Auf den Wellen der Volksstimmung

Wenn die SPD nach links einschwenkt, macht sie populistische Forderungen salonfähig, ohne diese erfüllen zu können. Warum Sozialdemokraten nicht darauf hoffen sollten, mit linker Programmatik linke Protestwähler zurückgewinnen zu können

Die Demoskopen sagen voraus, dass „soziale Gerechtigkeit“ das zentrale Thema des nächsten Bundestagswahlkampfs werden wird. Offensichtlich haben das stabile Wirtschaftswachstum, die Rekordgewinne der Unternehmen und die Erholung der öffentlichen Haushalte dafür gesorgt, dass die Begehrlichkeiten wachsen und die Verteilungsfrage wieder salonfähig ist.

Obwohl die SPD traditionell die Partei der sozialen Gerechtigkeit ist, profitiert sie von dieser Stimmungslage nicht. In den Umfragen liegt sie weiterhin nur bei etwa 30 Prozent. Aus heutiger Sicht erscheinen die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik, als die 40-Prozent-Marke noch ein realistisches Ziel war, regelrecht komfortabel für die Sozialdemokratie. Jedoch kommt das linke Parteienspektrum insgesamt – also SPD, Grüne und PDS/Linkspartei – bei Umfragen regelmäßig auf annähernd die Hälfte der Wählerstimmen. Hingegen ist eine bürgerliche Mehrheit, wie sie in der Bonner Republik die Regel war, zur Ausnahme geworden.

Für einige Genossen, besonders jene, die in den siebziger Jahren politisch sozialisiert wurden, gibt diese Situation Anlass zur Kritik: Wieder habe es die SPD zugelassen, dass links von ihr eine neue Partei entstanden sei. So wie die Grünen in den achtziger Jahren Fleisch vom Fleische der SPD waren, seien schließlich auch die heutigen Wähler der PDS/Linkspartei überwiegend frustrierte Sozialdemokraten. Und so wie sich damals der sture Helmut Schmidt der Friedens- und Umweltbewegung verweigert habe, sei nun Gerhard Schröder mit seinen Arbeitsmarktreformen Schuld an der Misere. Folglich lautet die Empfehlung, die SPD möge sich nach links bewegen, um für die Wähler der PDS/Linkspartei wieder wählbar zu werden. Sie müsse sich gegenüber der PDS/Linkspartei „öffnen“, wie es in einem subtil vorwurfsvollen Text des Juso-Bundesverbandes heißt. „Sich öffnen“ – das klingt, als habe man eine Verstocktheit zu überwinden, in die man sich verrannt hat; als täte man der PDS/Linkspartei und ihren Wählern permanent Unrecht.

Gewissensnot und tradierte Reflexe

Der zurückliegende Hamburger Parteitag hat Konzessionen gemacht, die sicher auch dem Druck von links geschuldet waren. Der demokratische Sozialismus ist, nachdem er im Bremer Programmentwurf zunächst kaum mehr eine Rolle spielte, expressis verbis wieder sozialdemokratisches Ziel. Auch Veränderungen an der Agenda 2010 sind kein Tabu mehr, wie die beschlossene Verlängerung des Arbeitslosengeldes I für Ältere zeigt. Von einem tatsächlichen „Linksrutsch“, den einige Medien ausmachten, kann jedoch nicht die Rede sein. Von der PDS/Linkspartei lasse man sich nicht beeindrucken, betonte die Parteispitze wiederholt.

Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die SPD ihr linkes Gewissen plagt, seit eine Partei links von ihr zu einer politisch relevanten Größe herangewachsen ist. Zwar hat die SPD keinen Alleinvertretungsanspruch auf den Titel „Partei der sozialen Gerechtigkeit“, aber doch einen tradierten Reflex, die linke Wählerklientel für sich zu beanspruchen. Das ist verständlich. Denn es ist nicht nur ein parteipolitischer Erfolg, sondern ein Beitrag zur demokratischen Stabilität, wenn die Parteien der politischen Mitte möglichst viele Wähler für sich gewinnen können. Deshalb muss es die SPD durchaus als ihre Aufgabe verstehen, nach links integrativ zu wirken, so wie die Union sich bemüht, auch den rechten Rand anzusprechen (wobei die Union hier die leichtere Aufgabe hat, weil rechtsextreme Positionen aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit viel stärker tabuisiert sind als linker Radikalismus).

Dieser staatspolitische Integrationsauftrag bedeutet aber nicht, dem Druck programmatisch und inhaltlich nachzugeben. Eine Kurskorrektur der SPD nach links wäre nicht nur politisch bedenklich, sondern auch wahltaktisch unklug. Das macht ein Vergleich mit der Situation in den achtziger Jahren deutlich.

Die Achtziger waren für die SPD entscheidend dadurch geprägt, dass sie mit den neu entstandenen Grünen um die postmaterialistischen Wähler konkurrierte. Es waren keine besonders erfolgreichen Jahre für die Partei. Angesichts der sich auch parteipolitisch formierenden Umwelt- und Friedensbewegung versuchte der linke Flügel der Sozialdemokratie, die neuen sozialen Themen auch in die SPD zu tragen.  So rückte die SPD nach dem Regierungsverlust im Jahr 1982 deutlich nach links. Die SPD bemühte sich redlich zu demonstrieren, dass sie bereit sei, die neuen Impulse aufzugreifen und es ernst meine mit Frieden und Umweltschutz. Auf dem Kölner Parteitag 1983 sprach sie sich mit überwältigender Mehrheit gegen den Nato-Doppelbeschluss aus – der noch wenige Monate zuvor Beschlusslage der Partei gewesen war. Auch organisatorisch öffnete sie sich der Friedensbewegung.

Als die SPD gleich doppelt verlor

Diese Kehrtwendung war trotz eindeutiger Mehrheitsverhältnisse auf dem Parteitag aus guten Gründen umstritten. Denn große Teile der Friedensbewegung – wie die Grünen zu Beginn der achtziger Jahre – nahmen eine Position der Äquidistanz zu den beiden Blöcken der Nato und des Warschauer Pakts ein. Die Öffnung hin zur Friedensbewegung berührte den außenpolitischen Grundkonsens der Bundesrepublik.

Obwohl sich die SPD so deutlich um eine abtrünnig gewordene Minderheit der linksorientierten Wählerschaft bemühte, konnte sie nicht verhindern, dass sich die Grünen als neue parlamentarische Kraft etablierten. Zugleich verlor die SPD in der politischen Mitte und im klassischen Arbeitnehmerlager Wählerstimmen an die Union. Doch statt von dieser Strategie Abstand zu nehmen, begann ein Werben um die friedens-, frauen- und umweltbewegten Jungwähler. Den klassischen SPD-Wähler ließ die Partei buchstäblich in der Mitte liegen.

Sicher gibt es viele Gründe, warum die SPD in den achtziger Jahren in der Opposition verharrte. Besonders interessant ist die Frage, warum es nicht gelang, mit linker Programmatik linke Wähler zurückzugewinnen. Offenkundig ist die Stimme des linken Protestwählers als Mahnung und Magnet links von der SPD wirksamer als für eine linksgewendete SPD. Durch den Kurswechsel fühlt sich dieser bestätigt: Protestwählen funktioniert! Indem er abtrünnig bleibt, hält er den Druck aufrecht.

Hinzu kommt eine im linken Spektrum verbreitete Grundskepsis gegenüber politischer Macht, die es in dieser Form bei den Konservativen nicht gibt. Die Grünen haben diese Haltung regelrecht kultiviert. Für viele Linke stehen Politiker in Entscheidungspositionen unter Generalverdacht, langfristig den Versuchungen der Macht, den Einflüsterungen der Wirtschaftslobbyisten und anderen korrumpierenden Kräften des Systems zu erliegen. Deshalb sollen diese ständig unter Dampf stehen; der Zorn des Volkes muss gewissermaßen ständig als Damoklesschwert über ihrem Amt schweben. Dementsprechend geriert sich die PDS/Linkspartei als Stimme des Volkes, der „kleinen Leute“ gegen „die da oben“.

Einmal wählen, doppelt Druck machen

Der Gedanke, dass der Druck von der Basis als politischer Faktor ständig präsent sein muss, ist unter sozialistischen Theoretikern weit verbreitet. Von rätedemokratischen Modellen über Rosa Luxemburgs Konzept der Massenerhebung, durch die „die Wellen der Volksstimmung in wunderbarer Weise auf die Vertretungskörperschaften wirken“ bis hin zu Trotzkis „permanenter Revolution“ – dahinter steht immer jenes Misstrauen gegen institutionell gefestigte Entscheidungsstrukturen, das auch in der Agitation des aktuellen Linkspopulismus gegen „die da oben“ mitschwingt. Ein solcher Habitus ist durch programmatisches Entgegenkommen kaum zufriedenzustellen. Wenn sich die SPD nach links bewegt, wird sie eher die Einschätzung bestätigen, dass sie den Druck von links nötig habe.

Das Kreuzchen weiterhin links von der SPD zu machen, bewirkt zudem das, was als „Doppelrepräsentanz“ bezeichnet wird – ein Phänomen, das auch in den achtziger Jahren zu beobachten war. Angetrieben von den Wählern der Grünen, nahm die SPD grüne Positionen ein. Diejenigen, die sich eine grünere SPD gewünscht hatten, wählten aber überwiegend weiter die Grünen. Damit waren die grünen Positionen doppelt vertreten. Wer sich heute für die PDS/Linkspartei entscheidet, erreicht also gleich beides: Magnetwirkung und Doppelrepräsentanz.

Als Regierungspartei muss sich die SPD programmatisch im Rahmen des Möglichen bewegen. Das Wünschbare muss mit den Grundsätzen der Nachhaltigkeit vereinbar und staatspolitisch verantwortbar bleiben. Von wenigen historischen Sondersituationen abgesehen, existiert immer ein Rest Unzufriedener in der Gesellschaft, die sich dem Prinzip der Machbarkeit verweigern. Zumal die Klientel der SPD als Partei der sozialen Gerechtigkeit für das Anprangern sozialer Missstände besonders empfänglich ist. Genau hier setzen die Populisten und Utopisten an, um der Sozialdemokratie von links Konkurrenz zu machen. Schwenkt die SPD ein, macht sie populistische Forderungen salonfähig, ohne diese befriedigen zu können. Die Rolle als linke Regierungspartei, die den sozialen Ausgleich realpolitisch verwirklicht und nachhaltig gestaltet: Das muss das Alleinstellungsmerkmal der Sozialdemokratie sein.

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