Arm und Reich im 21. Jahrhundert

Keine Ziele, keine Strategie: Der demnächst erscheinende Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung arbeitet mit veralteten Kategorien - und spiegelt so die konzeptionelle Rückständigkeit Deutschlands im Kampf gegen soziale Exklusion wider

Im ARD-Presseclub waren die Fronten klar: Beim Thema „Absturz in die Armut“ im vergangenen Dezember saß links außen Professor Rudolf Hickel („Binnennachfrage stärken“), rechts außen Cicero-Chefredakteur Wolfram Weimer („zu viel Steuern, zu viel Staat“). Rudolf Hickel machte für wachsende Ungleichheit die „gesamte Stoßrichtung der Politik“ verantwortlich, Wolfram Weimer beklagte den „Sozialismus in unserer Gesellschaft“. Mochte auch Henning Krumrey vom Focus versuchen, differenzierend auf Armuts-Risikogruppen hinzuweisen – im Kern war diese Presseclub-Diskussion eine rein wirtschaftspolitische Debatte. Ihr Anlass: Der bereits bekannt gewordene Zweite Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Vor allem eine Statistik darin erhitzt die Gemüter: Die Armutsquote ist zwischen 1998 und 2003 von 12,1 auf 13,5 Prozent gestiegen. Während der Presseclub noch tagte, hatte die SPD-Linke unter Hinweis auf den gestiegenen Anteil der Reichen am Gesamtvermögen bereits eine neue Umverteilungsdiskussion angestoßen.

Wie ist diese reflexhafte und oberflächliche Debatte zu erklären? Schuld ist unter anderem der Bericht selbst: Das Dokument fokussiert einseitig auf Armut als Mangel an materiellen Ressourcen. In Wirklichkeit finden soziale Ausgrenzungsprozesse aus vielerlei Gründen und in unterschiedlichen Lebensbereichen statt.

In Deutschland wird Armut als relativ definiert. Arm ist demnach, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zu Verfügung hat – 2003 war das ein Betrag von 938 Euro. Gewiss, diese Armutsdefinition hat ihre Vorzüge. Sie erkennt an, dass menschliche Grundbedürfnisse über das physische Existenzminimum hinausgehen und von den Eigentümlichkeiten und dem materiellen Standard einer Gesellschaft abhängen. Niemand wird beispielsweise bestreiten, dass ein Fernseher oder ein Telefon in der heutigen Zeit zum Leben nötige Besitzgegenstände sind. Auf der anderen Seite ist diese Definition vollkommen willkürlich. Bei wachsendem gesellschaftlichem Wohlstand steigt auch das Durchschnittseinkommen – und damit die Armutsgrenze. Relativ verstandene Armut lässt sich also praktisch niemals beseitigen. Die Armutsquote kann deshalb nicht mehr als ein grober Gradmesser von Ungleichheit sein. In konjunkturschwachen Zeiten mit hoher Arbeitslosigkeit steigt sie zwangsläufig und sie wird 2005 durch die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe wahrscheinlich noch weiter steigen.

Armut in Deutschland ist „Armut im Geiste“

Dieses relative Armutskonzept verkennt, dass Lebensglück nicht unbedingt mit materiellen Ressourcen zusammenhängt. So lebt wohl ein großer Teil der Studenten glücklich in relativer Armut, aber mit jeder Menge Chancen, während das Leben vieler Menschen höherer Einkommensgruppen durch andere Missstände wie etwa Diskriminierung dauerhaft stark beeinträchtigt sein kann. In Deutschland leiden die Menschen unterhalb der statistischen Armutsgrenze nur in seltenen Fällen Hunger; sie werden vom Fürsorgestaat mit Wohnung, Kühlschrank, Telefon und ermäßigten Eintritten versorgt und besitzen Handy, Auto, DVD-Spieler und Computer. Die heutige Unterschicht, wie sie Walter Wüllenweber im Stern (Nr. 52/2004) anhand des Essener Armenstadtteils Katernberg eindrucksvoll beschrieben hat, leidet keine materielle Not, sondern an „Armut im Geiste“: an mangelnder Bildung, Aufmerksamkeit, Lebensanleitung – kurz, an fehlenden Chancen.

Das Konzept relativer Armut ist also empirisch zweifelhaft und in der Sache unterkomplex. Trotzdem legt der Armuts- und Reichtumsbericht den Schwerpunkt auf Einkommensarmut und orientiert sich überwiegend am so genannten Lebenslagen-Konzept. Dabei wird die Bevölkerung in eine Gruppe der Armen und eine Gruppe der Nicht-Armen unterteilt. Daraufhin werden die Versorgungslagen dieser beiden Gruppen in unterschiedlichen Lebensbereichen untersucht, zum Beispiel in Bezug auf Arbeitsmarkt, Wohnraum und Gesundheit. Auf diese Weise kommen durchaus wichtige „Erkenntnissplitter“ (Stefan Sell) zu Tage: etwa die Tatsache, dass die Chancen auf ein Studium für Kinder aus Elternhäusern mit hohem sozialen Status 7,4-fach größer sind als für Kinder aus Elternhäusern mit niedrigem Status. Oder dass die Armutsquote von Arbeitslosen bei 40,9 Prozent liegt. Oder dass Arme häufiger krank sind als Nicht-Arme.

Doch ein schlüssiges Gesamtbild will sich aus den Splittern nicht ergeben, keine Erkenntnisgrundlage für die „Planung geeigneter Maßnahmen“ – so der im Bericht formulierte Anspruch –, kein strategischer Schwerpunkt, der über Einkommensarmut hinausgeht. Die aneinander gereihten „Lebenslagen“ des Berichts lassen den Leser merkwürdig ratlos zurück.

Anderswo in Europa ist man längst weiter

Nachhilfe könnte von europäischer Ebene kommen: Innerhalb der EU hat das Konzept der „sozialen Ausgrenzung“ (social exclusion) die Armutsdebatte abgelöst. Die Kategorie stammt aus Frankreich, dominiert seit Ende der neunziger Jahre den britischen Diskurs und findet auch in Deutschland – seit den achtziger Jahren von der Einkommensarmutsforschung geprägt – allmählich Anklang. Es handelt sich um ein multidimensionales Konzept von Benachteiligung, das die Frage nach gesellschaftlichen Teilhabechancen in den Mittelpunkt stellt. Vereinfacht gesagt, gilt als sozial ausgegrenzt, wer nicht an den „zentralen gesellschaftlichen Aktivitäten“ teilnehmen kann, sei es als Folge von mangelnder Bildung oder Diskriminierung, wegen Gesundheitsproblemen oder schlechter Wohngegend oder eben durch Einkommensarmut. „Zentrale gesellschaftliche Aktivitäten“ können zum Beispiel Arbeit, Konsum, soziale Kontakte oder politische Partizipation umfassen. Wichtig ist, dass soziale Ausgrenzung ein Prozess ist, bei dem sich Benachteiligungen in unterschiedlichen Lebensbereichen wechselseitig verstärken können. So kann beispielsweise Einkommensarmut zu fehlenden Sozialkontakten führen und damit wiederum psychische Probleme auslösen.

Warum der Paradigmenwechsel sein muss

Was auf den ersten Blick wie ein „Allzweckwort“ (Robert Castel) daherkommt, ist – bei aller definitorischen Unschärfe – die notwendige Perspektivverschiebung im 21. Jahrhundert. Das Konzept der social exclusion hat mindestens drei Vorteile:

Erstens ermöglicht es einen unverkrampften politischen Umgang mit dem Thema sozialer Benachteiligung, weil der Begriff der „sozialen Ausgrenzung“ nicht so stigmatisiert ist wie „Armut“. In der EU, wo sich vor allem Deutschland jahrelang weigerte, über „Armut“ zu diskutieren, hat der Oberbegriff „soziale Ausgrenzung“ alle Mitgliedstaaten trotz unterschiedlicher wohlfahrtstaatlicher Traditionen an einen Tisch gebracht und beträchtliche Aktivität in Gang gesetzt. Diese Dialogfreundlichkeit des Konzepts bezieht sich auch auf die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Akteure. So können lokal neue Allianzen geschmiedet werden, die nach dem Bottom-up-Prinzip soziales Kapital bündeln.

Zweitens zielt social exclusion nicht – wie der Armutsdiskurs – auf Gleichheit im Ergebnis (equality of outcome), sondern auf Chancengleichheit (equality of opportunity) ab. Das Konzept folgt dem Leitgedanken, dass alle Menschen die gleichen Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe bekommen müssen.

Drittens ermöglicht das Konzept der social exclusion die Erneuerung der europäischen Sozialmodelle. In den Zeiten knapper Haushaltskassen und des globalisierungsbedingten Drucks auf die Lohnkosten kann der Staat das Armutsproblem nicht mehr mittels Umverteilung lösen, sondern muss für die Verbesserung der Teilhabechancen in den unterschiedlichen Lebensbereichen sorgen. Das bedeutet keineswegs den Rückzug des Staates: Nimmt man das Konzept der social exclusion ernst, folgt daraus eine große staatliche Anstrengung, nämlich ein mainstreaming der Ausgrenzungsproblematik in sämtliche politischen Ressorts hinein. In der Praxis würden die zuständigen Ministerien sozialer Ausgrenzung dann systematisch und abgestimmt als Querschnittsaufgabe begegnen. Ein Beispiel: Gesundheits-, Sozial-, Familien- und Bildungsministerium koordinieren gemeinsam Maßnahmen für die Risikogruppe junger Mütter.

Oberflächliche Analysen helfen nicht

Nun knüpft der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zwar rhetorisch an den europäischen Diskurs zur social exclusion an, doch zentrale Aspekte des neuen Konzepts bleiben unerschlossen. So wird zu wenig berücksichtigt, wie verbreitet Kumulationen prekärer Lebenslagen sind und welche Risikogruppen für extreme soziale Ausgrenzung existieren. Zum anderen ist der Prozesshaftigkeit sozialer Ausgrenzung und ihrer Langzeitperspektive nur teilweise Rechnung getragen worden. Dabei kann eine konsequentere Anwendung des Konzepts der social exclusion politisch durchaus relevante Ergebnisse zutage fördern: Petra Böhnke stellt zum Beispiel auf der Basis von Umfrageergebnissen des Wohlfahrtssurveys dar, dass im Vergleich zur Armutsquote deutlich weniger Menschen in mehreren Lebensbereichen gleichzeitig unterversorgt sind. Andere Studien kommen zu dem Ergebnis, dass weniger die Höhe des Einkommens als die familiäre Situation über subjektive Ausgrenzungsempfindungen entscheidet.

Trotz seines wissenschaftlichen Fundaments und der Einbeziehung eines „ständigen Beraterkreises“ mit Vertretern aus Wissenschaft, Parlamenten und Zivilgesellschaft: Der Armuts- und Reichtumsbericht ist ein politisches Instrument. Die Oberflächlichkeit der Analyse – vertuscht durch den massiven quantitativen Umfang des Dokuments – ermöglicht es der Bundesregierung, im zweiten Teil des Berichts („Maßnahmen der Bundesregierung“) stur alles herkömmliche Regierungshandeln als Armutsbekämpfung zu verkaufen – von der Steuerreform bis zur Gesundheitsreform. Dieses Vorgehen hat die Regierung bereits für den „Nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzung“ im Rahmen der europäischen Berichterstattung für den Lissabon-Prozess gewählt. Die Europäische Kommission hat sie dafür wiederholt gerügt: Deutschland setze sich keine Ziele, habe keine Strategie, produziere nur ein „Konglomerat von Maßnahmen“.

Negative Koordination als Markenkern?

Warum tut Deutschland sich so schwer mit der Verwirklichung einer wirksamen Strategie gegen social exclusion? Die Gründe liegen neben ideologischen Altlasten und einer einkommensarmutsfixierten Forschungstradition tief vergraben in der komplexen deutschen Staatsstruktur. Eine Strategie zur „sozialen Inklusion“ erfordert per Definition ressortübergreifendes Handeln unter Einbeziehung aller Akteure und Staatsebenen. Auf der horizontalen Ebene steht dem der viel beklagte deutsche Ressortpartikularismus entgegen, die „negative Koordination“ (Fritz W. Scharpf) innerhalb und zwischen den Bundesministerien, die sich auf die Klärung von Zuständigkeiten beschränkt, ohne dass eine zentrale Instanz gemeinsames Handeln koordiniert. Vertikal kommen erschwerend die Kompetenzen und Mitbestimmungsmöglichkeiten der Länder und Kommunen hinzu. Einzig die traditionelle korporatistische Einbindung der Wohlfahrtsverbände kann als vorteilhaft für eine Strategie der sozialen Inklusion gelten.

Für die Briten geht es um „Chancen für alle“

Beispielsweise hat es die Regierung Blair im zentralistischen Großbritannien in dieser Frage viel einfacher. Die britische Bürokratie pflegt eine Kultur der Zusammenarbeit: Koordinierung ist eigenständiges Prinzip allen Verwaltungshandelns. Deshalb konnte Tony Blair 1997 ohne Schwierigkeiten eine Social Exclusion Unit aufbauen, die Politiken der sozialen Inklusion zwischen den Ministerien koordiniert. Zudem garantiert das parlamentarische System Großbritanniens eine Ein-Parteien-Regierung, und die regionalen Gebietseinheiten verfügen über wenig Macht, so dass Labour sich 1999 das quantitative Ziel setzen konnte, die Kinderarmut bis 2010 zu halbieren. Der britische Armutsbericht erscheint seit 1999 jährlich und umfasst rund 150 übersichtliche Seiten mit einer nachvollziehbaren Vier-Säulen-Strategie. Er trägt den optimistischen Titel Opportunity for all.

Unbestreitbar sind die strukturellen Voraussetzungen in Deutschland weitaus ungünstiger. Dennoch wird im Vergleich deutlich, dass es hierzulande auch am politischen Willen zu einer komplexen Strategie der sozialen Inklusion mangelt. Doch die Probleme existieren. Eine Politik der sozialen Inklusion erfordert abgestimmte sozialpolitische, wirtschaftliche, erzieherische und fürsorgliche Maßnahmen – auch in Deutschland. Den immergleichen Debatten der Hickels und Weimers dieser Republik stellt dieser zeitgemäße Ansatz einen dritten Weg gegenüber: besserer Staat, weniger Sozialismus.

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