In die Idylle führt kein Weg zurück

Mit der Entscheidung zum Ausstieg aus der Atomenergie hat Deutschland einen im internationalen Maßstab besonders ambitionierten Sonderweg eingeschlagen - ein mutiges, aber riskantes Unterfangen. Dass dieser Kurs nur dann erfolgreich sein kann, wenn er mit einem offensiven Bekenntnis zu wissenschaftlichem und technologischem Fortschritt verbunden wird, haben hierzulande noch längst nicht alle verstanden.

Mit der Entscheidung zum Ausstieg aus der Atomenergie hat Deutschland einen im internationalen Maßstab besonders ambitionierten Sonderweg eingeschlagen – ein mutiges, aber riskantes Unterfangen. Dass dieser Kurs nur dann erfolgreich sein kann, wenn er mit einem offensiven Bekenntnis zu wissenschaftlichem und technologischem Fortschritt verbunden wird, haben hierzulande noch längst nicht alle verstanden.

Die Deutschen werden noch lange damit leben müssen, von ihren europäischen Nachbarn mit Unbehagen, wenn nicht mit Misstrauen betrachtet zu werden. Wer meinte, dies sei siebzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust nicht mehr möglich, verrät wenig Geschichtssinn. Nicht von ungefähr häufen sich seit der Finanz- und Schuldenkrise in den europäischen Medien Nazi-Vergleiche und Hakenkreuze. Viele Europäer haben die Vergangenheit nicht vergessen. Das kann nicht überraschen. In harten Zeiten wächst die Neigung, sich auf die eigene Nation zurückzuziehen und zugleich einem als übermächtig empfundenen Nachbarn mit Argwohn zu begegnen.

Passend dazu hat der linksliberale britische Guardian in diesem September eine Serie von Artikeln über das rätselhafte deutsche Wesen veröffentlicht. Die Briten interessierte besonders, wie es zu der auffälligen Eigenschaft der Deutschen kam, mit Blick auf die Zukunft häufig die schlimmsten Befürchtungen zu hegen und sich zu hektischen Überreaktionen hinreißen zu lassen? Befragt wurde auch Bernard Schlink, der Autor des Bestsellers Der Vorleser. Schlink attestiert den Deutschen eine „Neigung zu Pessimismus und Melancholie“. Dieser Charakterzug mache es den Deutschen schwer, ihren komfortablen Lebensstandard zu genießen. Stets schwinge das Gefühl eines kommenden Verlustes oder herannahenden Unheils mit.

Eine dieser Überreaktionen, die bei ausländischen Beobachtern Sorge auslöste, war der Einstieg in die Energiewende – verbunden mit der Entscheidung, bis 2022 aus der Kernenergie auszusteigen und einen Teil der Reaktoren sofort stillzulegen. Das warf die Frage auf, warum nicht gleich alle Meiler abgeschaltet wurden, wenn das Risiko eines Tsunamis im Rheintal so besorgniserregend sein soll. Zudem gibt es einen weiteren Einwand gegen die Wendung in der deutschen Energiepolitik: Bis Fukushima war Deutschland im Verbund mit der EU stolz darauf gewesen, der Welt beim Klimaschutz den Weg zu weisen. Man wollte ein Vorbild sein und bei der Reduzierung von Kohlendioxid-Emissionen unilateral mit gutem Beispiel vorangehen, als ob einseitigen Vorleistungen jemals Erfolg beschieden war. Verbindliche internationale Abkommen wurden, wie zu erwarten war, doch nicht erreicht. Dass sich viele Deutsche gegen diese Erkenntnis lange gesträubt haben, ist ein weiterer Beleg für mangelnden Realitätssinn. Ohnehin verpufft jede Reduzierung von Kohlendioxid in Deutschland und in der EU im globalen Maßstab, weil Industriegiganten wie China und Indien immer mehr Kohlendioxid ausstoßen. Seit Mai vergangenen Jahres, seit dem Unglück von Fukushima, schert sich Deutschland nicht mehr ums hehre Ziel des Klimaschutzes. Die Angst vor einer hypothetischen Atomkatastrophe ist größer. Lieber nimmt man steigende deutsche Kohlendioxid-Emissionen und den Bau neuer Braunkohlekraftwerke in Kauf.

Nirgendwo sitzen die Ängste so tief wie in Deutschland

Kein Wunder, dass die europäischen Nachbarn darüber verwundert sind. Besorgte Bemerkungen sind selbst in grünen Kreisen Großbritanniens und Hollands zu vernehmen, die wenig für Atomenergie übrig haben und im Prinzip nichts gegen einen Verzicht einzuwenden hätten – wenn er denn richtig vorbereitet wäre und keine unangenehmen volkswirtschaftlichen und sozialen Folgen nach sich zöge. Aber davon kann nun wirklich nicht die Rede sein. Kritiker befürchten gar, die deutsche Energiewende werde scheitern. Sie verweisen auf die Reduzierung der deutschen Stromkapazität, auf Engpässe und drohende Blackouts, auf die Sorgen der Industrie, auf die Notwendigkeit steigender staatlicher Subventionen für Wind und Sonne, die letztlich der Verbraucher tragen muss. Außerdem müssen die neuen Stromtrassen und Anbindungen an Offshore-Windparks ja erst noch gebaut werden.

Die atomaren Risiken sind ein Resultat der technologischen Zivilisation, die wir geschaffen haben. Doch nirgendwo sitzen die Ängste so tief wie in Deutschland. Und es stimmt ja: Naturkatastrophen erinnern uns an die Verletzlichkeit der menschlichen Existenz und an unsere begrenzte Macht, wenn wir entfesselter Naturgewalt ausgesetzt sind. Es war die Hoffnung manch radikaler Umweltschützer, Fukushima möge sich als die heimlich „ersehnte Katastrophe“ erweisen, die die Menschheit endlich zu einer nachhaltigen Kurskorrektur veranlassen werde, zu weniger Technologiegläubigkeit und vor allem zu einer Abkehr vom Prinzip des grenzenlosen Wachstums. Ganz im Sinne des Philosophen Hans Jonas, der 1989 in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels die Frage stellte, wie viele Katastrophen der Mensch brauche, bevor er seinen selbstzerstörerischen Kurs korrigiere. Für Jonas stand außer Frage, dass der Mensch dabei ist, sich selbst zu zerstören – dieses Leitmotiv kennen wir auch von anderen Kulturkritikern und Denkern.

Jonas zählte zu jenen Warnern, die unter Europas und Amerikas Kultur- und Medieneliten seit den siebziger Jahren auf großen Widerhall stießen. In diesen Kreisen war ein gerüttelt Maß an Endzeitstimmung de rigeur: Der Kalte Krieg hatte die Furcht vor der nuklearen Zerstörung der Erde genährt; die Reaktorunfälle von Three Mile Island und Tschernobyl ließen Supergau und Kernschmelze als neue Schreckensvisionen erscheinen; die Sorge vor dem Hitzetod als Folge der Emissionen unserer Indus­triezivilisation wurde seit Ende der siebziger Jahre immer wieder als Menetekel an die Wand gemalt und von der alarmistischen Fraktion der Klimawissenschaft mit immer dräuenderen Computerprojektionen untermauert. Dies schadete am Ende allerdings ihrer Glaubwürdigkeit und führte zum Verlust ihres ehemals großen Einflusses auf die Politik. Der Klimarat IPCC kann sich nicht mehr rühmen, de facto die Richtlinien der europäischen Klima- und Energiepolitik zu bestimmen.

Einst feierten Deutschlands Sozialdemokraten die Spaltung des Atoms

Ein Planet wird geplündert lautete der Titel eines deutschen Bestsellers jener Jahre, geschrieben von dem christdemokratischen Politiker Herbert Gruhl. Der Autor traf den Geist der Zeit: Er legte eine Anklageschrift über den Raubbau an der Natur vor und beklagte die Überforderung des endlichen planetaren Systems. Wie andere Warner vor und nach ihm betrachtete er die explodierende Erdbevölkerung als besonders ernstzunehmende Bedrohung. Überlebenschancen sah Gruhl (der die CDU später verließ) nur für autoritär regierte Gesellschaften, wobei er der kommunistischen Welt bessere Überlebenschancen einräumte – angesichts der katastrophalen Umweltbilanz des Kommunismus aus heutiger Sicht eine geradezu absurde Annahme. Dennoch leben derartige Auffassungen in ökologischen Kreisen fort. So wurde Chinas Klima- und Energiepolitik lange unkritisch bewundert und gerade auch Pekings höchst kontroverser Schritt, die Bevölkerungszahl zu stabilisieren, immer wieder gelobt.

In den frühen Jahren der Sorge um die Zukunft unseres Planeten war eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern tonangebend, deren Einfluss auf die Debatte bis heute anhält. Als „Club of Rome“ prophezeiten sie im Jahr 1970 die „Grenzen des Wachstums“, indem sie präzise Enddaten über die Verfügbarkeit von Rohstoffen und Mineralien vorlegten. In ihrer zweiten Studie „Menschheit am Scheideweg“ von 1974 sagten sie, ganz im Geiste von Thomas Robert Malthus, den Hungertod von Milliarden Menschen in Asien und Afrika voraus.

Die Voraussetzungen für eine nachhaltige Kurskorrektur, für eine Abkehr vom selbstzerstörerischen Pfad der Menschheit schienen vielen greifbar nahe. Grüne Parteien wurden gegründet und erstarkten rasch, die herkömmlichen Parteien adaptierten ihre Positionen, stahlen ihnen manche Kleider, übernahmen viele der grünen Grundforderungen. Nirgendwo mehr als in Deutschland. Aus jener Zeit rührt der Wandel der SPD in Bezug auf ihre Einstellung zur Kernenergie her. Einst feierten die deutschen Sozialdemokraten die Spaltung des Atoms als wissenschaftlich-zivilisatorische Leistung, die helfen würde, den Fortschritt voranzutreiben und eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen. Doch bald beäugten auch sie die Nuklearenergie mit tiefem Misstrauen.

Der Einfluss des neomalthusischen Denkens, wonach unsere wichtigsten Probleme die Überbevölkerung des Planeten und die Knappheit von Ressourcen sind, ist in Europa nach wie vor beträchtlich. Dieses Denken verbindet sich gerade auch in Deutschland mit einer kulturpessimistischen, zivilisationskritischen und antimodernen Grundströmung, die durch Fukushima neuen Auftrieb erhalten hat. Umso enttäuschter müssen Vertreter dieser Denkrichtung feststellen, dass es – bis auf die deutsche Energiewende mit offenem Ausgang – nicht zu einer Umkehr oder grundsätzlichen Kurskorrektur gekommen ist. Und nichts spricht dafür, dass es bei neuen Katastrophen und fortbestehenden Risiken dazu kommen würde.

Der Hunger nach Energie wächst immer weiter

Wachstum ist für unsere Gesellschaften das Zauberwort geblieben, auch wenn es in der politischen Diskussion noch immer zum guten Ton gehört, Begriffe wie „qualitatives“ Wachstum oder „Nachhaltigkeit“ im Munde zu führen – wohlklingend, aber letztlich bedeutungslos. Angesichts von Rezession und Schuldenkrise ist diese Weichspülrhetorik dabei, einer knallharten Beschwörung von Wachstum zu weichen, die wieder en vogue gerät. Plötzlich gilt der Bau von Infrastrukturprojekten, von weiteren Autobahnen und Hochgeschwindigkeitszügen geradezu als Patentrezept, um die Europäische Union vor Stagnation und Deflation zu retten. Solche Lösungen werden auch den krisen- und schuldengeplagten Staaten wie Spanien und Griechenland empfohlen. Als wären nicht gerade diese Länder bereits reichlich bedacht worden mit derartigen Projekten: mit aufwendigen, oft gigantomanen Autobahnen, Brücken, Straßen und Siedlungen. Nicht selten erwiesen sie sich als überflüssig, ja geradezu zerstörerisch und trugen nichts zum wirtschaflichen Wohlergehen des Landes bei.

Der Hunger nach Energie wächst unaufhörlich weiter. Daran werden auch atomare Ängste nichts ändern. „It’s the economy, stupid!“ – und die braucht Energie und Strom. Die Führungsspitze der SPD hat bei aller Hingabe für grüne Rezepte und dem grundsätzlichen Bekenntnis zur Energiewende erkennen lassen, dass sie die Realität nicht ganz aus dem Auge verloren hat. So erinnerte Sigmar Gabriel grüne Kreise daran, dass selbst erneuerbare Energieträger nach der Existenz einer klassischen industriellen Basis verlangten, etwa der Fähigkeit, Stahl zu schmieden oder Aluminium zu produzieren.

Mittlerweile ist die Sorge um die Machbarkeit der Energiewende dramatisch gewachsen. Zu Recht. In den Erwartungen, die sich auf erneuerbare Energien wie Wind und Photovoltaik richteten, schwang von Anfang an eine gehörige Portion Wunschdenken mit. Das Potenzial der Erneuerbaren wird maßlos überschätzt, technische Schwächen und ihre Grenzen werden ausgeblendet. Wobei das enorme Wachstum des „grün-industriellen Komplexes“ (James Lovelock), der durch massive staatliche Subventionen entstand, eine lautstarke und einflussreiche Klientel schuf, die ihre Pfründe nicht aufgeben will.

In Deutschland hat die Atomenergie trotz der wachsenden Sorge um den Indus­triestandort Deutschland wohl keine Chance auf eine erneute Wende. Immerhin hat die Schweiz ihre Entscheidung, nach Fukishima auszusteigen, bereits wieder leicht modifiziert; sie will die Reaktoren nun erst in 30 und nicht in 20 Jahren abschalten. Der Rest der Welt setzt ohnehin weiter auf die Kernkraft, gleich was Deutschland oder Japan machen. Und in Ländern wie Großbritannien und Skandinavien gibt es immer mehr grüne Vordenker, die aus Sorge um das Klima für die Atomkraft plädieren und für Thorium-Reaktoren eintreten.

Im Golf von Mexiko bohrt BP heute wieder nach Öl

Eine Blaupause für die Mechanismen, die unser Verhalten im Umgang mit Risiken prägen, lieferte 2010 die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko. Die westliche Öffentlichkeit hatte mit blankem Entsetzen auf die herzzerreißenden Bilder von ölverschmierten Pelikanen und verwüsteten Ökosystemen reagiert. Viele Kommentatoren geißelten unsere Sucht nach dem schwarzen Gold. Politiker in den Vereinigten Staaten und Europa forderten ein Verbot jeglicher Tiefsee-Exploration nach Ölfeldern. Der amerikanische Präsident Obama verhängte ein Moratorium.

All das erwies sich als letztlich folgenlose Episode. Die Welt ist wieder zur Tagesordnung übergegangen. Selbst BP bohrt im Golf von Mexiko nach Öl. Die Industriezivilisation verlangt nach Energie und kann auf fossile Brennstoffe auf absehbare Zeit nicht verzichten. Deshalb wird nun selbst in der arktischen Wildnis die Ausbeutung von Gas- und Ölfeldern machtvoll vorangetrieben. Zudem werden neue Gas- und Ölreserven erschlossen, die in Schieferformationen tief in der Erdkruste liegen und nun aufgrund verbesserter Bohrmethoden ausgebeutet werden können. Laut der Internationalen Energieagentur ist genügend Schiefergas vorhanden, um die Energieprobleme der Welt für die kommenden 250 Jahre zu lösen. Schiefergas ist zudem sauberer als Kohle und Öl, was die erstaunliche Reduzierung der Kohlendioxid-Emissionen in den USA erklärt. Dort läuft trotz gewisser umweltpolitischer Bedenken die Förderung von Schiefergas auf Hochtouren. Teile Europas werden folgen, unter anderem das auf seine Unabhängigkeit von Russland bedachte Polen. Selbst Frankreichs Ablehnung scheint nicht endgültig.

Die unbequeme Wahrheit ist, dass es zu fossilen Brennstoffen noch immer keine Alternative gibt, die die erforderliche Quantität an Energie liefern könnte. Wenn überhaupt, werden Alternativen erst in einigen Jahrzehnten zur Verfügung stehen. Wind und Sonnenenergie dürften im Weltmaßstab nur wenig mehr als eine marginale Rolle spielen. Diese Einsicht beginnt sogar in jenen Ländern um sich zu greifen, die glaubten, mit den „Erneuerbaren“ einen energiepolitischen Königsweg gefunden zu haben. Selbst wenn es gelingen sollte, dass Wind- und Solarenergie in Deutschland einen maßgeblichen Beitrag zur Stromversorgung leisten, wird sich an der europäischen und weltweiten Realität wenig ändern. Der Verbrauch von Kohle, dem schmutzigsten der fossilen Energieträger, wird weltweit weiter ansteigen. Kohle ist sogar dabei, Öl den Rang als wichtigstem Energieträger streitig zu machen, wobei in den kommenden Jahrzehnte auch mehr Öl gefördert werden wird.

Am Gesamtbild hat sich folglich wenig verändert. Katastrophen lösen kurzzeitig heftige Reaktionen aus, sie schärfen das Bewusstsein für Risiken. Mehr nicht. Die menschliche Zivilisation bleibt auf dem Weg, den sie seit der Aufklärung und der industriellen Revolution eingeschlagen hat. Die Karawane zieht weiter. Nicht ohne Zweifel und begleitet von Ängsten, aber an der Richtung der Reise ändert sich nichts. Gewiss trägt dazu bei, dass sich viele der Endzeitprognosen nicht erfüllt haben. Entgegen der Voraussagen des Club of Rome sind die wichtigsten Rohstoffe nach wie vor reichlich vorhanden. Selbst „Peak Oil“, der seit langem vorausgesagte Höhepunkt der Ölförderung, lässt weiter auf sich warten.

Unbestreitbar wären Fortschritt und Wohlstand ohne den Einstieg ins Zeitalter der fossilen Brennstoffe nicht denkbar gewesen. Erst billige Energie schuf die Voraussetzung für unerhörten gesellschaftlichen Fortschritt und ermöglichte die Entwicklung hin zu Massendemokratien mit besseren Lebensbedingungen für alle, mit mehr Mobilität, mehr Wärme, mit ungeahnten, nicht immer erbaulichen Formen der Unterhaltung, mit einem Potenzial an Wissen und Wissensvermittlung, wie es nie zuvor in der Geschichte existierte, mit Möglichkeiten und Freiheiten, die über Jahrtausende nicht einmal eine kleine Minderheit hatte. Bis zum Anbruch des Zeitalters der fossilen Brennstoffe waren die meisten Menschen zu einem kurzen, harschen, von Krankheiten und Versklavung bestimmten Leben verdammt.

Die heutige Welt bietet eine Menge positiver Nachrichten

Es ist wichtig, sich die Lebensverhältnisse vor Augen zu führen, die noch vor 100 oder 50 Jahren selbst im privilegierten Westen herrschten – gerade in einer Periode wie der unsrigen, die von Angst und Pessimismus erfüllt ist. Die Welt bietet eine Fülle positiver Nachrichten. Die Arbeitsteilung, der Handel und der Austausch von Ideen in einer vernetzten, globalisierten Welt haben zu einer massiven Verbesserung der Lebenssituation nicht nur der Menschen in Europa und Nordamerika geführt. Energie und der wissenschaftlich-technologische Fortschritt sorgen für einen nie dagewesen Wohlstand in immer mehr Teilen der Welt.

Matt Ridley liefert in Der rationale Optimist viele statistisch untermauerte Beispiele für die erstaunliche Verbesserung der Lebensverhältnisse der Weltbevölkerung binnen kurzer Frist. Solche Argumente verdienen mehr Beachtung und sollten von den Parteien links der Mitte besonders ernst genommen werden. „Der Bewohner unseres Planeten verdiente im Jahr 2005 im Schnitt dreimal soviel (inflationsbereinigt), nahm ein Drittel mehr an Kalorien zu sich, verlor ein Drittel weniger seiner Kinder an Krankheiten wie Diphterie, Pocken, Malaria und Typhus und lebte länger als nur zehn Jahre zuvor“, schreibt Ridley. Der Anteil der Weltbevölkerung, der ein europäisches Wohlstandniveau erreicht, schnellte in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch nach oben.

Gewiss bleibt viel zu tun. Armut und Not, wenn auch auf höherem Niveau, sind ständige Begleiter der menschlichen Existenz. Doch ohne eine energieintensive Zivilisation und freie, offene Gesellschaften, die zugleich eine unabdingbare Voraussetzung sind für die kritische Begleitung des Fortschritts, gäbe es keine Aussicht, den Armen und Bedrängten dieser Erde zu helfen.

Auch auf anderen Gebieten ist die Welt in einem besseren Zustand als noch vor dreißig Jahren. Die Flüsse und Seen Europas und Amerikas sind sauberer als zuvor, die Luftverschmutzung in den Städten ist zurückgegangen, das Waldsterben, eine andere deutsche Angst der siebziger und achtziger Jahre, blieb aus. Und es gibt Anzeichen dafür, dass sich selbst der neue industrielle Gigant China, der die Phasen der Industrialisierung im Eiltempo durchläuft, ernsthaft Sorgen um den Erhalt der eigenen Umwelt macht.

Gewiss bleiben Schattenseiten des Fortschritts sichtbar, auch werden wir mit Risiken leben müssen. Diese Risiken werden wahrscheinlich sogar zunehmen, zumal dann, wenn wir im Zuge der Verfolgung unserer Ziele und unsereres unersättlichen Hungers nach Rohstoffen und Energie irgendwann tatsächlich an die Grenzen des Wachstums stoßen sollten. Grenzenloses Wachstum in einem endlichen, planetaren System ist nicht möglich, selbst wenn man menschlichen Erfindungsreichtum und eine höhere Effizienz im Umgang mit endlichen Ressourcen in Rechnung stellt. Dann bleibt als Ausweg nur die Nutzung des Sonnensystems und der Ressourcen, die Asteroiden, Monde und andere Planeten bergen. Doch selbst wenn sich die Anzeichen von planetarem Stress mehren sollten, werden die Menschen nicht von dem Weg ablassen, der ihnen in der Vergangenheit ein besseres Leben bescherte. Der Wunsch, die eigenen Lebensumstände und die der eigenen Kinder zu verbessern, war und ist die entscheidende Triebkraft menschlicher Natur. Daran wird sich nichts ändern.

Es gilt heute beinah als frevelhaft, eine Antithese gegen den weitverbreiteten Pessimismus zu formulieren. Womit wir wieder bei der Artikelserie des Guardian wären: Warum neigen gerade die Europäer und besonders die Deutschen zu einem pessimistisch eingefärbten Blick in die Zukunft? Ein Teil der Antwort hat mit der Wahrnehmung von Realität zu tun. Unser Bild von einer Welt, die katastrophischer und gefährdeter ist denn je, bedarf der Relativierung, vielleicht sogar einer fundamentalen Korrektur. Es ist definitiv nicht so schlimm wie es scheint und wie es uns die Medien vermitteln.

Die Eliten haben an Einfluss verloren

Der Grund für die Verzerrung ist eigentlich ein Anlass zur Genugtuung: Nie zuvor gab es eine Epoche, in der Informationen so reichlich aus vielen Quellen flossen und in denen es dank der Vielfalt und Konkurrenz verschiedener Technologien so schwer geworden ist, Informationen zu unterdrücken oder zu manipulieren. Technologischer Fortschritt und Digitalisierung ermöglichten die Evolution von Mediendemokratien mit einem historisch einmaligen Fluß von Daten, Bildern und Nachrichten. Die Eliten haben an Einfluss verloren; selbst autoritären Systemen fällt es schwer, den Strom von Informationen zu kontrollieren.

Aber es gibt eine Schattenseite der Demokratisierung von Informationen: Stets überwiegen die negative Nachrichten. Niemand will hören, dass die meisten Züge pünktlich verkehren; wohl aber wollen wir alles über Unfälle und Katastrophen erfahren. Fluten und Hurrikane, Dürrekatastrophen und Hungersnöte, Eisenbahnunglücke und Flugzeugabstürze, Bürgerkriege und Terroranschläge – all diese globalen Ereignisse werden in Istzeit in unsere Wohnungen übermittelt. Wir erfahren sofort, wenn irgendwo ein Vulkan ausgebrochen ist oder sich ein riesiger Eisberg vom Festlandsockel der Antarktis gelöst hat, wie es wahrscheinlich über Jahrtausende hinweg immer wieder unbemerkt geschehen ist. Extreme Temperaturausschläge und Stürme mutieren unter dem Eindruck der Häufung, den die Informationsflut suggeriert, leicht zu „Beweisen“ für neuartige, dräuende Entwicklungen.

Der kognitive overkill bleibt nicht folgenlos. Er überfordert, er kann verängstigen, er kann zu Fehlschlüssen oder übertriebenen Voraussagen führen. Niemand ist gegen diese Einflüsse völlig immun, auch nicht die Wissenschaft. Das apokalyptische „Mindset“, das Ende des 20. Jahrhunderts durch die Medienrevolution gefördert wurde, war latent stets präsent. Zu bestimmten Zeiten blühte die Furcht vor dem Ende besonders stark auf und versetzte die betroffenen Gesellschaften in einen erhöhten Alarmzustand. Einst waren es Kometen, die am Himmel auftauchten und als Boten herannahenden Unheils galten. Später waren es Daten, etwa eine bevorstehende Jahrtausendwende. Es ist bezeichnend, dass im Anlauf auf das Jahr 2000 selbst Unternehmenslenker und Regierungschefs von einer Dosis Milleniumsangst erfasst wurden. Europäische Regierungschefs gaben Milliardensummen aus, um den Crash von Computersystemen durch den Y2K Virus abzuwenden. So wurden der Computerindustrie lukrative Zeiten beschert, aber die Ausgaben erwiesen sich als weitgehend überflüssig. Kurzum: Ein unerwünschter Nebeneffekt der Informationsrevolution ist, dass sie die Welt in einem beklemmenderen Licht erscheinen lässt als sie es verdient. Vogel- und Schweinegrippe, Scheiterhaufen, auf denen BSE-Rinder zu Tausenden verbrannt wurden – selbst unsere rationale Welt ist gegen irrationale Ängste vor Epidemien nicht gefeit, die in abstrusen, teuren Maßnahmen münden.

Wachsender Wohlstand und das Fehlen akuter Bedrohungen im postmodernen Westeuropa haben nicht etwa einen beruhigenden Effekt. Das Gegenteil ist der Fall. Die Menschen neigen dazu, überall Gefahren zu wittern. Wer viel besitzt, hat viel zu verlieren. Die Angst vor dem Verlust ist der unvermeidliche Begleiter eines historisch einmaligen Massenwohlstandes in den reichen Industriegesellschaften und macht diese anfälliger für Stimmen und Stimmungen, die ein böses Ende voraussagen.

Ein gewisses Maß an Skepsis gegenüber dem technologischen Fortschritt ist berechtigt, denn wissenschaftlicher Fortschritt schafft nicht nur die Voraussetzungen für bessere Lebensbedingungen, sondern auch Risiken, die sich zwangsläufig daraus ergeben. Pessimistische Geister wie der britische Philosoph Arnold J. Toynbee sahen den Menschen als „technologischen Giganten“, aber als „moralischen Pygmäen“ – unfähig, sich zu ändern. Hans Jonas glaubte, nur die schlimmste Katastrophe könne uns aufrütteln und zu einer Kurskorrektur bewegen. Doch diese Annahme muss bezweifelt werden. Die Menscheit würde wohl eher in einen Überlebenskampf jeder gegen jeden verfallen. Vor allem darf die Unabänderlichkeit der Katastrophe, die diese Denker auf uns zukommen sehen, füglich bezweifelt werden. Die Zukunft ist offen. Wahrscheinlich hat Arthur Koestler recht. In seinem letzten Werk Janus: A Summing Up schrieb er in den siebziger Jahren, dass noch jede technologische Zivilisation irgendwann den Zustand erreichen werde, in dem die unsrige sich derzeit befindet: fähig, das Atom zu spalten, Gene zu manipulieren und Ressourcen aus Meeren und den Tiefen des Planeten zu fördern. Köstler meinte, diese Art von Zivilisation würde entweder untergehen, sich durch Krieg vernichten, ihre Umwelt vergiften oder die Bedingungen ihrer eigenen Existenz anderweitig zerstören. Oder sie würde diese existenzgefährdende Phase überstehen, sie könnte lernen, Gefahren zu meistern und sich weiter zu entwickeln. Dann würde sie einer „Zivilisation der Halbgötter“ gleichen.

Wie wird unsere Reise durch das All auf dem „Blauen Planeten“ enden? Gewiss ist nur, dass es kein Zurück gibt in eine vorindustrielle Idylle. Wir können das Rad der Entwicklung nicht zurückdrehen und sollten all jenen Kräften widerstehen, deren Rezepte darauf hinauslaufen. Ebenso sicher ist, dass einzig wissenschaftlicher und technologischer Fortschritt, begleitet von ökologischer Vernunft und Augenmaß, der Menschheit über diesen kritischen Punkt hinweghelfen können. Ob der deutsche Sonderweg diesen Ansprüchen genügt? Zweifel sind angebracht. Die Antwort wird wahrscheinlich nicht lange auf sich warten lassen.


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