenhang von „Funktionseliten“: Demnach sollten die Spitzenpositionen in den gesellschaftlichen Funktionsbereichen (Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Militär) von den am besten Geeigneten besetzt werden, wobei der Zugang zu diesen Spitzenpositionen vergleichsweise offen zu gestalten sei. Das Gegenstück zu Funktionseliten sind Machteliten, die sich durch faktische Machtaneignung und weniger durch tatsächliche Leistung auszeichnen.

Der Soziologe Michael Hartmann spricht in diesem Zusammenhang vom „Mythos der Leistungseliten“.2 In seiner umfangreichen Studie über die deutschen Wirtschaftseliten hat er nachgewiesen, dass selbst für hochqualifizierte Fachkräfte nicht allein die tatsächlich erbrachten Leistungen oder Qualifikationen ausschlaggebend sind, sondern vor allem „weiche“ Faktoren wie zum Beispiel der passende Habitus, unterschwellig kommunizierte Benimmcodes oder ganz einfach persönliche Netzwerke. Das heißt: Selbst wenn es ein Facharbeiterkind geschafft hat, über die verschiedenen Hürden des deutschen Bildungssystems zu springen, entscheiden in Deutschland in höherem Maße als in anderen Ländern Restbestände eines klassenbezogenen, machtelitären Bildungs- und Beschäftigungssystems über den Aufstieg in die höchsten Führungsetagen.

Es ist jedoch falsch, daraus eine einfache Parallele zu den Elite-Universitäten abzuleiten, wie Michael Hartmann dies in Kommentaren zur Exzellenzinitiative der Bundesregierung getan hat. Im Gegenteil kann ein leistungsfähiges, öffentliches, aber auch ausdifferenziertes Hochschulsystem dazu beitragen, dass Spitzenpositionen nicht mehr aufgrund von sekundären Kriterien wie Habitus oder persönlichen Netzwerken vergeben werden, sondern tatsächlich aufgrund von Leistung.

Die Ungleichheit der Talente und Chancen

Der Ausgangspunkt für diese These ist die Beobachtung, dass in einer arbeitsteiligen und funktional differenzierten Gesellschaft wie der deutschen zwangsläufig immer eine Hierarchisierung und Schichtung von Bildungs-, Beschäftigungs- und Lebenschancen zu finden ist. Nicht jeder Job ist gleich, und nicht jeder hat die gleichen Begabungen. Die entscheidende Frage ist, wie Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik mit diesen inhärenten Ungleichheiten der Talente und der Chancen umgehen.

Die klassische Antwort des deutschen Bildungssystems darauf war, die Schüler möglichst früh auf die „ihren Fähigkeiten entsprechenden“ Bildungswege zu schicken (Hauptschule, Realschule, Gymnasium). Die Selektionseffekte eines solchen Bildungssystems sind über lange Zeit dadurch kaschiert worden, dass mit dem dualen Ausbildungssystem eine gangbare Alternative zur Hochschulbildung zur Verfügung stand, die Zugang zu sicheren Arbeitsplätzen und anständigen Einkommen eröffnete. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das gegliederte Schulsystem in Deutschland langfristig Bildungsungleichheiten nicht abbaut, sondern sie sogar verstärkt, wie die OECD den Deutschen bereits wiederholt bescheinigt hat.

Außerdem kann das duale Ausbildungssystem nicht mehr in gleicher Weise den Zugang zu Beschäftigung und Einkommen sicherstellen wie noch in den siebziger Jahren. Immer längere Warteschleifen, fehlende Ausbildungsplätze und erschwerte Übergänge zwischen Ausbildung und Beschäftigung belegen dies deutlich. Weitere Folgen der sinkenden Attraktivität des dualen Ausbildungssystems sind die steigende Zahl der Studierenden und die Überlastung der Hochschulen. Auch hier gibt es – Stichwort „Generation Praktikum“ – Diskussionen über sich verschlechternde Übergänge vom Studium in den Beruf.

Ein wichtiges Puzzleteil zur Erklärung dieser erschwerten Übergänge ist die Tatsache, dass Bildungsabschlüsse für einstellungswillige Arbeitgeber wichtige Signale aussenden. Die Bildungs- und Qualifikationssysteme unterschiedlicher Länder unterscheiden sich sehr stark darin, wie diese Signale aussehen und in welcher Intensität sie vom Bildungssystem ausgesendet werden.

Von der guten Uni direkt in den guten Job

In den Vereinigten Staaten beispielsweise ist das Hochschulsystem sehr stark ausdifferenziert, es gibt unter den Bildungsinstitutionen eine eindeutige Hierarchie. Der amerikanische Signalmechanismus funktioniert so, dass die eigentlichen Studieninhalte weniger wichtig sind als die Universität, die der betreffende Kandidat besucht hat. Die Stellung dieser Universität im Ranking vermittelt dem Arbeitgeber eine ziemlich genaue Einschätzung über die generelle Leistungsfähigkeit des Kandidaten, denn die Universitäten betreiben unter den Studienplatzbewerbern eine rigorose Auswahl. Wer es auf eine gute Universität geschafft hat, findet im Anschluss leicht einen Job, unabhängig vom Studienfach.

Hingegen zeichnet sich das deutsche Qualifikationssystem dadurch aus, dass die eigentlichen Inhalte der Bildung wichtiger sind als die Institution, in der sie vermittelt werden, weil unterstellt wird, dass die Abschlüsse von vergleichbarer Qualität sind. Als Begleiterscheinung weisen die Bildungsabschlüsse sowohl im Hochschulbereich als auch im Ausbildungssystem einen hohen Grad an Spezialisierung auf. Deshalb erwartet der Arbeitgeber, dass der neu Eingestellte unmittelbar und hundertprozentig produktiv einsetzbar ist, während in angelsächsischen Ländern auf die schulische Ausbildung meist eine Phase der betriebsinternen Weiterbildung folgt.

Beide Systeme haben ihre Vor- und Nachteile, und hier soll nicht für eine undifferenzierte Übernahme des amerikanischen Hochschulsystems plädiert werden. Mein zentraler Punkt ist, dass ein ausdifferenziertes Hochschulsystem die Möglichkeit bietet, Beschäftigungschancen stärker an Bildungsleistungen zu koppeln statt an sekundäre Kriterien.

Mechatroniker oder Friseur?

Im Bereich der beruflichen Ausbildung gab und gibt es in Deutschland eigentlich einen Signalmechanismus, der beide Elemente – die vermittelten Inhalte und den Ort der Vermittlung – kombiniert. Das heißt, es macht einen Unterschied aus, was man lernt (Mechatroniker oder Friseur), und es bedeutet einen Unterschied, wo man lernt (bei Daimler oder beim Meister um die Ecke). Auch hier besteht eine klare Rangordnung: Eine Ausbildung im industriellen Großbetrieb steht in der Hierarchie höher als eine Ausbildung im Handwerksbetrieb. Dieser klare Signalmechanismus hat ebenfalls dazu beigetragen, dass die Übergänge von der beruflichen Ausbildung in die Beschäftigung hierzulande lange sehr viel einfacher und besser funktionierten als in anderen Ländern.

In der deutschen Hochschulbildung dagegen existieren keine vergleichbar transparenten Sortiermechanismen. Trotz der Manie des Rankings herrschte in unserem undifferenzierten Hochschulsystem die Maxime, jeder Abschluss sei gleichwertig. Auf den ersten Blick scheint diese Prämisse ein vorzügliches Instrument der Chancengerechtigkeit zu sein, schließlich ist dann der Studienort für die beruflichen Aussichten egal, und es kommt letztlich auf die Bildungsinhalte, die Leistung an.

Aber so ist es nicht, denn die Bildungsexpansion hat die Koordinaten der Hochschulbildung grundsätzlich und nachhaltig verändert. Zu einer Zeit, in der nur die absolute Minderheit an einer Universität studierte, hatte ein Studienabschluss schon für sich genommen genug Signalwirkung. Im Zuge der Bildungsexpansion und der Noteninflation wird diese Signalwirkung aber immer weiter verwässert, denn der Arbeitgeber sieht sich einer Vielzahl von Bewerbern mit gleichwertigen Abschlüssen gegenüber. So ist die Gefahr groß, dass nicht mehr die Bildungsabschlüsse selbst, sondern sekundäre Kriterien wie Arbeitserfahrung, Praktika, aber eben auch der Habitus und persönliche Netzwerke entscheiden.

Oxford oder deutsche Massenuni?

Damit komme ich wieder zurück auf die Ausgangsbeobachtung, dass in einer arbeitsteiligen Gesellschaft grundsätzlich eine Hierarchie von Beschäftigungs- und Lebenschancen herrscht, mit der die Bildungspolitik umgehen muss. Ein vermeintlich egalitäres Hochschulsystem, das jedem ähnliche Bildungsabschlüsse vermittelt, wird es nicht schaffen, die machtelitären Selektionsmechanismen effektiv zu überwinden. Eine Ausdifferenzierung des Hochschulwesens hingegen könnte und müsste dazu beitragen, dass das Bildungssystem zum zentralen Mechanismus in der Zuordnung von Bildungs- zu Beschäftigungschancen wird.

Hinzu kommt: Die deutschen Hochschulen stehen nicht mehr isoliert da, sondern sind in ein europäisches und weltweites Hochschulsystem eingebunden. So führt die chronische Unterfinanzierung und fehlende Beschäftigungssicherheit in Deutschland zu einem – mittlerweile belegten – brain drain der besten Forscher ins Ausland. Vor allem aber geht es um die Studierenden: Die gut situierten deutschen Eltern, die die hohen Studiengebühren und Lebenshaltungskosten in Cambridge oder Oxford, St. Gallen, Zürich oder Boston tragen können, schicken ihre Kinder zum Studium direkt ins Ausland und nicht an die überfüllten und egalitären deutschen Massenuniversitäten. Dadurch werden die Selektionseffekte noch verstärkt, denn das Vollstudium an einer echten Elite-Universität im Ausland sendet wahrhaftig deutliche Signale aus.

Die positiven Effekte der Ausdifferenzierung

Schließlich kann die Ausdifferenzierung der Bildungslandschaft den jungen Leuten auch bei der Bildungsentscheidung helfen. Die im Bildungssystem Tätigen mögen die omnipräsenten Rankings verteufeln, so manchem unwissenden Studienanfänger hingegen dürften sie sehr hilfreich sein. Fest steht: Der Informationsvorsprung von Kindern aus oberen Schichten ist ein wesentlicher Grund dafür, dass sich soziale Bildungsungleichheiten über Generationen hinweg reproduzieren. Ein ausdifferenziertes, transparenteres Hochschulsystem ermöglicht auch den Kindern aus bildungsfernen Schichten eine informierte und ausgewogene Auswahl.

Damit ein ausdifferenziertes Hochschulsystem aber wirklich positive Effekte hat, müssen drei Bedingungen erfüllt sein:

Erstens muss die Reform des Hochschulsystems mit einer Reform des Sekundarschulwesens einhergehen. Das dreigliedrige Schulsystem muss überwunden, der Zugang zu Hochschulen weiter geöffnet werden, zum Beispiel durch die weitere Öffnung des Hochschulzugangs für beruflich Gebildete. Die Ausdifferenzierung des Hochschulsystems kann die Chancengerechtigkeit nur dann steigern, wenn die Ausdifferenzierung des Sekundarschulwesens überwunden wird.

Zweitens muss das Hochschulsystem im Kern weiter öffentlich und allgemein zugänglich bleiben. Das ist der große, entscheidende Unterschied zwischen privaten, amerikanischen Elite-Institutionen und deutschen Exzellenz-Universitäten. Die bisherige chronische Unterfinanzierung der Hochschulen hat in Deutschland bereits dazu geführt, dass sich private Alternativen etablieren, die im Unterschied zu öffentlichen Institutionen durch hohe Studiengebühren und andere Selektionsmechanismen eine wirksame Schließung betreiben können, die nicht zwangsläufig auf tatsächlicher Leistung basiert. Sind die leistungsfähigsten Universitäten eines Landes aber öffentliche Einrichtungen, dann ist der leistungsgerechte Zugang eher garantiert, und diese Institutionen können zu einem besseren Instrument für den sozialen Aufstieg werden.

Die Bildung allein kann’s nicht richten

Drittens sind Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik – und nicht nur die Bildungspolitik – weiter gefordert, grobe soziale Ungleichheiten zu vermeiden. Die Bildungspolitik hat vor allem dafür zu sorgen, dass jeder Bildungsteilnehmer die individuell beste Förderung erhält und aufgrund seiner Bildungsleistungen bestmögliche Beschäftigungsmöglichkeiten bekommt. Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik können sich nicht durch den Verweis „Die Bildung soll’s richten!“ aus der Verantwortung ihres Kerngeschäftes befreien, nämlich der Vermeidung sozialer Ungerechtigkeit.

Anmerkungen
1 Julia Friedrichs, Gestatten: Elite – Auf den Spuren der Mächtigen von morgen, Hamburg 2008
2 Michael Hartmann, Der Mythos von den Leistungseliten: Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft, Frankfurt/Main 2002

zurück zur Ausgabe