Auf der Höhe des Faxgerätes

Gentechnologie und Gen-Business werden sich in den nächsten Jahrzehnten mit dramatischem Tempo entwickeln. Genau jetzt ist der Moment zu überlegen, wo dabei die Chancen liegen - und welche Grenzen gezogen werden müssen

Was ein Fall: Eine Frau amputiert sich die Brüste aus Angst vor Brustkrebs. So stand es in den ersten Meldungen, ziemlich verknappt. Wüste Bilder im Kopf, krause Gedanken. Muss ich mir jetzt die Lunge herausreißen, weil ich gelegentlich rauche und sogar inhaliere? Oft hilft recherchieren, und abregen auch. So wüst wie die Story klang, war sie dann doch nicht. Wer sich die Brüste verschönern lässt, geht routinemäßig zum Check oder lässt justieren. Bei ohnehin geöffneter Naht lässt sich Drüsengewebe entfernen, was mit blutigen Knochensägen nicht mehr ganz so viel zu tun hat. Gynäkologen bestätigen, dass es durchaus üblich und vernünftig sei, bei risikoreichen Genmustern präventiv einzugreifen.

Hoffnung auf ein frischzelliges Leben

In derselben Mai-Woche wurde ein weiterer Erfolg aus der Genforschung vermeldet. Craig Venter und seine Sequenzierung des menschlichen Erbguts war ein Weltaufreger, das Klonschaf Dolly auch noch. Die Hochstapeleien des vermeintlichen Embryo-Kloners Hwang Woo Suk aus Südkorea erwiesen sich 2005 dagegen als Betrug. Nun ist es soweit: Klonen klappt. Und die Fantasien, die der Gen-Markt bei Forschern wie Ökonomen entfesselt, werden dafür sorgen, dass das Fortschrittstempo gewaltig hoch bleibt.

Schon richtig, niemand hat die Absicht einen Menschen nachzubauen. Es wäre vermutlich ein fragiles Wesen. Auch die geläufigste Horrorvorstellung – Millionen Klon-Krieger, die sich die Welt Untertan machen – dürfte noch eine Weile Science Fiction bleiben. Stattdessen scheint die weltweite Panik langsam von wachsender Hoffnung auf ein langes, gesundes, frischzelliges Leben verscheucht zu werden. Neues Gewebe, neue Organe, Reparaturen am menschlichen Körper, vielleicht Drüsengewebe aus Stammzellen statt jenes Bausilikon, das in Frankreich verarbeitet wurde. Wie wundervoll.

Die Erfahrung allerdings lehrt eine andere Geschichte. All die großartigen Versprechen, die Forschung und Pharma-industrie in den letzten Jahrzehnten gemacht haben, sind – sagen wir es vorsichtig – erstens deutlich langsamer und zweitens nicht ganz so großartig wie angekündigt eingetroffen. Ein paar Krebsarten sind immerhin ganz gut im Griff, der Kampf gegen das HI-Virus scheint erfolgreich. Das Tempo wiederum, mit dem sich Viren verändern, ist grauenvoll. Kurzum: Heilsversprechen sind schnell gemacht, konkrete Erfolge dagegen meist mit Mühe verbunden.

Was das alles mit Angelina Jolie zu tun hat und dem Wettlauf der Klon-Forscher? Ganz einfach. Es werden neue Fragen aufgeworfen, fundamentale Fragen der Menschheit: Wie weit dürfen präventive Amputationen gehen? Darf sich einer das Leben nehmen, wenn die Gene zu 99 Prozent zehn eklige letzte Jahre in armseliger Pflege verheißen und kein Geld für Premium-Betreuung da ist? Schließlich: Soll die Politik dem Hoffnungs-Business der Gen-Industrie weitgehend freie Hand lassen und dem Individuum im Umgang damit?

Politik und Gesellschaft ringen seit langem und durchaus anspruchsvoll um den Embryonenschutz. Aber das ist erst der Anfang. Am Beispiel der Angelina Jolie lässt sich ahnen, welche Märkte in Zukunft heranwachsen: Die Schauspielerin hat aufgrund einer Genanalyse entschieden. Diese Analysen werden immer mehr, immer feiner, immer komplexer werden, je dramatischer die Rechenleistung wächst. Big Data ist eines der Megathemen in der digitalen Welt. Wir befinden uns beim gentechnologischen Fortschritt derzeit ungefähr auf der Höhe des Faxgeräts. In den nächsten Jahrzehnten werden wir gigantische Entwicklungen erleben: Wir machen ein neues Fenster der Menschheit auf. Wir können unsere eigenen Gene begucken, aber auch die unserer Embryonen oder unserer Mitmenschen. Wir können Informationen kombinieren, also Gendaten mit Lebensgewohnheitsdaten, mit Kontodaten, mit Bewegungsprofilen. Und daraus können wir Wahrscheinlichkeiten errechnen.

Eines Tages wird nicht nur die Gen-Folge betrachtet, sondern die DNA in Beziehung gesetzt werden zum menschlichen Verhalten. Aus diesen Datenmengen lassen sich eben jene Algorithmen herauslesen, die heute beim Online-Buchhändler verkünden: „Wenn Sie diesen Titel mögen, wird Ihnen auch jener gefallen.“ Noch reden wir über Kaufempfehlungen oder Wahrscheinlichkeiten von Krankheiten. Aber da geht noch mehr. In Zukunft heißt es vielleicht: „Ihre Gene und die ersten 40 Jahre Ihres Lebens lassen mit 93 Prozent Wahrscheinlichkeit auf eine Hartz-IV-Zukunft schließen. Die Kosten, die Sie der Gemeinschaft voraussichtlich aufbürden, betragen 472.978,43 Euro.“ Und jetzt?

Tausend andere Szenarien sind denkbar. Und irgendeines davon wird schneller kommen als der Gesetzgeber reagieren kann. Nach dem Internet wird das globale Gen-Business zum nächsten großen und in Teilen ungeregelten Abenteuerspielplatz ohne abgerundete Ecken.

Das Milliardengeschäft läuft gerade an

Abseits jeglicher Frankensteinereien sind drei Faktoren bereits Realität. Erstens: Es gibt eine gewaltige Nachfrage. Natürlich wollen wir alles über uns und andere wissen, wir wollen in Gottes Lotterie gucken. Dafür zahlen wir gern. Und weil wir keine Ahnung haben, aber sehr empfänglich sind für jede Art von Voodoo, sobald es um Gesundheit geht, zahlen wir für Scharlatanereien besonders gern.

Zweitens: Die Gen-Industrie ist ein privatwirtschaftliches Geschäft. Und die Vorstellungskraft ist gewaltig. Bereits heute wird via Internet für 99 Dollar eine Art Volksgentest angeboten, mit vielleicht Wissenswertem über Krankheiten oder Vorfahren. Seriös? Egal. Ein Milliardengeschäft läuft an.

Erst mal laufen lassen? Lieber nicht!

Drittens: Das Gen-Business ist globalisiert und entzieht sich weitestgehend nationalen Gesetzen, Regeln und Kontrollen. Die Technologie ist der Politik längst enteilt, wie damals bei der Datenautobahn. Als die ersten Netze längst geknüpft waren und die Claims verteilt wurden, dachte die Politik noch an Asphalt. Und mal ehrlich: Welcher deutsche Parlamentarier traut sich einen Fachaufsatz zum Stand der Klonforschung zu, also nicht mal das Verfassen, sondern erst mal nur Lesen und Verstehen?

Schon klar, die Nazi-Keule ist billig. Dennoch macht die Kombination von Wissenschaft und Rechenkraft möglich, wovon der „Herrenmensch“ seinerzeit träumte. Den perfekten Menschen züchten, indem man alles nicht als perfekt Wahrgenommene vernichtet. Aber wer entscheidet, was nicht perfekt ist? Politik? Wissenschaft? Finanzamt? Harald Glööckler? Wäre ganz beruhigend zu wissen, dass Parlamente zumindest dabei sind.

Genau jetzt ist der Moment zu überlegen, wie wir mit dem Gen-Business umgehen wollen, wo Chancen liegen, wo Grenzen zu ziehen sind. Aber es wird so kommen wie bei allen anderen Innovationen: erst mal laufen lassen. Und frühestens in zwanzig Jahren Alarm schreien.

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