Auf der Höhe der Zeit

Landtagswahlen II: Gegen den bundesweiten Trend gewann die SPD in Brandenburg am 27. September Stimmen hinzu und kam am Ende auf 33 Prozent. Die zehn wichtigsten Ursachen des Erfolgs der märkischen Sozialdemokraten analysiert Thomas Kralinski

Am 27. September 2009 hat die SPD die Bundestagswahlen verloren. Doch während (und obgleich) die SPD bundesweit um 11 Prozent einbrach, gewann sie am selben Tag die Landtagswahlen in Brandenburg. Dort legte die SPD sogar gut ein Prozent zu und kam am Ende auf 33 Prozent – 10 Prozent mehr als bei der Bundestagswahl. Eine größere Dehnung eines Wahlergebnisses an ein und demselben Tag ist wahrscheinlich kaum möglich.


Nun kann man sich als Beteiligter nach gewonnener Wahl immer gut hinstellen und behaupten, alles richtig gemacht zu haben. Wer tief in der Kampagne verankert ist, weiß nur zu gut, dass dies Unsinn wäre. Aber immerhin: Gelungen ist in Brandenburg eine ganze Menge. Und das sind wahrlich keine Geheimnisse – die zehn wichtigsten Erfolgsfaktoren seien deshalb hier kurz beschrieben.

Erstens: Nach der Wahl ist vor der Wahl. Die Landtagswahl von 2004 war für die Brandenburger SPD ein einschneidendes Erlebnis. Noch drei Wochen vor der Wahl lag die Partei in den Umfragen um 9 Prozent hinter der PDS, am Wahltag dann 4 Prozent vor den Postkommunisten. Vorangegangen war ein beispielloser Kraftakt. Auf dem Höhepunkt der Proteste gegen Hartz IV und die Agenda 2010 zog Matthias Platzeck über die Marktplätze, verteidigte die Bundesregierung und warb um Vertrauen. Am Ende gewann er die Wahl. Und trotzdem – oder gerade deshalb – änderte sich manches in der Politik der Brandenburger SPD. Die Sozialdemokraten haben kontinuierlich auf wissenschaftliche Begleitung und Beratung gesetzt, sei es durch Meinungsforscher, durch Politik- und Sozialwissenschaftler oder Unternehmer. Ein wichtiges Element war dabei die Zeitschrift Perspektive 21, die der Landesverband der SPD viermal im Jahr herausgibt. Die Zeitschrift – im Untertitel: „Brandenburgische Hefte für Wissenschaft und Politik“ – ist Brandenburgs zentrales politisches Debattenmagazin, in dem unterschiedliche Autoren – von Günter Jauch und Juli Zeh bis Wolfgang Schroeder und Hans Joachim Schellnhuber – in die politische Debatte eingreifen. Mit der Perspektive 21 erreicht die SPD wichtige Multiplikatoren im Umfeld der SPD, in Wissenschaft, Medien und Politik. Das Magazin dürfte bundesweit einzigartig für eine Landespartei sein.

Mit dem Gesicht zu den Menschen

Zweitens: Mit dem Gesicht zu den Menschen. Der Wahlkampf von 2004 hatte den zuvor erfolgsverwöhnten Brandenburger Sozialdemokraten die große Lücke verdeutlicht, die breite Bevölkerungsschichten zur Politik empfinden. Die Landtagsfraktion stellte ihr Konzept der Politikvermittlung daher unter den Slogan „Mit dem Gesicht zu den Menschen“. Dazu gehörten zahlreiche Veranstaltungsreihen, ungezählte Wahlkreisbereisungen und Infomaterialien, die streng auf die Interessen der Bürger ausgerichtet waren. Einbezogen waren alle: vom einfachen Landtagsabgeordneten über den Fraktionsvorsitzenden bis hin zu allen Ministern. Kein Volksfest war vor Sozialdemokraten sicher, keine Zuschrift blieb unbeantwortet. Dabei ließ sich auch eine einfache Erfahrung machen: Die Leute vertragen unangenehme Wahrheiten. Sagen und erklären, was geht, aber auch sagen und erklären, was nicht geht – mit diesem Konzept machte die SPD fünf Jahre lang erfolgreich Politik.

Es bleibt bei Innovation und Gerechtigkeit

Drittens: Die Partei der Mitte. Die SPD in Ostdeutschland ist die Partei der Mitte, rechts von ihr sitzt die CDU, links von ihr ackert die Linkspartei. Diese Position erfordert einiges Geschick, um das Beste aus ihr zu machen und nicht zerrieben zu werden. Das geht nur mit einem überzeugenden Konzept und entsprechendem Selbstbewusstsein. Zum Erfolgsrezept der Brandenburger SPD gehört, dass sie ihre Mitte-Position nie aufgegeben hat, dass bei ihr in Stil und Inhalt, soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Vernunft immer Hand in Hand gegangen sind. Beide Komponenten bedingen einander, beides gehört zusammen. Gerhard Schröder hatte dies 1998 auf die schöne Formel von „Innovation und Gerechtigkeit“ gebracht – kürzer kann man das Brandenburger sozialdemokratische Politikkonzept kaum zusammenfassen.

Viertens: Versprochen, gehalten. Die Grundlage für einen Wahlerfolg 2009 wurde in den vergangenen fünf Jahren gelegt. Priorität hatte die Erfüllung des Wahlprogramms – und das öffentliche Reden darüber. In Gruppendiskussionen fordern die Bürger immer wieder Bilanzen und Zwischenergebnisse ein. Die sollten sie bekommen: Immer wieder berichtete die SPD öffentlich, was bisher geschafft wurde, ob und wie weit der Koalitionsvertrag und das Wahlprogramm abgearbeitet sei. Nach dem Prinzip „Versprochen, gehalten“ wurden die Ergebnisse der Regierungspolitik erläutert und das Regierungshandeln sozialdemokratisch aufgeladen. Am Ende stand eine beeindruckende Zahl: Etwa 90 Prozent (!) der Vorhaben aus dem Wahlprogramm (nicht der Koalitionsvereinbarung) waren am Ende der Wahlperiode abgearbeitet – ein wichtiger Baustein für neue Glaubwürdigkeit, vor allem aber für neue Kompetenz. Denn diese war der SPD 2004 kaum noch zugeschrieben worden. Das sah im Herbst 2009 anders aus. Auf allen wichtigen Politikfeldern, von der Bildung über den Arbeitsmarkt und die soziale Gerechtigkeit bis hin zur Wirtschaft wurde die Brandenburger SPD als die kompetenteste der konkurrierenden Parteien angesehen.

Auf die Ehrenamtler kommt es an

Fünftens: It’s the Ehrenamt, stupid. Wenn die Mitglieder aller Parteien zusammen gerade einmal ein Prozent der Wählerschaft repräsentieren, ist es an der Zeit, neue Kommunikationswege zu suchen – damit Demokratie nicht austrocknet. Eine zunehmend wichtigere Rolle für den Zusammenhalt in der Gesellschaft spielt deshalb das ehrenamtliche Engagement jenseits von Parteien – sei es im Sport, in der Feuerwehr, in Bürgerinitiativen, in Heimatvereinen oder sozialen Netzwerken. In der Staatskanzlei wurde eine Koordinierungsstelle für ehrenamtliches Engagement aufgebaut, mit der der Draht von der Landespolitik in die Mitte der Gesellschaft strategisch verstärkt, eine Kultur der Anerkennung und des Engagements aufgebaut wurde. Ziel war und ist es, eine neue politische Kultur im Land zu etablieren – bei der die Sache des Landes die Sache aller wird. Dass dies gelingen kann, zeigen die gestiegenen Wahlbeteiligungen zu den Landtags-, Europa- und Kommunalwahlen. Auch die SPD hat in ihrer politischen Kommunikation stärker als je zuvor auf Ehrenamtler gesetzt. Wichtigster Bestandteil war die Sommertour ihres Spitzenkandidaten Matthias Platzeck. Mit einem Zelt zog er über Wochen durch 18 Brandenburger Orte, eingeladen waren jeweils 150 bis 200 Gäste aus Vereinen, Initiativen, Unternehmen, Verbänden und sozialen Einrichtungen. Diese Abende wurden so zu Kommunikationstreffpunkten der Engagierten in der jeweiligen Region – und ein wichtiger Baustein in der Wahlkampfstrategie der SPD.

Sechstens: Die sozialdemokratische Erzählung. Jeder erfahrene Wahlkämpfer weiß: Programme liest sowieso niemand. Doch das muss nicht unbedingt so sein. Deshalb hatten die Wahlkämpfer von Anfang an das Ziel, das „Regierungsprogramm“ so stringent, kurz und knapp wie möglich zu halten. Vor allem aber sollte es darstellen, was unter sozialdemokratischer Führung geschafft wurde und welche neuen Fragen auf der Agenda standen. In klarer und verständlicher Sprache wurde eine „sozialdemokratische Erzählung“ entwickelt, die sozialdemokratische Antworten auf der Höhe der Zeit gibt. Neben der wirtschaftlichen Modernisierung beschrieb das Wahlprogramm neue Aufstiegschancen – mittels Schüler-Bafög, kleineren Gruppen in der Kita, neuen Lehrern, einem Studium ohne Gebühren oder einem Mindestlohn- und Vergabegesetz. Mit dem Programm sollten wichtige Wählergruppen angesprochen und der sozialdemokratischen Kernanhängerschaft vermittelt werden, wie soziale Gerechtigkeit und Fortschritt im 21. Jahrhundert aussehen können. Dass dies gut gelungen zu sein scheint, zeigen die Zuwächse bei jüngeren und „mittelalten“ Wählern sowie die stabile Unterstützung der SPD durch die Frauen.

„Es geht um Brandenburg“

Siebtens: Eine klare Botschaft. Für jeden Wahlkampf gilt: Wer gewinnen will, muss gewinnen wollen. Dazu braucht er eine klare Botschaft und eine eindeutige Strategie, entwickelt durch ein gut vernetztes strategisches Zentrum. Nun fand 2009 auch die Bundestagswahl statt, die zwar für eine politische Grundaufmerksamkeit sorgte, andererseits jedoch Themen und Auseinandersetzungen auf der Landesebene zu dominieren drohte. Für die Brandenburger SPD kam es – gerade angesichts der schwächelnden Bundespartei – darauf an, eine zentrale Botschaft unters Volk zu bringen: „Es geht um Brandenburg.“ Dass sich damit die Entscheidung über den Brandenburger Ministerpräsidenten verband, war dann fast nur noch eine Formsache. Deshalb hat sich die Brandenburger SPD bundespolitischer Debatten weitgehend entzogen – und sich voll auf die gute Leistungsbilanz der Landesregierung und ihre sozialdemokratischen Kernvorhaben konzentriert. „Viel geschafft, noch viel zu tun“ – das war die Grundhaltung, mit der die SPD im Land auftrat. Am Ende erhielt die SPD in Brandenburg bei der Landtagswahl 33 Prozent und bei der Bundestagswahl 25 Prozent der Stimmen.  Eine größere Spreizung hat es in der bundesdeutschen Wahlgeschichte bei am selben Tag stattfindenden Wahlen noch nicht gegeben.

Achtens: Der Brandenburger. Es ist immer einfacher, eine Wahl  mit einem populären Spitzenkandidaten zu gewinnen, keine Frage. Deshalb war der kognitive Sprung von „Es geht um Brandenburg“ zu „Es geht um Matthias Platzeck“ auch nicht so schwer. Umfragen zeigten immer wieder die überragende Popularität und Kompetenz des Landesvaters – zwischen 70 und 80 Prozent der Brandenburger schätzen Matthias Platzeck als guten Ministerpräsidenten ein. Deshalb stand er in der Schlussphase im Zentrum der Wahlkampagne. Wohl einmalig in der Geschichte deutscher Wahlkämpfe dürfte gewesen sein, dass die Spitzenkandidatinnen von CDU und Linkspartei alles taten, um den Eindruck zu vermitteln, sie wollten nicht Ministerpräsidentin werden. So war Platzeck auch der einzige Brandenburger Spitzenkandidat, der mit einer Kundgebungstour über die Marktplätze des Landes zog und stets zwischen 300 und 2.000 Menschen anzog. Das hohe Ansehen – und zwar über alle Parteigrenzen hinweg –, das Platzeck genießt, machte ihn im Wahlkampf als „Der Brandenburger“ nahezu unangreifbar. Und dennoch: Am Wahlabend gaben deutlich weniger Wähler als 2004 an, die SPD vor allem wegen ihres Spitzenkandidaten gewählt zu haben. So entstand eine glaubwürdige Mischung aus Persönlichkeits- und Kompetenzwahl, die ein gutes Fundament für die Arbeit in den kommenden Jahren ist.

Neuntens: Zukunft braucht Herkunft. 2009 markiert das 20. Jahr nach der friedlichen Revolution in der DDR. Dieser Jahrestag zog sich durch fast das ganze (Wahl-)Jahr. Bis zum Ende des Solidarpaktes 2019 sind jetzt zwei Drittel der Wegstrecke zurückgelegt, die Nachwendezeit ist definitiv vorbei, das dritte (und letzte) Jahrzehnt der besonderen Unterstützung der neuen durch die alten Länder beginnt. Zum ersten Mal wählten Brandenburger, die erst nach der friedlichen Revolution zur Welt gekommen sind, ihre Regierung. All das mögen Gründe sein, warum das Interesse an Aufarbeitung, Erinnerung und Selbstvergewisserung in Ostdeutschland so groß war und ist. In diese Stimmung hinein schrieb Matthias Platzeck sein Buch Zukunft braucht Herkunft. Es wurde zur Folie für eine Debatte über den Aufbau Ost, die bisher viel zu sehr durch westdeutsche Blickwinkel geführt wurde (und wird). Seine Grundthese: Lasst uns nicht so sehr über 40 Jahre DDR, sondern vor allem über die 20 Aufbaujahre nach 1989 reden – eine Zeit, in der in Ostdeutschland eine moderne Region in der Mitte Europas entstanden ist, auf die es sich lohnt, stolz zu sein. Mit diesem gesunden ostdeutschen Selbstbewusstsein – nach innen und nach außen – traf Platzeck genau die Stimmung, die viele Ostdeutsche bewegt. In eben dieser Tonlage – stolz, aber noch längst nicht zufrieden – gestaltete Platzeck auch seine Wahlkampagne und unterstrich damit seine Stellung als gesamtdeutscher Politiker mit ostdeutscher Herkunft.

Wähler wünschen keine Selbstbeschäftigung

Zehntens: Eine SPD (und nicht mehrere).
Wenn es ein Geheimnis des Erfolgs der Brandenburger SPD geben sollte, dann ist es ihre große Geschlossenheit. Zumindest in diesem Landesverband haben die allermeisten Sozialdemokraten tief verinnerlicht, dass es nach außen immer nur eine SPD geben kann und darf; dass die Leute „draußen im Land“ kein Interesse an innerparteilichen Gruppen und Grüppchen haben, sondern dass sie vor allem gut und stabil regiert werden wollen – und zwar von einer Partei, die mit sich selbst im Reinen ist und nicht mit hängenden Schultern durchs Land läuft. Wähler mögen sich zwischen den Wahltagen nicht sonderlich für Politik interessieren, doch sie haben ein feines Gespür dafür, ob sich Parteien hauptsächlich um sich selbst kümmern (wie beispielsweise die Brandenburger CDU, die auch prompt ein entsprechendes Wahlergebnis unter 20 Prozent einfuhr) oder an tauglichen Lösungen für die Probleme des Landes arbeiten. Geholfen haben mag dabei, dass die Brandenburger SPD quasi seit ihrer Geburtsstunde 1990 regiert und sich nie von ihrer eigenen Regierungspolitik distanziert hat. Deshalb hat die Brandenburger SPD 2004 die Arbeitsmarktreformen der Bundesregierung verteidigt und auch 2009 loyal den Kurs der Bundespartei mitgetragen. Nur so war eine Kommunikation ohne Friktionen möglich. Dies mag bisweilen ein schwerer Gang sein, bietet dafür aber die Voraussetzung für ein hohes Maß an Vertrauenswürdigkeit bei den Wählerinnen und Wählern.

Der Wahlkampf 2014 beginnt heute

Ein Nachtrag: Vor die Wahl gestellt. Das Ergebnis der Brandenburger Landtagswahl bestätigte die SPD als die prägende Partei des Landes. Die Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen führten zu einem Bündnis mit der Linkspartei, das sich nun vor großen Herausforderungen sieht. Die neue Regierung hat sich vorgenommen, mehr Lebenschancen für mehr Brandenburger zu schaffen, die wirtschaftliche Erneuerung fortzusetzen, den Landeshaushalt zu konsolidieren und – ohne irgendwelche Schlussstriche – die schwierige Debatte um die DDR-Vergangenheit zum Wohle der Zukunft des Landes zu führen. Dabei hat Willy Brandts Satz uneingeschränkt Gültigkeit: „Nichts kommt von selbst und nur wenig ist von Dauer“. Der Kampf um den Wahlsieg 2014 beginnt heute.

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