Avantgarde statt Elite!

Brauchen wir in Deutschland Eliten? Selbstverständlich. Aber es müssen offene Eliten sein. Es geht um Zugang und gleiche Chancen. Das wäre der Beginn einer sozialdemokratischen Elitentheorie, die soziale Intelligenz und Bildung statt Herkunft betont

Auf Eliten kann man nicht verzichten. Sie sind in der Gesellschaft so oder so vorhanden. Aber man kann sie beobachten. Man kann sie auf ihre Qualität hin prüfen. Eliten sind unterschiedlich. Welche Elite taugt, welche nicht? Wie beobachten wir die Eliten unter dem Aspekt, welche davon Avantgarde ist?

Avantgarden sind die schnellen Truppen vor der Garde, die leichtfüßigen ersten Angreifer, die den Kampf testen, bevor die Hauptkampflinie aufmarschiert. Wenn die Garde aktiv wird, ist die Avantgarde bereits auf einem anderen Schauplatz angelangt. Sie ist immer vorne, eine Art von Elitenelite. Oder genauer: eine Art von vorbildlicher Elite, mit einem gewissen gesellschaftlichen Mut, Grenzen auszuprobieren, Neugierde zu entfalten, und Innovationen anzuführen.

Was sind klassischerweise Eliten? Für die in ihrer Wohlfahrtsentwicklung auf Gleichheit gepolte Bundesrepublik sind Eliten fast freimaurerartige Geheimbünde, denen man durch Öffentlichkeit unbedingt auf die Spur kommen will. Das geschieht dadurch, dass man den Eliten vorwirft, sie seien elitär. Dadurch erzeugt man den gewohnten Abstand, der alle, die nicht zur Elite gehören, einander wieder näher bringt. In der Distanzierung von den Eliten bleibt die Gesellschaft in deren Nähe beieinander, wird vermeintlich erst zur Gesellschaft gemacht.

Elite wird, in diesem mentalen Modell, zu einer angemaßten Position, der anständige Demokraten nicht zugehören. Da andererseits die Gesellschaft erheblich viele Führungspositionen braucht, die aber, nach diesem mentalen Modell, nicht elitär besetzt werden dürfen, entsteht das Problem, wie wir in Deutschland eine elitefreie Führung besetzen können.

Der erste Gedanke dazu: Jeder muss führen können. Der Zugang zu Führung muss unbeschränkt sein. Das schließt Elite im klassischen Sinne aus: Elite im klassischen Sinne reproduziert sich selbst aus ihren Schichten. Wenn wir nun zulassen müssen, dass jeder sich in die Führung berufen kann, müssen wir die klassischen Schichten streichen, die sich selbst reproduzieren, Führung wird dann nicht durch Eliten ausgeübt, sondern durch irgendwie demokratisch zugeteilte Agenten.

Die alten Eliten reproduzieren sich selbst

Das wird mit dem Satz legitimiert: Wir brauchen Eliten, aber es müssen offene Eliten sein. Es geht um Zugang und gleiche Chancen. Das wäre der Beginn einer sozialdemokratischen Elitentheorie. Denn Notwendigkeit von Führung wird Elite nur dann zugeordnet, wenn sie nicht mehr klassische Elite ist, sondern zugangsdemokratisch ausgewählt wird. Damit ist die Frage, ob wir Eliten brauchen, im Grunde bejaht.

Es geht gar nicht darum, ob wir Eliten brauchen, sondern darum, wie sie gebildet werden. Unabhängig davon, wie man dies in der Bundesrepublik betrachtet, gibt es natürlich Eliten. Diese Eliten reproduzieren sich natürlich aus sich selbst. Es gibt bürgerliche Eliten, unternehmerische, intellektuelle. Söhne und Töchter dieser Eliten werden über Elitennetzwerke in gehobene Positionen transferiert. Das läuft nicht wie in Frankreich ex officio, sondern sehr viel informeller. Menschen, die nicht aus diesen Netzwerken kommen, haben es viel schwerer, in Führungspositionen zu geraten. Natürlich ist es nicht unmöglich, aber statistisch schwieriger.

Elite folgt dem Modell der Familienunternehmung, die Führung möglichst aus dem eigenen Clan zu rekrutieren. Nun sind moderne Gesellschaften aber viel komplexer als informell herrschende Clans. Natürlich öffnen sich hier für Viele Chancen, die in einer klassischen Elitengesellschaft keine Chance gehabt hätten. Und dennoch herrscht Selektion.

In Deutschland ist die Elite abgeschottet

Man braucht für Eliten spezifische Umgangsformen, Outfits, eigentlich standesgemäße Ehen, adäquate Freizeitformen etc. Nicht alles gleichzeitig wird relevant, aber wenn man nicht nachweisen kann, wo man herkommt, muss man mit viel höherem Aufwand an Energie darauf achten, dazuzugehören.

Die Frage, ob die Gesellschaft Eliten braucht, ist überflüssig: Sie hat sie, und wahrscheinlich hat sie immer die, die sie verdient. Die Frage, ob die Gesellschaft bessere Eliten braucht, vor allem besser ausgebildete, kompetentere, ließe sich nach dem französischen Modell nur durch die Mitgliedschaft in Elitehochschulen lösen. Dieses Modell kennen wir in Deutschland nicht; Elite, vor allem in der Wirtschaft, scheint wesentlich noch dadurch gebildet, dass man promoviert.

In gewissem Sinne ist die Elite in Deutschland abgeschottet. Doch gilt es eher im oberen Teil; im unteren und mittleren Teil werden ständig neue Köpfe und Charaktere darauf geprüft, ob sie eingeleitet werden in die Netzwerke der Führung dieser Gesellschaft. Natürlich ist man hoch interessiert an intelligentem Nachwuchs. Aber man kann sich nicht individuell vornehmen, dazuzugehören.

Durch ihre informelle Selektion haben die Eliten Macht. In ihre oberste Region gehören zum Beispiel kaum Frauen (das ist das Phänomen der „gläsernen Decke“), aber auch keine unpassend unangepassten Männer. Es scheint selbstverständlich zu sein, hier die Eliten zu öffnen. Aber nach welchen Kriterien?

Intelligenz ist Voraussetzung, aber nicht allein entscheidend. Entscheidend ist, möchte ich behaupten, eine spezifische Haltung. Das ist tatsächlich eine besondere Qualität, die Loyalität und Vertrauen innerhalb des Elitennetzwerkes gewährleistet. Man wird sich aufeinander verlassen müssen, was voraussetzt, dass man ähnliche mentale Modelle der Welt hat.

Elite ist Führung, Herkunft und Kohärenz. Soweit ist sie klassisch. Dieses klassische Potenzial stellt aber nicht mehr das personale Inventar zur Verfügung, das wir für die Modernisierungs- und Dynamisierungsprozesse der Gesellschaft brauchen. Die Wissensgesellschaft hat auch die Anforderungen an die Eliten verändert. Herkunft reicht nicht mehr. Welche Selektion findet statt? Wie kommt frische Intelligenz in die Führung der Gesellschaft?

Warum der Begriff kaum noch brauchbar ist

Die Elite hat, als Begriff, ein schweres Erbe. Sie wird immer als elitär missdeutet. Deshalb ist der Begriff kaum noch brauchbar. Zum Großteil reicht es, wenn wir von Führung reden. Doch genügt das auch wieder nicht, weil man damit standardisierte Muster meint. In einer dynamischen Wissensgesellschaft reicht es eben nicht, Muster zu repetieren. Die Eliten, die diesen Begriff noch verwenden wollen, müssen Brüche produzieren, Störungen, Unterbrechungen.

Das tun sie, wenn sie Avantgarden sind: eher nervöse Schwärme von Neugierigen, die sich nach neuen Optionen umsehen, ohne sich an alten festhalten zu müssen. Gerade Universitäten können sich mit dem Elitebegriff wenig versöhnen, sie sind prädestiniert für Avantgarden. Es geht um Probleme, die anderswo noch gar nicht wahrgenommen werden. Es geht um eine Haltung dem Neuen gegenüber: kompetent, achtsam, neugierig.

Wenn wir solchermaßen kognitive und emotionale Intelligenz fördern, ist es wenig sinnvoll, Prädispositionen für bestimmte Berufe zu haben. Man bewegt sich wie ein Fisch im Wasser der aufgelösten Wissenspartikel. Es geht natürlich nicht nur um Wissen, sondern auch um Macht.

Avantgarden sind nur solange mächtig, wie sie die Neugierigen anziehen. Man will Begegnung und neue Dimensionen, Überraschung und Erschütterung. Avantgarde ist gleichsam ein Bildungsbereich von Eliten, in dem Sinne, dass man nicht zu Macht und Herrschaft geboren ist, sondern erst, indem man seine Neugier gestillt und eben dadurch zu herrschen gelernt hat. Die Avantgarden probieren viel Welt, sie sind Eliten in statu nascendi.

Es geht dann aber nicht darum, zur Elite nominiert zu werden, immer Elite zu bleiben, sondern vielmehr darum, sich in der Neugier, in Mut und Risiko zu bewähren. Wer das nicht tut, fällt aus diesem Elitenkarriereprozess heraus. Wir haben es mit neuen Nominierungsarenen zu tun: Avantgarden als Inkubatoren von Elite. Die Elite, die durch diese Prozesse gegangen ist, ist aber völlig anders, als die durch Herkunft bestellte. Sie ist eine durch Wissensdynamik gebildete Elite. Sie ist weniger durch Herkunft, als durch Zukunft definiert. Sie besteht eher aus change agents als aus etablierten Herrschaftsnetzwerken.

Wer nicht taugt, wird ausgewechselt

Eliten werden dann lebendig bleiben, wenn sie fähig sind, ihre Kriterien auf sich selbst anzuwenden: Diejenigen, die nicht taugen, werden ausgewechselt. Um das sicherzustellen, braucht man keine „Eliteuniversitäten“. Hier schiebt sich, verspätet, eine falsche Begrifflichkeit in die bundesrepublikanische Welt. Eliteuniversitäten, nach französischem oder amerikanischem Vorbild, sind Institutionen zur Ausstellung von Garantiezertifikaten für Führungspositionen. Avantgardegebildete Eliten hingegen können keine Zertifikatsgarantie bieten, sondern lediglich intelligente Wahrnehmung der Welt und intelligentes Veränderungshandeln. Deshalb ist es wichtiger, in Universitäten die individuellen Potenziale auszubilden, statt homogenisierende Sprach- und Verhaltensanpassung zu trainieren.

Deshalb können und sollen Universitäten keine Eliten ausbilden: sondern Avantgarden. Da sich Avantgarden aus Intelligenz zusammensetzen und nicht aus Herkunft, haben wir es mit immer neuen Mischungen zu tun, die keinen alten Herrschaftsmustern folgen. Universitäten sind dann keine Elitenclubs, sondern Anreicherungszustände von Intelligenz. Das geht natürlich nur, wenn man die Auswahlprozesse von Herkunft auf Intelligenz umstellt.

Eliten üben Macht aus, Avantgarden Einfluss

Lernen müssen Universitäten, nicht nur Intelligenz, sondern auch soziale Intelligenz hervorzubringen: das Kostbarste, das wir zu entwickeln haben. Denn nicht das, was wir alleine können, ist produktiv, sondern das, was wir mit anderen zusammen hervorbringen. Soziale Intelligenz ist eine synergetische Form der Kooperation, die man an Universitäten gewöhnlich nicht lernt. Es geht nicht mehr darum, etwas vorgetragen zu bekommen, sondern selbst – kognitiv und emotional – Neues zu erfahren, in Kooperation mit anderen.

Eliten sind mit Führung beschäftigt, Avantgarden mit governance. Governance ist eher die Moderation eines Führungsprozesses als die Führung selbst. Eliten, die andere nicht überzeugen können, sind auf Macht angewiesen, statt auf Einfluss. Hier lässt sich die Differenz besonders leicht und deutlich hervorheben: Klassische Eliten brauchen hierarchische Strukturen, um über ihre Führung Macht zu entfalten. Avantgarden hingegen zeichnen sich durch den Einfluss aus, den sie aufgrund ihrer Kompetenz ausüben. Um Einfluss zu haben, müssen sie überzeugen. Sie können nicht einfach Elite sein, sondern müssen ständig daran arbeiten, Elite sein zu dürfen.

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