Wallraff der Reichen

Christian Rickens beschreibt das Leben "ganz oben", Thomas Druyen reflektiert über "Vermögenskultur"

Im Herbst 1985 erschien ein Buch, das die Bundesrepublik aufrüttelte und für große Empörung sorgte. Der Journalist Günter Wallraff hatte zwei Jahre undercover in der Welt der Gastarbeiter recherchiert. Verkleidet als „Türke Ali“ erlebte er 16- bis 24-Stunden-Schichten in Fast­food-Restau­rants, riskantes Arbeiten ohne Schutz­klei­dung und tägliche Anfein­dungen als Ausländer in Deutschland. In seinem Buch Ganz unten beschrieb Wallraff die Grauzonen der bundesdeutschen Arbeits­welt – und löste damit Erschütterungen in der Bevölkerung sowie eine Prozessflut der beschriebenen Unternehmen aus.

Christian Rickens hat nun so etwas wie ein Pendant zu Wallraffs Enthül­lun­gen geschrieben. Auch Rickens ist Jour­nalist. Auch er beschreibt den Le­bens­alltag von Menschen, „die ganz am Rand unserer Gesellschaft stehen – am oberen Rand“. Für sein Buch Ganz oben ist der Redakteur des manager magazin zwei Jahre durchs Land gereist und hat einige der rund 800.000 deutschen Millionäre in ihrem natürlichen Lebensraum besucht.

Segelregatta und Pferdederby

Um herauszufinden, „wie Deutsch­lands Millionäre wirklich leben“, war er zu Gast bei einer Segelregatta in Flens­burg, auf einem Schloss in Brandenburg und bei einem Pferdederby am Ammer­see. Wer allerdings glamouröse Home­storys der Schönen und Reichen erwartet, wird enttäuscht. Rickens geht es nicht um Voyeurismus. Sein Ziel lautet, „die realen Machtverhältnisse in unserem Land besser zu verstehen“. Das ist ihm gelungen.

Geld ist Macht, das wird in Rickens Buch schnell deutlich. Oder, wie es der Autor selbst noch etwas drastischer ausdrückt: „Mit Geld lässt sich in Deutsch­land politischer Einfluss erkaufen.“ Da­bei geht es weniger um Bestechung und Korruption als vielmehr um den Zugang zu Politikern – und die Einflussnahme über Stiftungen. Rund 17.000 Stiftungen existieren mittlerweile in Deutschland, jedes Jahr kommen etwa 1.000 neue hinzu.

„Stiften gehen ist heute das wahre Hobby der Millionäre, weit exklusiver als Golf oder Segeln“, stellt Christian Ri­ckens fest. Sie unterstützen Hoch­schu­len, Theater oder soziale Einrichtungen. Was zunächst selbstlos erscheint, hat häufig knallharte betriebswirtschaftliche Gründe, genießen Stifter doch erhebliche steuerliche Privilegien. Weit kritischer sieht Rickens allerdings einen ganz anderen Aspekt: „Anstatt schnöde Steu­ern zu zahlen, können die Reichen als Hausherr in der eigenen Stiftung wie absolutistische Fürsten selbst bestimmen, wem sie Gutes tun und wem sie es verweigern.“ Für Rickens ist das schlichtweg „ein Stück Entdemokratisierung“.

Positiver sieht der Vermögens­for­scher Thomas Druyen das Engagement der Reichen. Er ist überzeugt, dass „eine professionelle Verantwortungs­über­nah­me der Vermögenden unverzichtbarer Bestandteil der Weltgesellschaft im 21. Jahr­hundert sein wird“. In seinem Sammelband Vermö­genskultur plädiert Druyen deshalb dafür, Reiche von Vermögenden zu unterscheiden, denn nur so „verringert sich die Gefahr oberflächlicher Urteile und polemischer Stereotype“.

Unternehmer, Freiberufler und Erben

Der Professor für vergleichende Ver­mö­gens­kultur und Vermögens­psycho­logie liefert eine Definition gleich mit: „Wäh­rend der Reiche Gewinne für sich selber macht, nutzt der Vermögende seine vielfältigen Möglichkeiten, um Ver­ant­wortung zu übernehmen und Zukunft zu gestalten.“ Für Druyen geht es darum, „gesellschaftliche Probleme mit ethischen und unternehmerischen Mitteln zu lösen“.

Druyens Band gibt einen breiten Über­blick über die von ihm begrifflich geschaffene „Vermögenskultur“ und ihre Ausprägungen. Der Bildungs­wis­sen­schaftler Wolfgang Lauterbach etwa versucht sich an der Definition eines „allgemeinen Handlungsmodells zur Erklärung gesellschaftlichen Engage­ments“. Und die Wirtschaftsjournalistin Petra Krimphove erläutert die Unter­schiede zwischen dem gesellschaftlichen Engagement Reicher in Deutsch­land und den Vereinigten Staaten. Den­noch erscheint Druyens Grund­an­satz recht naiv: Gerade das Beispiel Amerika zeigt, dass Reiche sich vor allem dort engagieren, wo sie selbst einen Nutzen erwarten, sei es gesellschaftliches Prestige oder einen steuerlichen Vorteil. Die unattraktiven Bereiche bleiben auf der Strecke.
Jenseits des großen Teichs ist der Mythos vom Aufstieg des Tellerwäschers zum Millionär noch recht lebendig und akzeptiert. Anders hierzulande: „Zum Millionär wird man in Deutschland in den allermeisten Fällen als Unternehmer oder Freiberufler – oder als Erbe“, schreibt Christian Rickens. Als Angestellter hingegen hat man in der Regel keine Chance, reich zu werden – und als Frau auch nicht: „Das Gesicht des Reichtums in Deutschland ist überwiegend männlich.“ Die Männerclique sorgt dafür, dass sie unter sich bleibt. „In den Vorstand eines der 400 größten deutschen Unternehmen schafft es der promovierte Spross eines leitenden Angestellten mit zehnmal höherer Wahrscheinlichkeit als der formal ebenso hoch qualifizierte Sohn eines Arbeiters.“

Habitus und Netzwerke entscheiden

Entscheidend sei nicht akademische Bildung, sondern das Verhalten, der so genannte Habitus. Die Logik ist einfach: „Wer den gleichen Habitus aufweist wie der Vorstand, wird seine Abteilung auch im Sinne des Vorstands führen.“ Diesen „closed shop“ hatte Julia Friedrichs vor drei Jahren bereits in ihrem Buch Ge­statten: Elite beschrieben. Die Journa­listin hatte Internate und Elite­hoch­schulen besucht und beschrieben, wie dort der Grundstein für spätere Kar­rieren gelegt wird – vor allem, indem der privilegierte Nachwuchs lernt, Netz­werke aufzubauen.

„Ihr ganzes Leben organisieren Reiche am liebsten in Netzwerken, in denen sie unter sich sind“, befindet auch Rickens. Neben dem effektiven Schutz vor Schnorrern böten diese auch exzellente Möglichkeiten, um Geschäfte anzubahnen. Man kennt sich. Dennoch lässt Rickens’ Fazit Raum für Hoffnung: „Wir sind in Deutschland mit unseren Millio­nären gar nicht so schlecht bedient – zumindest im internationalen Vergleich.“ Beispielsweise hätten die Oligarchen in Russland neben der wirtschaftlichen mittlerweile auch große Teile der politischen Macht an sich gerissen. In Skandi­navien hingegen spiele es für Unterneh­mer kaum eine Rolle, wie viele Steuern sie bezahlen müssten. „Allerdings sehen sie sich auch nicht wirklich in der Pflicht, der Gesellschaft freiwillig etwas zurückzugeben.“

Fast eindringlich liest sich Rickens’ Appell am Ende des Buchs: „Mit Kreati­vität, harter Arbeit und einer gehörigen Portion Glück bringen es manche Men­schen zu Reichtum. Doch wer das geschafft hat, muss einen Teil des Reich­tums an die Gesellschaft zurückgeben. ... Als Gegenleistung gestattet die Gesell­schaft den Reichen, ihren Wohlstand in Frieden zu genießen.“ Dieser Gesell­schafts­vertrag ist ursozialdemokratisch und vollkommen einleuchtend.

Leider scheint die Entwicklung in eine andere Richtung zu gehen. „Das derzeitige Steuersystem wird uns mutmaßlich innerhalb einer Dekade in eine Gesellschaft führen, in der nur noch eine Minderheit des Volkseinkommens durch Arbeit generiert wird, die Mehrheit hingegen durch Kapitaleinkünfte aus Ver­mö­gen“, prognostiziert der Wirtschafts­journa­list. „Es wäre naiv zu glauben, dass mit dieser Verschiebung der Einkom­mens- und Vermögensstrukturen nicht auch eine Verschiebung von politischer Macht einherginge – und zwar zugunsten der deutschen Millionäre.“

Höhere Steuern für Reiche

Was dies bedeuten würde, ist nach der Lektüre von Ganz oben klar. Deshalb nennt Rickens auch die Instrumente, mit denen die Politik dagegenhalten könnte wie die Erhöhung des Spitzen­steuer­satzes oder die Wiedereinführung der Reichensteuer. Ob es die politische Ein­sicht gibt, dass etwas geändert werden muss, steht freilich auf einem anderen Blatt.

Günter Wallraffs Buch über die Situa­tion von Gastarbeitern in den achtziger Jahren war übrigens nicht nur Gegen­stand von Gerichtsverhandlungen. Es leitete auch ein Umdenken ein. Der Arbeits­schutz wurde gesetzlich verschärft. Heu­te gilt Ganz unten als erfolgreichstes Sach­buch der Nachkriegsgeschichte. «

Christian Rickens, Ganz oben: Wie Deutschlands Millionäre wirklich leben, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2011, 224 Seiten, 18,95 Euro

Thomas Druyen (Hrsg.), Vermögenskultur: Verantwortung im 21. Jahrhundert, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, 313 Seiten, 24,95 Euro

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