Augenblicke des Glücks

Michel Houellebecq weigert sich, im Zustand des Absurden zu verharren

Stellen wir uns einen Geschäftsreisenden vor, der in einer Gaststätte sitzt, um zwischen zwei Terminen einen Kaffee zu trinken. Aus den Lautsprecherboxen hämmert Musik, die ziemlich genau den Rhythmus seines Arbeitstages wiedergibt: Weiter so, hämmert der Rhythmus, nicht nachlassen, auf zum nächsten Termin, keine Müdigkeit vorschützen. Und da erst, am Cafétisch, bedröhnt vom Rhythmus fröhlichen, beschwingten Mitmachens, wird dem Mann bewusst, wie ganz und gar erschöpft er ist: fertig, ausgebrannt. Er kann nicht mehr; er fällt regelrecht in sich zusammen.

Diese kleine Episode, die der Schriftsteller Dieter Wellershoff in einem seiner Essays erzählt, handelt davon, dass einer aus dem Takt gerät. Es mag sein, dass der Mann schließlich nicht aus dem Arbeitstag desertier. Er gibt sich vielleicht einen Ruck, er trinkt seinen Kaffee aus, er eilt trotz allem zum nächsten Termin. Aber jener Moment, in dem er sich seiner Erschöpfung bewusst wurde, hinterlässt Spuren, wiederholt sich. Und vielleicht bereitet sich - in einer Art Umkehrung - etwas in ihm vor, das den Propheten der gnadenlosen Anpassung suspekt sein muss: Momente eines Glücks in der Erschöpfung, im Loslassen, im Beiseitetreten. Eines Glück, das sich nicht kaufen, nicht erprotzen und nicht einmal erkämpfen lässt.

Nichts mehr kaufen, nichts mehr kaufen wollen

Von diesem Glück ist in den Romanen Houellebecqs auch die Rede: "Die wenigen glücklichen Augenblicke während seiner Zeit auf dem Gymnasium hatte er so verbracht, auf einer Stufe zwischen zwei Stockwerken, kurz nachdem der Unterricht begonnen hatte. Ruhig an die Wand gelehnt, in gleicher Entfernung von zwei Treppenabsätzen, die Augen mal halb geschlossen, mal weit geöffnet, hatte er da gesessen und gewartet. Natürlich konnte jemand kommen; dann musste er aufstehen, seine Schultasche nehmen und mit schnellem Schritt auf den Klassenraum zugehen, in dem der Unterricht bereits begonnen hatte. Aber meistens kam niemand; alles war so friedlich; und während er auf den grauen, mit Fliesen belegten Stufen saß (er war nicht mehr im Geschichtsunterricht und noch nicht im Physikunterricht), schwebte sein Geist in kurzen Aufwallungen sanft und beinahe verstohlen der Freude entgegen."

Wie immer bei Houellebecq trägt die Skizze zwischen zwei Stockwerken programmatische Züge. Es handelt sich um jene "Poesie der angehaltenen Bewegung", der Houellebecq sich in einem kurzen Essay gewidmet hat: "Es ist ... noch nie so einfach wie heute gewesen, der Welt gegenüber eine ästhetische Haltung einzunehmen: es reicht aus, einen Schritt zur Seite zu treten. [...] Es reicht aus, eine Ruhepause einzulegen, das Radio auszustellen, den Fernseher auszumachen; nichts mehr zu kaufen, nichts mehr kaufen zu wollen. Es reicht aus, nicht mehr mitzumachen, nichts mehr zu wissen, jede geistige Tätigkeit vorübergehend einzustellen. Es reicht im wahrsten Sinne des Wortes aus, für einige Sekunden reglos zu werden."

Für Houellebecq ist das ein stiller revolutionärer Akt inmitten betriebsamer Verhältnisse, die zwar Daten und Informationen produzieren, aber keinen Sinn. Die Diagnose ist nicht neu, gehört sogar zum Fundus der Selbstverständlichkeiten, aus dem sich Soziologen, Kultur- und Medientheoretiker frei bedienen. Aber nicht die Einzelheiten der Kritik Houellebecqs an der Moderne sind das eigentlich Bemerkenswerte, es ist vielmehr die Vehemenz, die Geste der Provokation, mit der hier ein Schriftsteller zur Attacke bläst, laut, schrill und schmutzig, wie es in Frankreich (von Deutschland zu schweigen) lange nicht mehr zu hören war.

Der Auftritt Michel Houellebecqs glich dem berühmten "Schuss im Konzertsaal". In der durch und durch fiktionalen Konstruktion eines kommenden, geklonten und asexuellen Menschengeschlechts (in "Elementarteilchen") sah man faschistoides Denken am Werk, in den pornografisch detailliert geschilderten Sexorgien witterte man den Missbrauch der Frau als Lustobjekt, in den Gewaltphantasien des Erzählers in Ausweitung der Kampfzone Menschenverachtung und Rassismus. In der Tat stockt dem Leser das Blut in den Adern, wenn er die - mit einer gehörigen Portion Theorie aufgeladenen - Geschichten um emotional verstümmelte Verlierertypen, autistische Randexistenzen und obsessive Onanisten liest. Aber diese Bücher haben so großen Erfolg, weil Houellebecq uns mit der Nachtseite unserer Existenz konfrontiert. Und das ästhetische Mittel, das er gebraucht, um uns mit dem zu versöhnen, was wir da zu sehen kriegen, ist ein kultiviertes Selbstmitleid: Depression als ästhetische Inszenierung, einzig zu dem Zweck, uns näher an das heran zu führen, was Houellebecq für die Wahrheit hält: die Sinnlosigkeit des modernen Lebens.

Wahnsinn und inneres Erlöschen

Die Hellsicht, die Houellebecq der Depression zuschreibt, ist die Weigerung, im Zustand des Absurden zu verharren. Wenn das Absurde jener Widerspruch ist zwischen der Sinnlosigkeit des modernen Lebens (nicht wie bei Camus: der menschlichen Existenz überhaupt) und der täglichen Betriebsamkeit (nicht wie bei Camus: des Handelns überhaupt), die sich weigert, diese Sinnlosigkeit anzuerkennen, dann ist der Selbstmord der einzige Schritt, der die Sinnlosigkeit bestätigt und den Widerspruch aufhebt. So weit geht Houellebecq nicht, so weit lässt er auch seine Figuren nicht gehen, aber er treibt sie einen halben Schritt voraus bis an den Punkt, der nichts anderes mehr zulässt als die Wiederholungszwänge der Obsession, den Wahnsinn oder das innere Erlöschen. In solchem Fehlverhalten bestätigen die Figuren seine vernichtende Diagnose: dass der Liberalismus im Wirtschaftsleben wie im menschlichen Miteinander millionenfaches Leid produziert.

Natürlich ist es ein Missverständnis, dass Houellebecq in Elementarteilchen zur Überwindung der Misere für die Erfindung eines neuen Menschentyps plädiert. Diese auch biotechnologisch kaum zu untermauernde Vision dient nur einem Zweck: einen Standort zu schaffen, ähnlich dem des Auges an der Linse des Mikroskops. Houellebecq bedient sich, indem er die Erzählperspektive in die Zukunft verlagert, eines Kunstgriffs, um das Leben, das wir führen, noch einmal in seiner Totalität darzustellen und zu analysieren.

Ein vermessener Anspruch? Vielleicht. Aber Houellebecqs neuester Roman Plattform enttäuscht auch deshalb, weil er gar nicht erst versucht, einem solchen Anspruch zu genügen. Deutlich bis zum Erbrechen biedert sich Houellebecq mit seiner Verherrlichung des Sextourismus den faden Sehnsüchten jener an, die in der Kampfzone des sexuellen Tauschwerts westlicher Prägung zu den Verlierern gehören. Es wäre schön, wenn Houellebecq mit seinem nächsten Roman so fatalistisch ernst auf die Bühne zurückkehrte, wie wir es nach zwei großen Romanen von ihm gewohnt waren. Bühne? Ja, denn der Mann ist bei aller Dringlichkeit des Inhalts auch dies: ein Meister der Inszenierung, der sehr genau weiß, was er tut, wenn er uns einen Stich ins Herz versetzt.

Michel Houellebecq, Plattform. Roman. Dumont Verlag, Köln 2002, 370 Seiten, 24 Euro.

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