Blair ist (bald) tot - der Blairismus lebt

Hartnäckig hält sich in Kontinentaleuropa die Auffassung, als Premierminister werde Gordon Brown die Labour Party zurück nach links bugsieren. Nichts deutet darauf hin. Tatsächlich wird Brown alles dafür tun, das Erfolgsmodell New Labour fortzusetzen

Am Ende siegte bei Labour doch die Vernunft. Die Medien hatten für den Parteitag in Manchester im September eine giftige Personaldebatte vorausgesagt. Dem linken Flügel hatte New Labour sowieso von Beginn an nicht gepasst. Und frustrierte Anhänger von Schatzkanzler Gordon Brown hatten Ende des Sommers ungeduldig mit den Füßen gescharrt, unterstützt von ängstlichen Gemütern, die sich von Umfragen verunsichern ließen, in denen David Camerons Tories über einige Monate hinweg vorn lagen. Vorübergehend sah es tatsächlich danach aus, als würde die Partei in eine chaotische Phase abgleiten. Stattdessen aber schloss Labour auf dem Parteitag die Reihen und entschied sich für den „geordneten Übergang“ von Blair zu dessen Nachfolger.

Der wird wohl Gordon Brown heißen. Allerdings kann niemand ganz ausschließen, dass bis zum Sommer 2007, wenn Blair sich endgültig aus 10 Downing Street verabschieden wird, nicht doch noch ein „Moment des Wahnsinns“ das schöne Arrangement hinwegfegen wird. Aber dieses Szenario ist unwahrscheinlich; Labour kennt die Folgen eines solchen Verhaltens aus bitterer Erfahrung.

Mit Tony Blair verliert Labour einen Vorsitzenden mit Starqualitäten, während die Zweifel an Gordon Browns Fähigkeiten nicht völlig verschwunden sind. Doch Blair selbst hat dafür gesorgt, dass seine Zeit schneller abgelaufen ist als ursprünglich geplant. Zwar war seine Ankündigung im Jahr 2004, er werde nicht noch einmal zur Wahl antreten, keineswegs „töricht“, wie Anhänger und Widersacher des Premiers in seltener Eintracht behaupten. Damals stand Blair wegen des Irak-Kriegs unter enormem Druck; im Frühjahr 2004 hatte er ernsthaft den Rücktritt erwogen. Seine Zukunftspläne legte er offen, um die eigene Position vor der Parlamentswahl zu stabilisieren. Anderenfalls wäre er von den Medien unablässig gefragt worden, ob er „weiter und weiter“ machen wolle wie einst Margaret Thatcher. Er steckte in einer klassischen „No win“-Situation. Aber Blairs Rechnung ging nur bedingt auf. Das Verfallsdatum von Politikern scheint heute ohnehin schneller erreicht zu werden als früher, was in Großbritannien auch an der immer hektischeren Mediendemokratie liegt, die sich seit den neunziger Jahren herausgebildet hat. Sie macht das Regieren nicht eben leichter.

Der „unerfüllte“ Premierminister

Wird Blair die Politik auch nach seinem Abschied weiter beeinflussen? Ganz bestimmt: Sein Dritter Weg, gerne bespöttelt und heute etwas bescheidener als „Progressives Regieren“ bezeichnet, passte ideal ins postideologische Zeitalter. Blair mag ein „unerfüllter Premier“ geblieben sein, wie der Kommentator Peter Riddell meint, weil seine Bilanz nicht den Möglichkeiten entspreche, die er gehabt habe. Aber zahlreiche Nachahmer dürften dafür sorgen, dass sein Weg weiter beschritten wird: Blair ist (bald) tot, es lebe der Blairismus.

Zu seinen Bewunderern zählt Ségolène Royal, die gute Chancen hat, Präsidentschaftskandidatin der Sozialisten in Frankreich zu werden. Sie preist Blair in den höchsten Tönen und empfiehlt der eigenen Partei die Blairschen Rezepte. In Großbritannien selbst versichert Gordon Brown, den Reformkurs von New Labour weiterzuführen. Denn Brown weiß, dass allein dieser Weg einer Partei links von der Mitte Erfolg verheißt. Er war einer der Architekten von New Labour und der Strategie, sozialdemokratische Werte ohne Verstaatlichung und Lenkung durchzusetzen. Diese Philosophie war somit die Antithese zum Etatismus der alten Labourparty. Sie besitzt weiterhin Gültigkeit. Auch wenn sich in der Praxis dieser Regierung oft genug erwies, dass der Teufel im Detail steckt.

Gerechtigkeit durch wirtschaftliche Effizienz

Wirtschaftlich und sozialpolitisch war die Blair-Regierung erfolgreich. Die gute wirtschaftliche Verfassung des Landes dürfte manchen deutschen Sozialdemokraten überraschen, der aufgrund der hohen Verschuldung der britischen Verbraucher und des überhitzten Immobilienmarktes davon überzeugt war, bei der wirtschaftlichen Erholung des Landes handele es sich um eine „Blase“. Nein, die OECD stellte Großbritannien kürzlich ein hervorragendes Zeugnis aus und bescheinigte dem Land eine „Goldilocks“-Ökonomie. Gemeint ist ein Zustand, bei dem die Wirtschaft gerade richtig tickt, nicht zu heiß und nicht zu kalt, so dass die Regierung weder dämpfende noch belebende Maßnahmen ergreifen muss. Prognosen sagen für die kommenden Jahre stetiges Wachstum voraus.

Es war das erklärte Ziel von New Labour, ökonomische Effizienz, flexible Arbeitsmärkte und soziale Gerechtigkeit zu kombinieren. Die Partei bejahte das Marktprinzip uneingeschränkt – und gestand damit ein, dass die Rechte die ökonomische Debatte gewonnen hat. Dem Staat wies sie eine „enabling role“, eine „ermöglichende“ Rolle zu, was Labour aber nicht daran hinderte, in den vergangenen neun Jahren knapp 700.000 neue Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst zu schaffen. Die Staatsquote am Bruttosozialprodukt ist inzwischen auf knapp 41 Prozent gestiegen. Hält der Trend an, wird sie in zwei Jahren 42 Prozent erreichen und damit über der durchschnittlichen Staatsquote der Eurozone liegen.

Zugleich verteilte die Labourregierung mittels Mindestlohn und negativer Einkommenssteuer für Geringverdiener Geld um – und linderte so die Ungleichgewichte eines ungezügelten Kapitalismus. Künftig scheint mehr davon nötig; weniger klar ist, wie das ohne die Rezepte gehen soll, die Sozialdemokratische Parteien zu Recht abgelegt haben. Auch die Diskussion über die tiefer gewordene Kluft zwischen Oben und Unten wird weitergehen. Angesichts der Zahlen aus Deutschland und anderen kontinentalen Volkswirtschaften des Kontinents muss dabei jedoch klar sein, dass es sich um kein spezifisch angelsächsisches Problem handelt.

Aber Labour ist längst nicht alles gelungen. Die vielen zusätzlichen Milliarden für Gesundheit und Erziehung sorgten zwar für bessere Hospitäler und Schulen, erzielten jedoch nicht immer den Ausgaben entsprechende Wirkungen. Zu viele Stellen für Bürokraten entstanden, allen voran im Gesundheitswesen, was wahrscheinlich mit der Konstruktion dieses in der Welt einmaligen zentralistischen Kolosses zu tun hat.

Der Irrweg des Mikromanagements

In den Ministerien häuften sich Managementfehler. Milliarden flossen in Projekte der Informationstechnologie, die nicht funktionieren, während sich IT-Berater und Computerfirmen eine goldene Nase verdienen. Hier offenbart sich die unkritische Begeisterung einer progressiven Regierung über alle Verheißungen des technologischen Fortschritts. Auch erlag Labour allzu oft der Versuchung der Feinsteuerung und des Mikromanagements. In der Erziehungspolitik und im Strafvollzug scheiterte New Labour teilweise an Ministerialbürokraten und nachgeordneten Institutionen, die von alten Rezepten nicht lassen wollen. Pannen und Peinlichkeiten, besonders im Innenministerium von John Reid, waren teilweise auf einen „kulturellen“ Widerstand von Bewährungshelfern zurückzuführen. Beispielsweise setzten sie einen Gewalttäter auf freien Fuß, weil sein Menschenrecht auf freien Ausgang wichtiger erschien als der Schutz der Öffentlichkeit. Kurz darauf beging er einen Mord.

Seit gut einem Jahr steigt die Arbeitslosigkeit langsam an, obwohl die Beschäftigungsquote mit fast 80 Prozent einen neuen Höchststand erreicht hat. Ältere Arbeitnehmer bleiben länger in Beschäftigung, auch haben mehr alleinstehende Mütter und Behinderte Arbeit als früher. Der scheinbare Widerpruch zwischen steigender Arbeitslosigkeit und einer höheren Beschäftigungsrate lässt sich mit den vielen Einwanderern erklären, die in den vergangenen Jahren ins Land geströmt sind. Gordon Brown hat diese Politik konzipiert: Er sorgte für einen flexiblen Arbeitsmarkt, eine scharfe Wettbewerbspolitik, eine hohe Einwanderungsrate – und damit für billige Arbeitskräfte. Mit dieser Strategie blieben die Löhne ebenso niedrig wie die Inflation. Das ergab ökonomisch Sinn, die Wirtschaft begrüßte es, und die linksliberalen Schichten wie die meisten Medien unterstützten diese Politik. Nun zeigt sich, dass massenhafte Immigration auch unerfreuliche Nebenwirkungen haben kann: Negativ wirkt sie sich vor allem für nicht- oder geringqualifizierte Arbeitnehmer aus, die bislang überwiegend Labour wählten und nun nicht mehr genug Arbeit finden.

Australien als mahnendes Beispiel

Wie wird Labour unter Gordon Brown regieren? Es wird – anders als manche glauben – keine sanfte Kursveränderung nach links geben. Denn Labour treibt die Angst um. Brown und Blair fürchten, Labour könnte das gleiche Schicksal erleiden wie die australischen Genossen Ende der neunziger Jahre. Dort hatte eine Labourregierung unter Premierminister Paul Keating die Strategie von New Labour vorexerziert: Übernahme der Wirtschaftspolitik der Konservativen, Deregulierung, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Privatisierung flankiert mit Umverteilung; das alles kombiniert mit einer Politik, die den kulturellen und sozialen Trends der Linken folgt: Multikulturalismus, Schwulenrechte, umfassende Antidiskriminierung, ein Ja zur Einwanderung.

In Australien erwies sich diese Kombination als fatal. Trotz wirtschaftlicher Erfolge, stetigen Wachstums, hoher Beschäftigungsrate und niedriger Inflation verlor die australische Labourparty die Macht – und drei Wahlen hintereinander. Derzeit brauen sich in Großbritannien Ressentiments und Ängste zu einer gefährlichen Mixtur zusammen: Die als unkontrolliert wahrgenommene Einwanderung verändert ganze Stadtteile und drückt die Löhne; der extremistische Islam breitet sich aus und versucht, Grenzen zu seinen Gunsten zu verschieben, etwa mit Forderungen nach Zensur; die Gewaltkriminalität greift um sich. So bekommen die Briten das Gefühl, der Multikulturalismus gehe zulasten der Mehrheitsgesellschaft. Nicht von ungefähr rangieren die Themen Einwanderung und Islam auf der Liste der Wählerprioritäten ganz oben.

Labournahe Denkfabriken und Politikberater befürchten, die Partei könne einem kulturellen „Backlash“ von unten und von rechts zum Opfer fallen. In manchen städtischen Wahlkreisen verzeichnete die rechtsextreme British National Party bereits erhebliche Zugewinne zulasten Labours. Daher hat sich die Regierung entschlossen, das Ruder hart herumzureißen. Der Kurswechsel beim Thema Einwanderung war ohnehin überfällig, wurde aber erleichtert durch die wahlpolitischen Notwendigkeiten.

Integration statt Multikulturalismus

Dass Jack Straw jüngst eine Debatte über die Vollverschleierung islamischer Frauen anzettelte, kam also nicht von ungefähr. Der Schleier, so erklärte auch Tony Blair, sei ein Zeichen der Abschottung und darüber müsse man diskutieren. Damit brachte er Labours neue Überzeugung zum Ausdruck, Großbritannien habe bislang nicht die richtige Balance gefunden zwischen Toleranz gegenüber kultureller Vielfalt und der Notwendigkeit der Integration von Minderheiten. Offensichtlich hat die Partei begriffen, dass es ein schwerer Fehler war, die Trennung der muslimischen Bevölkerungsgruppe von der Mehrheitsgesellschaft zu tolerieren, wenn nicht gar im Namen des Multikulturalismus zu ermutigen.

So hatte die Regierung den Muslimrat von Großbritannien bislang als bevorzugten Dialogpartner behandelt. Nun will die Ministerin für „Community“, Ruth Kelly, die Fördergelder umschichten und sie denjenigen muslimischen Organisationen zukommen lassen, die gegen die Radikalisierung junger Muslime aktiv werden. Auch unterstützten Tony Blair und einige Minister den Schuldirektor, der eine muslimische Lehrerin entließ, die ihren Schleier vor der Klasse nicht abnehmen wollte.

Lange war der Multikulturalismus in Großbritannien eine unumstrittene Doktrin. Nun erklärte ihn die Regierung hochoffiziell für gescheitert. Er habe die Ghettoisierung verschärft und Integration verhindert. Zudem beschädige er das Ideal der Gleichheit vor dem Recht. Eine Fülle von Antidiskriminierungsgesetzen hat zu einer Situation geführt, die der Think Tank Civitas mit George Orwells Farm der Tiere verglich: „Alle Tiere sind gleich, aber einige sind gleicher als andere.“

„Schlimmer als Blair“, stöhnen die Linken

Für die britische Linke ist Integration traditionell ein heikles Thema. Die Gründe dafür sind postkoloniale Schuldkomplexe, die Ablehnung des Anspruches einer „Mehrheitskultur“ und das Gefühl, das Konzept nationaler Identität sei mit dem Streben nach einer gerechten Gesellschaft schwer zu vereinbaren. Doch diese Stimmen verlieren bei Labour ständig an Gewicht. John Denham, der Vorsitzende des Innenausschusses im Unterhaus, brachte es so auf den Punkt: „Eine Gesellschaft mit einem gering entwickelten Gefühl für eine zusammenhaltende Identität wird es schwerer fallen, die kollektiven Antworten zu finden, die notwendig sind, um Benachteiligung anzugehen, den Sozialstaat zu verteidigen und Sicherheit zu garantieren.“

Laut Umfragen sind zwei Drittel der Briten für eine verschärfte Einwanderungspolitik. Dem trägt die Regierung Rechnung. Bei der ersten Etappe der EU-Erweiterung gehörte Großbritannien zu den wenigen Ländern, die ihre Arbeitsmärkte für die Osteuropäer öffneten. Damals hatte die Regierung vorausgesagt, maximal 15.000 Menschen pro Jahr würden aus den neuen Beitrittsländern nach Großbritannien aufbrechen. Tatsächlich drängten in nur zwei Jahren über 600.000 Zuwanderer aus den Beitrittsstaaten auf den britischen Arbeitsmarkt; inoffizielle Schätzungen des Innenministeriums liegen sogar bei bis zu einer Million. Deshalb wird den Rumänen und Bulgaren, die im Jahr 2007 EU-Bürger werden sollen, der Weg auf die Insel vorerst versperrt bleiben. Gordon Brown hielt jüngst eine knallharte Rede zu Terrorismus und Innerer Sicherheit, die das linksliberale Milieu aufstöhnen ließ. „Schlimmer als Blair“, schrieb eine Kolumnistin des linksliberalen Guardian, plötzlich sei Gordon Brown als Premierminister eine „furchteinflößende Aussicht“.

Genau dieses Milieu umwirbt Tory-Chef David Cameron derzeit mit seinem grün angehauchten Schmusekurs. Er will das Image der Tories verändern und trägt damit dem Sieg der Linken auf kulturellem und sozialem Terrain Rechnung. Wenn es opportun wird, eine Politik von Nation, Identität und Sicherheit zu verfolgen, dürften die Tories jedoch allemal wendig genug sein, um die neuen kulturellen Ängste aufzugreifen. Moderne Parteien reisen mit leichtem ideologischem Gepäck.

Brown wird sich keine Blöße geben

Das weiß auch Gordon Brown. Er wird alles tun, um David Cameron zuvorzukommen. Zu seiner Strategie gehört, die Konservativen als unzuverlässig in Fragen der Innerer Sicherheit hinzustellen und sich gleichzeitig bei den Themen Asyl und Einwanderung keine Blöße zu geben. So verlangte er schon vor einigen Monaten, die Frist auf drei Monate auszudehnen, während der Verdächtige ohne Anklage arrestiert werden können. Auch auf anderen Feldern wird ein Premier Brown für Überraschungen sorgen. Zurzeit umwirbt er die Wirtschaft, die über zu viel Regulierung und eine wachsende Steuerlast stöhnt. Während die Konservativen wie die Katze um den heißen Brei der „Tax Cuts“ streichen, darf man damit rechnen, dass Gordon Brown vor der nächsten Wahl mit einem Coup aufwarten und eine Steuersenkung verkünden wird. Was er nun noch braucht, ist ein Herausforderer vom linken Flügel – um aller Welt zu zeigen, wo er steht.

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