Aufbruch in Deutschland

Wo Menschen Veränderung vor allem als Last, Enttäuschung und Abschied erfahren, verdüstert sich die Stimmung. Unser Land gewinnt seine alten Stärken zurück, wenn es Erneuerung als Voraussetzung einer besseren Zukunft begreift

Mancher deutsche Leser der Newsweek-Sonderausgabe 2004 wollte seinen Augen nicht trauen: In einer groß aufgemachten Auflistung der ?most powerful countries" findet sich Deutschland an zweiter Stelle nach den USA. Die Begründung für diese Rangfolge, die so völlig einer weit verbreiteten Selbstwahrnehmung widerspricht: Zwar ist Deutschland in keiner Kategorie Bester, aber in fast allen Bereichen gut platziert. Über den Wert solcher Rankings kann man zu Recht unterschiedlicher Auffassung sein, eines aber ist unbestritten: Deutschland wird, gerade auch unter dem Eindruck der Agenda-Reformen, im Ausland sehr viel positiver wahrgenommen als wir es wahrhaben wollen.

Deutschland bewegt sich. Politisch, aber auch gesellschaftlich. Noch ist offen, ob aus dem sich abzeichnenden Aufschwung auch ein wirklicher Aufbruch wird. Lethargie und Schwarzmalerei stehen neben neuem Mut und Selbstbewusstsein. Die nächsten Jahre werden darüber entscheiden, ob es uns gelingt, ein neues Gleichgewicht aus Freiheit und sozialer Sicherheit zu finden und Deutschlands traditionelle Stärken unter den Bedingungen einer globalen Wissensgesellschaft wieder zur Geltung zu bringen.

Nicht umsonst ist mit der "Agenda 2010" ein ganzes Jahrzehnt in den politischen Fokus genommen worden. Denn so lange wird es brauchen, um die Fundamente unseres Gemeinwesens neu zu befestigen, Fundamente, die sich nicht erst im Gefolge der Wiedervereinigung als dringend überholungsbedürftig erwiesen haben. Nach zwei Jahrzehnten steigender Arbeitslosenzahlen - von rund 150.000 1970 auf über zwei Millionen 1989 - lag bereits Ende der 1980er Jahre der Reformbedarf für die alte Bundesrepublik auf der Hand: Das System des Wohlfahrtsstaates, in den Wirtschaftswunderjahren immer weiter ausgebaut, stieß an seine Grenzen; das korporatistische Politikmodell, soweit es mit dem tendenziellen Rückzug staatlichen Gestaltungsanspruchs aus wichtigen Regelungsbereichen der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik einherging, erwies sich als zunehmend handlungsunfähig. Die Jahre des hohen Wirtschaftswachstums waren bereits Ende der 1980er Jahre vorbei. Doch der historische Umbruch von 1989 drängte die notwendige Debatte über die Zukunft des Wirtschafts- und Sozialmodells Deutschland zunächst in den Hintergrund. Die Freude über die Wiedervereinigung ließ übersehen, wie reparaturbedürftig die Fundamente bereits waren, auf denen Stabilität und Wohlstand ruhten.

Was nach 1989 nahe gelegen hätte

In der Rückschau von heute hätte nichts nähergelegen, als die historische Sondersituation nicht nur dazu zu nutzen, die wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Verhältnisse im Beitrittsgebiet an westdeutsche Lebensverhältnisse anzupassen. Nahegelegen hätte gewiss auch eine Überprüfung mancher westdeutscher Standards.

Indes: Die Verhältnisse waren nicht danach! Im Gegenteil: Die Akzeptanz der Wiedervereinigung in Westdeutschland hing durchaus auch an der Erwartung, dass sie keinerlei Veränderungen am eigenen Gesellschaftsmodell, gar Abstriche am eigenen Lebensstandard, nötig machen würde. Umgekehrt entsprach es sicher der Erwartung vieler Ostdeutscher, durch schlichte Übertragung des bundesrepublikanischen Modells schnell zum Westen aufschließen zu können. So wurde im gesamtdeutschen Konsens das - in einzelnen Elementen schon nachweisbar reformbedürftige - Erfolgsmodell der Bundesrepublik Deutschland ohne größere Veränderungen auf Ostdeutschland übertragen - und musste schon wegen der gänzlich anderen, in Ostdeutschland ausgesprochen ungünstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen den vorhandenen Problemdruck potenzieren.

Verpasste Chancen, versäumte Reformen

Die Chance einer gesamtdeutschen Selbstvergewisserung über Ansprüche und ihre Grenzen, aber auch über neu sich eröffnende Möglichkeiten, wurde verpasst. Keine der maßgeblichen politischen Kräfte war daran wirklich interessiert. An den Folgen tragen wir bis heute: Der Schuldenstand des Bundes explodierte in den 1990er Jahren von rund 300 Milliarden Euro auf rund 750 Milliarden Euro im Jahr 1998. Die kurzfristige Sonderkonjunktur Anfang der 1990er Jahre verschleierte zunächst den tatsächlich entstandenen Problemdruck. Im Laufe der Jahre stieg jedoch die Steuer- und Abgabenlast in nicht gekannte Höhen. Eingangs- und Spitzensteuersätze bei der Einkommenssteuer erreichten historische Höchststände. Insbesondere die Entwicklung der Körperschaftssteuer erwies sich zunehmend als Belastung für den Standort und als wichtigstes Hindernis für Investitionen. Der Faktor Arbeit wurde immer stärker mit Zusatzkosten belastet. 1990 betrugen die Beitragssätze zur Sozialversicherung noch 35,5 Prozent. Bis 1998 waren sie auf den historischen Höchstwert von 42 Prozent geklettert. Die negativen Wirkungen für die Beschäftigung wurden unmittelbar sichtbar: Die Arbeitslosigkeit stieg von 2,6 Millionen auf deutlich über 4 Millionen Arbeitslose im Jahresdurchschnitt. Gleichzeitig fiel unser Land im internationalen Vergleich der Wachstumsraten immer weiter zurück. Darin spiegelte sich nicht zuletzt der bedrohliche Rückgang der Ausgaben für Forschung und Entwicklung von rund 2,5 Prozent auf rund 2,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts wider. In der Rückschau zeigt sich deutlich, dass versäumte Reformen den Veränderungsbedarf im Gesamtsystem radikalisierten.

Nicht weniger nachdrücklich als auf dem Felde der Wirtschafts- und Sozialpolitik entwickelte sich zum Ende der 1990er Jahre der Veränderungsdruck in der Außenpolitik: In den vergangenen Jahren haben sich die weltpolitischen Rahmenbedingungen nachhaltig, im Tagesgeschäft und der Berichterstattung darüber nicht immer merklich, im Ergebnis aber ganz dramatisch verändert. Der Prozess der Globalisierung ist unumkehrbar geworden. Geld- und Datenströme vernetzen in Echtzeit die Erdteile. Räumliche Begriffe wie Nähe und Ferne verlieren ihre Bedeutung. Der 11. September hat eine Schockwelle ausgelöst, deren Erschütterungen weltweit zu spüren waren. Für die deutsche Politik bedeutet dies: Wir sind viel stärker als in der Vergangenheit gefordert, Stellung zu beziehen zu Ereignissen und Geschehnissen, die sich außerhalb unserer Grenzen und somit außerhalb der Reichweite unserer unmittelbaren Gestaltungsmacht abspielen, kurz: Verantwortung zu übernehmen. Dass dies mit zum Teil erheblichen finanziellen, aber auch politischen Kosten verbunden sein kann, zeigen exemplarisch, auf jeweils unterschiedliche Weise, die Einsätze der Bundeswehr auf dem Balkan und in Afghanistan sowie die Ablehnung einer militärischen Intervention im Irak.

Anspruchsdenken und Überforderung

Was in der Außenpolitik nicht zuletzt auch eine notwendige Konsequenz aus so grundstürzenden Veränderungen wie der Erosion und Auflösung der Militärblöcke war, musste nach 1998 auch für die Innenpolitik handlungsleitend werden: Wiedergewinn von Beweglichkeit in einer unbeweglich gewordenen Republik, Deblockierung der von mächtigen Interessengruppen kanonisierten Verhandlungsrituale und damit Erweiterung des Gestaltungsspielraums für Politik.

Das "Bündnis für Arbeit" war der Versuch, die traditionellen Blockaden und Denkverbote aufzubrechen und gemeinsam mit den Sozialpartnern den Weg der Erneuerung zu gehen. Trotz unbestreitbarer Erfolge in den Bereichen Ausbildung, Qualifizierung und bei der Eröffnung neuer Beschäftigungschancen für ältere Arbeitnehmer wurden die Grenzen dieses Ansatzes bald deutlich. Möglicherweise war der Anspruch an die Beteiligten im Bündnis, nicht nur als Vertreter ihrer verbandlich oder gewerkschaftlich organisierten Interessen zu agieren, sondern in Verantwortung für die Gesellschaft als Ganze an Lösungen zu arbeiten, von vornherein eine Überforderung. Jedenfalls kam hinzu, dass sich die Reformaufgabe spätestens nach drei Jahren Stagnation als noch größer erwies als ursprünglich definiert: Erstmals seit Jahrzehnten ging es um wirkliche Strukturveränderungen der sozialen Sicherungssysteme und des Arbeitsmarktes, mit einschneidenden Konsequenzen für ein tradiertes und auf Zuwachs angelegtes Anspruchsdenken.

Dennoch wurden zwischen 1998 und 2002 in vielen Politikbereichen erhebliche Fortschritte erzielt - man denke an die große, in drei Stufen umgesetzte Steuerreform (mit mehrfacher Senkung des Eingangssteuersatzes, Spitzensteuersatzes und Unternehmenssteuerreform), den Atomausstieg, zusätzliches Geld für Forschung und Bildung, die Green-Card-Initiative, die rechtliche Besserstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, die Verbesserung des Stiftungsrechtes, den Ausbau der privaten Eigenvorsorge in der Rente und den Ausbau der Familienförderung. Dennoch blieb, nicht zuletzt unter der Einwirkung einer weltweiten Wachstumsschwäche, die Bilanz durchwachsen.

Deutschland erneuern

Mehr als drei Jahre stagnierende Wachstumszahlen, anhaltend hohe Arbeitslosigkeit und steigende Defizite in den Sozialkassen waren ausreichend Gründe für die "Agenda 2010". Der Agenda, wie sie Bundeskanzler Schröder in der Regierungserklärung vom 14. März 2003 vorgestellt hat, lag die Einsicht zugrunde, dass umfassende Strukturreformen einhergehen müssen mit einem neuen, offensiven Politikstil. Strukturelle Erneuerungspolitik erfordert Mut - und hat ihren Preis. Innerhalb der SPD wurden und werden stellvertretend für die Gesellschaft viele Konflikte um einzelne Reformmaßnahmen ausgetragen, mit Leidenschaft und schmerzlichem Verlust. Dass den Sozialstaat nur erhalten kann, wer zu seiner Reform bereit ist - dieses Credo konnte und kann dem eigenen politischen Lager, aber auch der übrigen Gesellschaft, nur in mühsamer Überzeugungsarbeit vermittelt werden.

Der 14. März und die Nacht vom 14. auf den 15. Dezember 2003, in der ein großer Teil der Agenda-Gesetze den Vermittlungsausschuss passierte, könnten eine politische Zäsur markieren. Zwar hätten sich die Akteure der Regierung ein anspruchsvolleres Ergebnis gewünscht als es die Opposition am Ende mit zu tragen bereit war. Doch die Botschaft, die vom 15. Dezember 2003 ausging, war grundsätzlicher: Mit den Entscheidungen von März und Dezember hat die deutsche Politik Handlungsfähigkeit bewiesen. Oder in Langfassung: Es ist in unserem komplexen Regierungssystem auch in wirtschaftlich schweren Zeiten möglich, politische Führungskraft zu zeigen, indem grundlegende Reformvorhaben angepackt und durchgesetzt werden. Damit wurde ein Stilwechsel in der Politik deutlich, durch den allein Haltungsänderungen in der Bevölkerung realistisch werden, Haltungsänderungen, wie sie in fast jedem journalistischen Beitrag zur Lage der Republik unter den Stichworten "Mehr Mut, Selbstbewusstsein und Zuversicht!" eingefordert werden. Zwar lassen sich anhand der Geschichte der "Agenda 2010" geradezu idealtypisch die "Verflechtungsfallen" (Fritz W. Scharpf) der föderalen Verhandlungsdemokratie studieren und daraus auch Lösungsbedarfe für die laufende Föderalismusreform ableiten, aber das Signal an die Bürgerinnen und Bürger und an unsere europäischen Partnerländer ist eindeutig: Deutschland bewegt sich. Aus eigener Kraft.

Die Reformen am Arbeitsmarkt nach der Maxime ?Fördern und fordern", die Begrenzung der Lohnnebenkosten durch Gesundheits- und Rentenreform, die finanzielle Stärkung der Kommunen und die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger durch die 2004 und 2005 wirksam werdenden Steuersenkungen hatten ein gemeinsames Ziel: Den wirtschaftlichen Aufschwung nach drei langen Jahren der Krise zu befördern, um die Arbeitslosigkeit zu reduzieren.

Aber der Aufschwung allein reicht nicht aus. Die unerwartet lange Krise hat sich so sehr in den Köpfen der Menschen festgesetzt, dass es auch hier eines Neubeginns bedarf. Die Erneuerung unseres Landes betrifft auch die Bereiche, die von der Politik nicht unmittelbar beeinflusst werden können - Familie und Arbeitswelt, zivilgesellschaftliches Engagement und solidarisches Einstehen für die Schwächeren. Deshalb wird die Erneuerung nur gelingen, wenn sie getragen wird von einer gesellschaftlichen Aufbruchstimmung, neuem Selbstvertrauen und einer Rückbesinnung auf die Stärken unseres Landes.

Deutschland erneuern

2003 war zugegebenermaßen von solcher Aufbruchstimmung noch wenig zu spüren. Wer aber genau hinschaute, konnte Anzeichen für Veränderung, konnte neue Nachdenklichkeit, vielleicht sogar die Entstehung eines neuen Selbstverständnisses entdecken (vgl. Ulrich 2003), wie wir es seit der Wiedervereinigung nicht mehr erlebt haben. Es scheint, als würde eine Debatte über Deutschland und ?deutsch sein" nachgeholt, die nach 1989 nicht geführt wurde.

Zugleich und nur auf den ersten Blick oberflächlich zeigt sich - und das gesamtdeutsch - ein tiefes Bedürfnis an positivem Deutschlandbezug und deutschen "Idealfiguren": 6,4 Millionen Menschen sahen den Film "Good Bye, Lenin!", der eine alternative Wiedervereinigungsgeschichte entwirft; mehr als drei Millionen Menschen ließen sich von dem Film ?Das Wunder von Bern" über die Fußball-Weltmeisterschaft 1954 und die schwierige Beziehung eines Kriegsheimkehrers zu seinem Sohn rühren. In der Sendung ?unsere Besten" wählten die Zuschauerrinnen und Zuschauer Konrad Adenauer, Martin Luther und Karl Marx vor den Geschwistern Scholl und Willy Brandt zu "den größten Deutschen". Gerade in der jüngeren Generation scheinen viele einen positiven Bezug zu Deutschland zu kultivieren - und das, zumindest was die breite Mehrheit betrifft, ohne Deutschtümelei und ihren dunklen Schatten: den Fremdenhass.

"Warum wir besser sind, als alle denken"

Darauf deuten nicht nur die Rückkehr deutschsprachiger Popmusik und die Wertschätzung deutscher Symbole in der Mode hin (wie beispielsweise in den von Eva Gronbach entworfenen Kleidungsstücken), sondern auch die Beschäftigung mit der Marke Deutschland und "Made in Germany" in den Zeitungen und Zeitschriften: Die Architektur-Zeitschrift AD stellte in ihrem Oktober-Heft die "100 schönsten Dinge Deutschlands" unter dem Titel "Best of Germany" vor; Max betitelte das November-Heft mit "Made in Germany - Warum wir besser sind, als alle denken", und zum Deutschen Markentag 2003 erschien das Supplement "Marke (in) Deutschland".

Es ist ein ermutigendes Zeichen, wenn junge Menschen anfangen, den alten, aus der Industriegesellschaft herübergeretteten Begriff "Made in Germany" unter den Bedingungen der Wissensgesellschaft neu zu buchstabieren. Ich bin fest davon überzeugt: Dahinter steckt der Wunsch, die den öffentlichen Diskurs dominierende Abwärtsspirale aus negativer Selbstwahrnehmung und daraus resultierender Lähmung zu überwinden und Offenheit für das Neue zu verbinden mit positiver Anknüpfung an die Vergangenheit.

Was die Agenda noch nicht leistete

Neugier und Offenheit müssen Elemente einer gestaltenden Politik werden, wenn Menschen für ihre Bereitschaft, Veränderungen mitzutragen, gewonnen werden sollen. Das leistete die Agenda des vergangenen Jahres noch nicht. Die Weiterentwicklung der "Agenda 2010" zu einer umfassenden, technologische und gesellschaftspolitische Aspekte umgreifenden Modernisierungsstrategie, ist die notwendige, aber auch richtige Konsequenz.

Diese Modernisierungsstrategie wird dann erfolgreich sein, wenn sie sich nicht auf - zweifellos notwendige - Veränderungen im Bildungs- und Forschungssektor beschränkt, sondern sich aus technokratischen Beschränkungen löst und die gesell- schaftlichen, kulturellen und geschichtlichen Faktoren als Erfolgsbedingungen begreift und entsprechend ernst nimmt.

Unser Ziel muss ein zweifaches sein: Einmal die Rückgewinnung von Gestaltungsfähigkeit durch Zukunftssicherung der sozialen Sicherungssysteme, Begrenzung der Arbeitskosten und Reduzierung nachfragehemmender Steuerlast. Ebenso notwendig ist aber auch die selbstbewusste Zuversicht von Menschen, diesen Weg der Erneuerung nicht nur als individuelle Last, als Enttäuschung und Abschied zu begreifen, sondern als Voraussetzung für eine chancenreiche Zukunft für alle. Gelingt beides, ist die Rückkehr zu alten Stärken dieses Landes und seiner Gesellschaft realistisch.

Vor 100 Jahren war das deutsche Innovationssystem weltweit Vorbild. Die Preußische Akademie der Wissenschaften und Nobelpreisträger wie Albert Einstein und Nils Bohr sind vielleicht die herausragendsten Symbole für eine Epoche, in der es Forscher und Studierende aus aller Welt nach Deutschland zog. Für die Umsetzung sorgten Unternehmer vom Schlage eines Werner von Siemens oder Robert Bosch. "Made in Germany" entwickelte sich rasch zu einem Markenzeichen, das für Präzision, Qualität und Dauerhaftigkeit stand.

Und wie jetzt weiter? Deutschland innovativ!

Von diesem Erbe zehren wir noch immer. Keine andere Industrienation ist in der Breite so gut positioniert wie Deutschland. Produkte und Dienstleistungen "Made in Germany" konkurrieren erfolgreich auf den Weltmärkten. Im Krisenjahr 2003 ist Deutschland zum ersten Mal seit über zehn Jahren wieder Exportweltmeister geworden. Erfolgreiche deutsche Branchen wie die Automobilindustrie, der Maschinenbau, die Chemieindustrie oder auch die Mess- und Regelungstechnik sowie die Optik gründen ihre Exporterfolge in besonderem Maß auf Produktinnovationen, die nicht zuletzt von ihren anspruchsvollen deutschen Kunden angestoßen wurden.

Dennoch strahlt die Marke "Made in Germany" heute weniger hell. Deutschland ist zwar kaum schlechter, aber viele andere Länder sind besser geworden. Dies liegt auch daran, dass sich die Bedingungen für den Innovationswettbewerb, vor allem durch die Internationalisierung der Märkte, grundlegend geändert haben: Erstens ist die Natur des technologischen Innovationsprozesses eine andere geworden. Die Herstellung hochkomplexer Produkte erfordert zunehmend inter- und transdisziplinäre Forschung. Innovationen entstehen immer häufiger durch die Kombination zum Teil schon weit entwickelter Technologien. Zweitens gewinnen verstärkt "weiche" Faktoren für den Erfolg der Innovationsprozesse an Bedeutung, wie zum Beispiel Design, sich ändernde kulturelle Normen oder die Beziehungen zwischen Mensch und Maschine (vgl. Freeman/Soete 1999). Alle am Innovationsprozess beteiligten Akteure müssen ständig dazulernen, weshalb es mittlerweile angebrachter ist, von einer lernenden statt einer wissensbasierten Ökonomie zu sprechen. Nicht zuletzt aus diesen Gründen wird drittens die Nachfrage für den Innovationsprozess immer wichtiger (vgl. Kuhlmann 2002).

Die moderne Innovationsforschung hat in umfangreichen empirischen Studien nachgewiesen, dass die staatliche Pioniernachfrage in nicht wenigen Erfolgsfällen fast ebenso wichtig war wie die direkte staatliche Förderung von Forschung und Entwicklung (vgl. Nelson 1993; Mowery/Nelson 1999). Die bekanntesten Beispiele sind die Computerindustrie und das Internet, die es ohne die stabile, nicht zuletzt militärisch induzierte, Nachfrage des amerikanischen Staates heute vielleicht noch immer nicht gäbe. Viertens ist eine erfolgreiche Politik der Liberalisierung der Märkte notwendig - wie sie in den letzten Jahren bei den Märkten für Telekommunikation, Energie und Post vorangetrieben wurde -, damit es über starken Wettbewerb zu mehr Innovationen, sinkenden Preisen und besseren Produkten für die Konsumenten kommt. Und fünftens sind Innovationen ohne einen funktionierenden Kapitalmarkt kaum denkbar. Vor allem der innovative Mittelstand ist auf innovationsorientierte Finanzintermediäre angewiesen.

Innovationssysteme sind über Dekaden gewachsen, wirken in andere Teile der Gesellschaft hinein und haben einen entscheidenden Einfluss auf den Modernisierungsprozess einer Gesellschaft. In den 1990er Jahren sind diese grundlegenden Einsichten in unserem Land nicht genug beachtet worden. Als Hochlohnland hat Deutschland nur eine Chance, im Wettbewerb mitzuhalten, wenn wir uns auf die Stärken unseres Innovationssystems besinnen, diese fördern und unsere Schwächen gezielt abbauen: Wissen und Ideen sind die Ressourcen, mit denen wir Deutschland zukunftsfähig machen können und müssen. Deutschland kann nur als Wissensgesellschaft und lernende Ökonomie wirtschaftlich erfolgreich sein. Jede und jeder muss die Chance einer individuell fördernden Bildung und Ausbildung haben - bereits im Kindergartenalter.

Die Wissensgesellschaft benötigt mehr Jugendliche mit Schulabschluss und mehr Menschen mit Hochschulabschluss. Neben dem Anstoßen von Reformen in der Bildungskette muss der Staat seine Verantwortung für die Innovationspolitik stärker wahrnehmen: Das heißt auch, dass es nicht immer nur um mehr Geld geht - obwohl sich die Regierung gemeinsam mit der Wirtschaft auf das 3-Prozent-Ziel für Forschung und Entwicklung bis 2010 verpflichtet hat und in den letzten Jahren trotz der schwierigen Wirtschaftslage den Etat im Bereich von Bildung und Forschung gesteigert hat. Von entscheidender Bedeutung ist die intelligente Vernetzung von Wissenschaft und Wirtschaft, das gezielte Einsetzen des Nachfragepotenzials des Staates für Zukunftsmärkte und die Förderung einer aufgeklärten Innovationskultur.

Nur die durchlässige Gesellschaft ist innovativ

Die Rolle des Staates ist auch unter den Bedingungen der Globalisierung nicht unwichtiger, allenfalls schwieriger geworden. Wesentliche Aufgabe ist es, Rahmenbedingungen, bestehend aus finanziellen und immateriellen Anreizen, für alle Beteiligten zu schaffen, die zu einer schnelleren Diffusion neuer Technologien führen. Nur so werden wir in der Lage sein, auf den Zukunftsmärkten von morgen - vor allem den Märkten für Energie, Chemie, Gesundheit, Mobilität und IT/Internet - die Standards zu setzten und damit mehr gut bezahlte Arbeitsplätze in unserem Land zu bekommen.

Dabei dürfen wir den europäischen Aspekt nicht aus dem Blick verlieren. Rahmenbedingungen werden immer häufiger europäisch vorgegeben. Deshalb wird die Bundesregierung, die sich in der Europäischen Union in den letzten Jahren sehr erfolgreich für eine stärkere Berücksichtigung industriepolitischer Anliegen eingesetzt hat, dabei den Innovationsaspekt noch stärker in den Mittelpunkt rücken.

Erfolgreiche Innovationspolitik ist mehr als Forschungs- und Wachstumspolitik. Eine innovative Gesellschaft gründet auf Teilhabe und Nachhaltigkeit, ist durchlässig, offen, lebendig und tolerant. Innovationspolitik, die dazu beitragen will, aus einem Aufschwung einen Aufbruch zu machen, muss deshalb eine ausgeprägte gesellschaftspolitische Dimension haben. Es geht darum, dass junge Menschen, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, ihre Potenziale erschließen und ausbauen, dass junge Eltern Karriere und Familie besser vereinbaren können, dass Unternehmen die Kreativität ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch innovative Arbeitszeitmodelle und Weiterbildung fördern und nicht zuletzt, dass Unternehmerinnen und Unternehmer die Möglichkeiten der Betriebsverfassung nutzen, um in den Unternehmen ein innovationsfreundliches Klima zu schaffen.

Eine zusätzliche Herausforderung bilden in diesem Zusammenhang die Veränderungen, die sich im Arbeits- und Berufsleben vollziehen. Das häufig ausgerufene Ende der Arbeitsgesellschaft ist zwar nicht in Sicht, doch die Arbeit selbst ändert ihren Charakter. Rasch sich wandelnde Berufsbilder und Beschäftigungsangebote entsprechen nicht unbedingt den sehr viel länger angelegten Lebensrhythmen der Menschen. Natürlich bleiben aufgrund zu starrer Regelungen, hoher Zugangsbarrieren, oder zu gering ausgeprägter Verände- rungsbereitschaft Kapazitäten ungenutzt. Aber selbst aus innovationspolitischer Sicht finden Forderungen nach grenzenloser Flexibilität dort ihre Grenze, wo Menschen zur Verfügungsmasse werden, oder da, wo ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über restriktive Einstellungspolitik und Frühverrentung aus dem aktiven Erwerbsleben verdrängt werden. Wissen und Erfahrung brauchen zur vollen Entfaltung Zeit und ein Mindestmaß an Sicherheit. Auch dieser Aspekt darf bei Arbeitsmarktreformen nicht übersehen werden.

Auch die Frage nach der Rolle der Wissenschaft darf sich nicht in kurzfristigem Verwertungsdenken erschöpfen. Im Jahr 2005 wird in vielen Ländern der Welt das Einstein-Jahr begangen werden. Vor 100 Jahren hatte Albert Einstein in einer Reihe von bahnbrechenden Arbeiten die klassische Physik und deren Begriffswelt von Raum, Zeit, Atomen, Materie und Strahlung revolutioniert. Dieses Jahr bietet uns eine einzigartige Gelegenheit, Faszination, Bedeutung und Verantwortung von Wissenschaft wieder ins Zentrum der öffentlichen Auseinandersetzung zu rücken: Denn zu den Folgen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse gehört ja nicht nur die Erfindung neuer Produkte, die unser aller Leben verändern, sondern eine neue Weise, die außermenschliche und menschliche Natur wahrzunehmen - und, wie Gen- und Biotechnologie deutlich machen - substantiell verändern zu können.

Berlin bot Albert Einstein in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Freiräume, die er brauchte, um jenseits kurzfristiger Verwertungsinteressen Entdeckungen zu machen, deren Tragweite bis heute nicht ausgeschöpft ist. Und sein Austritt aus der Preußischen Akademie der Wissenschaften im Jahre 1933 erhellte schlaglichtartig, dass es für diese Art von Wissenschaft in Deutschland keinen Ort mehr gab. Das Einstein-Jahr in Deutschland sollte mehr sein als ein Anlass für nostalgische Rückschau. Es bietet eine einzigartige Gelegenheit, das Wissen um die "Dialektik der Aufklärung" zu verbinden mit der Faszination Forschung, die es gerade der nachwachsenden Generation zu vermitteln gilt.

Die Strukturreformen der "Agenda 2010" sind kein Selbstzweck. Sie sind notwendig für den Aufschwung, aber sie zielen auf einen Aufbruch. Die Krise der letzten Jahre kann den Keim für eine neue Einstellung in sich tragen: Für eine - endlich gesamtdeutsche - Bereitschaft, sich mutig auf grundlegend veränderte Bedingungen einzustellen, nicht im Sinne eines passiven Erleidens, sondern eines aktiven Gestaltens. Die Politik kann in diesem Veränderungsprozess die Führung übernehmen, sie kann ihn aber nicht allein vollenden. Dies ist eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft. Wir brauchen kein neues "Wunder von Berlin" - wir brauchen viele kleine Wunder im ganzen Land.

Vielleicht wird man im Rückblick des Jahres 2010 sagen: Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends war mehr als nur die Überwindung einer temporären Wachstumsschwäche. Es war für Deutschland - Ost und West - eine Zeit manch schmerzvoller Abschiede, vor allem aber eines großen gemeinsamen Aufbruchs.


Literatur:

Johannes Bröcker et al. (Hrsg.), Innovation Clusters and Interregional Competition, Berlin 2003 Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.), Zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands 2001, Bonn 2002
Chris Freeman und Luc Soete, The Economics of Industrial Innovation, 3. Auflage, Cambridge, Massachusetts 1999
A. Gerybaze et al., Globales Management von Forschung und Innovation, Stuttgart 1997
Stefan Kuhlmann, Governance and Intelligence in Research and Innovation Systems: Address delivered upon the acceptance of the office of a Fraunhofer-ISI Professor of Innovation Policy Analysis at Utrecht University on October 7, 2002
David C. Mowery und Richard R. Nelson (Hrsg.), Sources of Industrial Leadership: Studies of Seven Industries, Cambridge 1999
David C. Mowery und Nathan Rosenberg, Paths of Innovation: Technological Change in 20th Century America, Cambridge 1999
Richard R. Nelson (Hrsg.), National Innovation Systems: A Comparative Analysis, Oxford 1993 Nathan Rosenberg, Exploring the black box: Technology, Economics, and History, Cambridge 1994
Frank-Walter Steinmeier, Abschied von den Machern, in: Die Zeit vom 1.3.2001
Frank-Walter Steinmeier, Das Bündnis für Arbeit - Werkstatt oder Bühne?, in: Böckler zum Bündnis, Nr. 26, Dezember 2002, S. 4
Bernd Ulrich, Alle Deutschen werden Brüder, in: Die Zeit vom 30.10.2003
Warnecke, Hans-Jürgen (Hg.): Projekt Zukunft. Die Megatrends in Wissenschaft und Technik, Köln 1999

Der Aufsatz entstammt dem von Frank-Walter Steinmeier und Matthias Machnig herausgegebenen Band "Made in Germany ′21: Innovationen für eine gerechte Zukunft. Mit einem Vorwort von Bundeskanzler Gerhard Schröder", Hamburg: Hoffmann und Campe 2004, 576 Seiten, 14,90 Euro.

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