Arbeit für alle? Aber ja doch!

Eine dynamische Wirtschaft völlig ohne Arbeitslosigkeit gibt es nicht. Wer anderes behauptet, der verspricht, was nicht zu halten ist. Doch das Gespenst der Langzeitarbeitslosigkeit können wir aus Deutschland vertreiben

Unsere Gesellschaft ist auf Arbeit aufgebaut, ihr Wohlstand durch Arbeit geschaffen. Die Gewerkschaften und die SPD, entstanden als Organisationen der Arbeiterschaft, haben ihr kollektives Selbstbewusstsein und ihre Ansprüche stets über den Wert der Arbeit begründet.

Zugleich bleibt Arbeit die wichtigste Quelle psychischer Stabilität und sozialer Identität; sie vermittelt Menschen Lebenssinn, verhilft ihnen zu Respekt und Selbstrespekt. Daran wird sich so schnell nichts ändern: Als Norm und als Realität bleibt Erwerbsarbeit zentral für den Zusammenhalt und die Kultur unserer Gesellschaft. Das bedeutet umgekehrt zugleich, dass Arbeitslosigkeit, selbst wo sie nicht unmittelbar in die wirtschaftliche Verarmung führt, den Ausschluss aus dem Kernbereich gesellschaftlicher Teilhabe bedeutet. Gerade deshalb muss sozialdemokratische Politik nachdrücklich dem Ziel der Arbeit für alle verpflichtet bleiben.

Arbeit macht Mühe, Arbeit bedeutet immer auch Last – der Kampf um die Milderung ihrer Bedingungen durchzieht die moderne Geschichte. Gleichwohl ist der Begriff der „Erwerbsarbeit“ in unserer Gesellschaft zutiefst positiv besetzt: als Mittel der Daseinsvorsorge, als Inhalt befriedigender Lebensgestaltung, als Wert und als Sinn. Für die Einzelnen und die Familien wie für die Gesellschaft insgesamt umso zerstörerischer muss es deshalb wirken, wenn Erwerbsarbeit zu einem immer knapperen und umkämpfteren Gut wird. Genau das aber ist in Deutschland der Fall. Bereits 1975 überquerte die Erwerbslosenquote erstmals in der Nachkriegszeit die Millionengrenze, seither ist sie mit kurzen Unterbrechungen kontinuierlich gestiegen. Heute hat die Arbeitslosigkeit in unserem Land ein dramatisches Ausmaß erreicht, sie liegt inzwischen höher als in vergleichbaren Ländern. Noch niemals in der deutschen Geschichte seit dem Anbruch der Industrialisierung war die Arbeitslosenrate über einen so langen Zeitraum so hoch wie in der Gegenwart.

Arbeitslosigkeit trifft vor allem junge Menschen beim Eintritt in das Erwerbsleben und Ältere. Überdurchschnittlich oft sind auch gering Qualifizierte betroffen. Alle diese Gruppen unserer Arbeitsbevölkerung sind mehr als andere von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen.

Wer lange ohne Arbeit ist, geht verloren

Wer lange arbeitslos ist, wird von Arbeitgebern oft nicht gerne beschäftigt, und läuft deshalb Gefahr, ganz aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen zu werden. Mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit nimmt auch die Chance ab, einen Arbeitsplatz zu finden. So kann es sogar passieren, dass Arbeitgeber selbst bei hoher Massenarbeitslosigkeit keine geeigneten Arbeitskräfte für ihre freien Arbeitsplätze zu finden glauben.

In einer dynamischen Wirtschaft werden Menschen mit Arbeitslosigkeit rechnen müssen. Wenn sie die Aussicht haben, bald wieder Arbeit finden zu können, verliert die Arbeitslosigkeit manches von ihrem Schrecken. Etwas ganz anderes ist es hingegen, wenn die Menschen befürchten, lange arbeitslos zu bleiben. Das ist die Lage heute – und entsprechend ist die Stimmung der Menschen in Deutschland. Wer verspricht, Arbeitslosigkeit gänzlich zu beseitigen, der verspricht, was er nicht halten kann. Die Langzeitarbeitslosigkeit zu beseitigen ist aber möglich.

In unserem Sozialstaat bedeutet Erwerbsarbeitslosigkeit üblicherweise nicht sogleich wirtschaftliche Verarmung. Arbeitslosigkeit bedeutet aber, dass Menschen von einem Tag zum nächsten vom Kernbereich des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen werden – und allzu oft ausgeschlossen bleiben. Es bedeutet Ablehnungsschreiben auf Bewerbungen. Es bedeutet Hoffnungslosigkeit. Es bedeutet, Monat für Monat mehr, den Verlust von Fähigkeiten und Motivation. Auch wer anfangs intensiv nach einer neuen Stelle sucht, gibt nach längerer Arbeitslosigkeit auf. „Sie, die sich nicht mehr beeilen müssen“, hieß es schon vor Jahrzehnten in der berühmten sozialwissenschaftlichen Pionierstudie Die Arbeitslosen von Marienthal, „beginnen auch nichts mehr und gleiten allmählich ab aus einer geregelten Existenz ins Ungebundene und Leere“. Dasselbe erleben wir heute wieder.

Wenn Politik für mehr Erwerbsarbeit ein zentraler Beitrag zu Inklusion und Gerechtigkeit ist, dann muss die vordringlichste Aufgabe der Politik in den kommenden Jahrzehnten darin bestehen, sämtliche Register zu ziehen, um die Erwerbsquote zu erhöhen. Sowohl aus ökonomischen Gründen als auch unter Gesichtspunkten der Gerechtigkeit können wir es nicht hinnehmen, dass Einzelne, Familien oder ganze soziale Gruppen systematisch in die Lage geraten und in der Lage verharren, ihre Potentiale nicht ausschöpfen zu können.

Dabei darf sich die Vorstellung von Vollbeschäftigung heute selbstverständlich nicht mehr an der Leitfigur des dauerhaft und ganztägig beschäftigten männlichen Arbeitnehmers orientieren, die das Zeitalter der industriellen Massenproduktion und den deutschen Sozialstaat der Nachkriegszeit geprägt hat. Die Frauenerwerbsquote ist erheblich gestiegen, wenn auch noch lange nicht auf die Höhen anderer Länder. Die Teilzeitarbeit hat in den vergangenen Jahren ständig an Bedeutung gewonnen. Dieser Trend hält an und erfasst zunehmend selbst qualifizierte Beschäftigungen und klassische Männerberufe – immer mehr sogar auf Wunsch von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern selbst. Auch Zeitverträge, Telearbeit, Leiharbeit und Selbständigkeit sowie überhaupt wachsende Flexibilität der Arbeitsmärkte gehören zum immer vielfältigeren Bild.

Wo Langzeitarbeitslosigkeit kein Thema ist

Vollbeschäftigung kann unter diesen Bedingungen dann als erreicht gelten, wenn jede und jeder innerhalb eines Jahres nach Beginn der Arbeitslosigkeit einen neuen Arbeitsplatz finden kann. Niemand soll in Deutschland länger als ein Jahr arbeitslos bleiben. Das Gespenst der Langzeitarbeitslosigkeit soll aus Deutschland verschwinden. Geht das überhaupt? Ist das realistisch? Viele äußern massive Zweifel.

Professor Richard Layard, viele Jahre lang Direktor des Centre for Economic Performance an der London School of Economics, war der Architekt des britischen New Deal. Immer wieder weist er darauf hin, dass es zum Verständnis der im Vergleich zu den Vereinigten Staaten hohen Arbeitslosigkeit in Europa beiträgt, zwischen kurzzeitiger Arbeitslosigkeit von nicht mehr als einem Jahr und Langzeitarbeitslosigkeit von über einem Jahr zu unterscheiden. Die so definierte Kurzzeitarbeitslosigkeit weicht in Europa nicht wesentlich von jener in den USA ab. Sie betrug 2003 im EU-Durchschnitt 5,14 Prozent gegenüber 5,3 Prozent in den Vereinigten Staaten. Wesentlich höher ist in Europa aber die Zahl derjenigen, die mehr als ein Jahr ohne Arbeit bleiben, während in den Vereinigten Staaten Langzeitarbeitslosigkeit fast gar nicht registriert wird: Im Jahr 2003 fielen nur 11,8 Prozent der insgesamt 6,0 Prozent Arbeitslosen in diese Kategorie. Zum Vergleich die Zahl für Deutschland: 2003 waren hier volle 50 Prozent der insgesamt 9,3 Prozent Arbeitslosen länger als ein Jahr lang erwerbslos.

Andere sind längst erfolgreich

Nicht nur die Vereinigten Staaten sind erfolgreicher bei der Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit. Auch für andere OECD-Staaten lässt sich diese Feststellung treffen. Wie viele andere internationale Studien zeigt etwa der Bericht der Arbeitsgruppe Benchmarking des Bündnisses für Arbeit und der Bertelsmann Stiftung, dass Deutschland in dieser Hinsicht besonders erfolglos ist, während andere Staaten bessere Resultate erzielen.1 In Großbritannien waren 2003 nur 23 Prozent der insgesamt 5,0 Prozent Arbeitslosen länger als ein Jahr arbeitslos, in Dänemark waren es im selben Jahr sogar nur 19,9 Prozent der insgesamt 5,6 Prozent Arbeitslosen, und in den Niederlanden 29,2 Prozent der insgesamt nur 3,8 Prozent ohne Arbeit. Noch Anfang der neunziger Jahre war auch in diesen Ländern der Anteil der Langzeitarbeitslosen noch viel höher, nämlich bei 34,4 Prozent in Großbritannien, bei 29,9 Prozent in Dänemark und bei 49,3 Prozent in den Niederlanden.2

Ende der achtziger Jahre hatten die Forscher um Richard Layard an der London School of Economics die Frage untersucht, weshalb der Aufschwung der Weltwirtschaft Ende der achtziger Jahre nicht mit einer substantiellen Reduzierung der Arbeitslosigkeit einhergegangen war. Sie ermittelten als Ursache dieser Entwicklung, dass es im Aufschwung nicht gelang, die Arbeitslosen zu mobilisieren und auf die freien Arbeitsplätze zu vermitteln. Die Arbeitslosigkeit war am Ende der achtziger Jahre höher als 1975.3

Aktive Vermittlung in Arbeit ist der Schlüssel

In den neunziger Jahren schlugen Länder wie Dänemark, Großbritannien und die Niederlande eine Politik ein, die den Vorschlägen dieser Forscher entsprach und die aktive Vermittlung in Arbeit in den Vordergrund stellte. Diese Staaten verlangten von Erwerbslosen, auch Arbeitsplätze zu akzeptieren, die anders und geringer qualifiziert waren als die vorherigen. Sie verlangten von ihnen, zu geringerer Bezahlung und eventuell auch weit weg vom Wohnort tätig zu werden. Die Staaten, die sich die Reform der Arbeitsvermittlung auf ihre Fahnen geschrieben hatten, versuchten auch sicherzustellen, dass niemand über längere Zeit untätig bleiben konnte. In Dänemark wurde die maximale Zeit der Untätigkeit von fünf Jahren auf ein Jahr reduziert. Viele Arbeitslose in Dänemark bemühten sich angesichts der umfassenderen Aktivitäten der Arbeitsverwaltung aus eigener Initiative erfolgreich um Arbeitsplätze. Das Ergebnis war, dass die Arbeitslosigkeit in Dänemark annähernd jedes Jahr sank. Angesichts der wachsenden Zahl der auf dem Arbeitsmarkt verfügbaren Arbeitskräfte schufen die Arbeitgeber mehr Arbeitsplätze. Die Fortschritte auf dem Arbeitsmarkt beruhten nach den Erkenntnissen Layards unmittelbar darauf, dass es gelungen war, die Arbeitslosen besser zu mobilisieren und sie aktiv bei der Arbeitssuche zu unterstützen.4

Alle Länder, die diesen Weg beschritten, hatten Erfolge und konnten die Arbeitslosigkeit auf das Niveau von 1975 drücken. In Großbritannien betrug die Arbeitslosigkeit 1975 4,6 Prozent und 5,0 Prozent im Jahr 2003. In Dänemark lag die Arbeitslosigkeit 1975 bei 5,4 und 2003 bei 5,6 Prozent. In den Niederlanden ging die Arbeitslosigkeit im Vergleich zu 1975 sogar von 5,8 Prozent auf 3,8 Prozent im vorigen Jahr zurück. Andere Länder, darunter Deutschland, haben nach wie vor hohe Arbeitslosenraten. Die Arbeitslosenquote in Deutschland hat sich den 4,7 Prozent des Jahres 1975 bekanntermaßen nicht wieder angenähert.

Langzeitarbeitslosigkeit lässt sich verringern und schließlich ganz beseitigen, mithilfe einer besseren Vermittlung der Arbeitslosen durch die Arbeitsverwaltung und private Arbeitsvermittler sowie durch die Veränderung der Rahmenbedingungen, die Arbeitssuchende bei der aktiven Suche nach Arbeit beeinträchtigen. Eben diese These liegt den von der Bundesregierung durchgesetzten Hartz-Reformen auf dem Arbeitsmarkt zugrunde. Nur auf Basis dieser Überzeugung ergeben die Reformen einen Sinn.

Was im Rückblick völlig unfassbar erscheint

Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe verlangt bessere und intensivere Vermittlung für alle Langzeitarbeitslosen durch die neue Bundesagentur für Arbeit und die vielen regionalen Jobcenter. Es wird nicht mehr danach unterschieden, ob jemand Leistungen vom Sozialhilfeträger oder von der Arbeitsverwaltung bezieht. Die Schaffung einer einheitlichen Leistung für alle Langzeitarbeitslosen mit dem Arbeitslosengeld II beendet die ungerechtfertigten bisherigen Leistungsunterschiede und reformiert gleichzeitig die Höhe der künftigen Unterstützung für Langzeitarbeitslose im Sinne einer aktiveren Orientierung auf den Arbeitsmarkt. Dass sich gerade einmal 10 Prozent der etwa 90.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der früheren Bundesanstalt für Arbeit mit Vermittlungsaufgaben befassten, war eine unglaubliche bürokratische Fehlentwicklung. Im Rückblick erscheint es völlig unfassbar, dass Politik, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften über Jahrzehnte fast niemals versuchten, dies zu ändern. Menschen wurden ihrem Schicksal alleine überlassen, da in der Vergangenheit jeder Vermittler und jede Vermittlerin bis zu 800 Arbeitssuchende zu betreuen hatte. Selbst noch so engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesanstalt für Arbeit konnten da nichts ausrichten. Jetzt soll die Zahl der mit Vermittlung betrauten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so gesteigert werden, dass jeder und jede von ihnen nur noch 75 Arbeitsuchende zu betreuen hat. Der Anfang wird bei den unter 25-Jährigen gemacht. Bald wird jeder Arbeit suchende Mensch individuell betreut werden. Damit werden die Arbeit suchenden Menschen in der größten Katastrophe ihres Lebens endlich nicht mehr alleine gelassen.

Der virtuelle Arbeitsmarkt ist dringend nötig

Der besseren Vermittlung durch bessere Rahmenbedingungen dient auch der über das Internet zugängliche so genannte virtuelle Arbeitsmarkt, für den eine Lanze gebrochen werden muss. Denn überhaupt erst durch den neuen virtuellen Arbeitsmarkt entsteht ein funktionsfähiger Arbeitsmarkt. Die öffentliche Debatte über die Kosten der Einführung des virtuellen Arbeitsmarktes bei der Bundesagentur für Arbeit hat völlig den Blick dafür verstellt, dass sich mit diesem Projekt eine unverzichtbare Innovation verbindet. Wenn erst einmal alle Arbeitslosen in diesen Computern erfasst sind, können Personalabteilungen und private Arbeitsvermittlungsunternehmen selbständig auf die Suche nach geeigneten Arbeitsuchenden für freie Stellen gehen – und zwar im ganzen Bundesgebiet. Niemand ist mehr auf eine mehr oder weniger gelungene Vorauswahl der Arbeitsverwaltung und natürlich auch nicht auf deren zeitaufwendige bürokratische Abläufe angewiesen. Für bestimmte Fachgebiete können sich spezialisierte Unternehmen bilden, die für Unternehmen geeignete Arbeitskräfte heraussuchen.

Welches Potential darin liegen könnte, zeigt der Misserfolg der Aufhebung des Arbeitsvermittlungsmonopols durch die ehemalige Regierung aus Union und FDP. Zahlreiche Headhunter, die bis dahin nur Führungskräfte angeworben hatten, witterten einen neuen Markt. Aufgrund ihrer Kontakte zu den Unternehmen, die Arbeitskräfte suchten, versprachen sie sich große Erfolge. Fast alle haben sich aus dem Markt wieder zurückgezogen. Ihnen fehlte die wichtigste Ressource: Arbeitssuchende. Nur die Leiharbeitsunternehmen mit ihren Kontakten konnten auch erfolgreich Vermittlung betreiben. Private Arbeitsvermittlung setzt gerade nicht die Zersplitterung der Arbeitsverwaltung voraus, sondern diesen einheitlichen virtuellen Arbeitsmarkt. Man stelle sich vor, unternehmerische Initiative und viel Kapital stürzte sich auf diesen Markt. Welch ein Glück für die Arbeitssuchenden und unser Land! Auch die Arbeitsuchenden können direkt über dieses System nach freien Stellen suchen – eine große Hilfe. Dies wird natürlich umso interessanter, je besser das System funktioniert, je mehr also die Unternehmen ihre freien Stellen in diesen virtuellen Arbeitsmarkt eingeben oder der Arbeitsagentur zu diesem Zweck melden.

Warum Amerika kein Vorbild ist

Kein Staat in Europa sollte sich die USA zum Vorbild nehmen, deren geringere Langzeitarbeitslosigkeit eindeutig darauf zurückzuführen ist, dass die Langzeitarbeitslosen – anders als in den europäischen Staaten – finanziell nicht lange unterstützt werden. Aber es zeigt sich, dass diejenigen europäischen Staaten, die ihre Leistungen für die Langzeitarbeitslosen rechtzeitig reformiert haben, heute bessere Ergebnisse vorweisen als Deutschland. Die Unterstützung für Langzeitarbeitslose muss den Lebensunterhalt sichern. Das wird immer der Unterschied zwischen Deutschland und anderen, weniger sozialen Staaten bleiben. Das wird dauerhaft der Unterschied zum amerikanischen Modell sein. Die Bundesrepublik ist auch nach den Worten unserer Verfassung ein sozialer und demokratischer Rechtsstaat. Damit verbietet sich im Rahmen unseres Verfassungskonsenses das amerikanische Vorgehen. Die neuen Regelungen des Arbeitslosengeldes II sichern auf die gebotene Weise den Lebensunterhalt. Alle Kritiker der Neuregelung sollten sich folgende Testfrage stellen: Wenn Langzeitarbeitslose schon immer die Leistungen des Arbeitslosengeldes II erhalten hätten, gäbe es dann heute eine große Reformbewegung für eine Anhebung der Leistungen? Wohl nicht. Die Kritik nimmt an den bisherigen Leistungen für einen Teil der Langzeitarbeitslosen Maß. Ohne den Maßstab des Vergangenen würde niemand Kritik üben.

Arbeit nur im alten Beruf? Das geht nicht mehr

Wer nicht innerhalb eines Jahres eine neue Arbeit findet, muss bereit sein, auch eine schlechter bezahlte und weniger qualifizierte Arbeit zu akzeptieren. Unter dem Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Teilhabe ist selbst schlecht bezahlte und unbequeme Erwerbsarbeit besser als transfergestützte Nichtarbeit. Natürlich ist jedem Menschen zu wünschen, dass er eine Arbeit ausüben kann, die seiner Qualifikation entspricht. Zugleich aber ist es nicht ungerecht, wenn Arbeitslose, die Leistungen aus Steuermitteln in Anspruch nehmen, prinzipiell zur Aufnahme jeder Erwerbstätigkeit bereit sein müssen, die ihnen für andere Bürgerinnen und Bürger zumutbar erscheint. Aus einem spezifischen individuellen Qualifikationsniveau lässt sich kein Recht auf eine bestimmte Arbeit ableiten.

Diese Einsicht fällt vielen nicht leicht. Das ist auch verständlich. Es ist sehr ärgerlich, wie glatt manche über das Unverständnis vieler Bürgerinnen und Bürger hinweg gehen. So sehr die Aufgabe des Berufsschutzes bei Langzeitarbeitslosigkeit unvermeidbar und richtig ist, so sehr ist nämlich auch richtig, dass Beruf, Beruflichkeit und Berufsehre stolze deutsche Traditionen sind. Wohl in keinem anderen Land spielt der Beruf eine solche Rolle wie in Deutschland. Die Wirtschaftskraft Deutschlands beruhte und beruht auf gut ausgebildeten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie vielen in Berufen ausgebildeten Selbständigen. Wir wissen, dass die Zukunft unseres Landes auch davon abhängt, ob es uns gelingt, mehr Menschen besser in Schule, betrieblicher Berufsausbildung und Universität auszubilden. Trotzdem müssen wir feststellen, dass die wirtschaftliche Dynamik so sehr Fahrt aufgenommen hat, dass das Festhalten an einem einmal ausgeübten Beruf oder einem erreichten beruflichen Status auch mit lang anhaltender Arbeitslosigkeit verbunden sein kann. Das darf niemand wollen. Darum war eine Änderung dringend nötig.

Im Übrigen: Wer arbeitslos wird, verliert nicht nur Einkommen, sondern oft auch einen Teil seines Selbstwertgefühls, das aus der Arbeit herrührt. Selbstverständlich vermitteln verschiedene Arten von Arbeit ein je anderes Maß an Zufriedenheit. Wie zufrieden Menschen mit ihrer Arbeit sind, hängt auch von der Qualität der Arbeit ab. Die Frage ist also, ob selbst ein schlechter Arbeitsplatz zufriedener macht als Arbeitslosigkeit. Nicht nur der gesunde Menschenverstand sagt: Ja. Die Zufriedenheit eines Menschen ist stärker davon abhängig, ob der Mensch Arbeit hat, als davon, welche Arbeit er ausübt.

Geht uns die Arbeit aus? Keineswegs!

Viele bezweifeln, dass Arbeitslosigkeit mit besserer Arbeitsvermittlung und vermittlungsorientierten Rahmenbedingungen reduziert werden kann. Die Zweifel rühren von der Vorstellung her, dass es eben nur eine bestimmte Menge an Arbeitsplätzen gäbe. Wenn jemand durch bessere Vermittlung einen Arbeitsplatz fände, dann würde ihn eben ein anderer verlieren. Bei mehr als vier Millionen arbeitslosen Menschen nütze bessere Vermittlung nichts. Jedenfalls ändere eine verbesserte Vermittlung nichts an der Zahl der Arbeit suchenden Menschen. Die These, dass uns die Arbeit ausgeht, ist falsch. Sie beinhaltet eine statische Vorstellung unserer Volkswirtschaft, die vielleicht den Trägheitsgesetzen feudaler Gesellschaften gerecht wird, aber keineswegs der Dynamik einer kapitalistischen Ökonomie. Auch wenn viele das Gegenteil glauben: Es stimmt nicht, dass ein einmal verlorener Arbeitsplatz dauerhaft die verfügbare Arbeitsmenge reduziert und durch keinen anderen mehr ersetzt werden kann. Es stimmt nicht, dass ein Arbeitsloser, der einen Arbeitsplatz erhält, im Prinzip einem anderen den Arbeitsplatz wegnimmt, ohne dass das Arbeitsvolumen steigt. Es stimmt auch nicht, dass die Zahl der Arbeitsplätze feststeht und sich ausschließlich nach der Nachfrage richtet. Die These, dass das verfügbare Arbeitsvolumen immer geringer wird, entspricht sicherlich der Alltagsüberzeugung vieler Bürgerinnen und Bürger. Sie leuchtet ihnen unmittelbar ein. Deshalb ist diese Vorstellung im Laufe der vergangenen Jahrzehnte so wirksam geworden. Sie hat Pate gestanden, als immer größere Bevölkerungsgruppen subventioniert vom Arbeitsmarkt genommen wurden – Beispiel Frühverrentung. Sie hat tarifpolitische Entscheidungen der Arbeitgeber und der Gewerkschaften bestimmt. Sie hat auch die volkswirtschaftlichen Debatten beherrscht. Bis zum Ende der neunziger Jahre herrschte letztlich die Überzeugung vor, dass wir uns mit einer hohen Massenarbeitslosigkeit abfinden müssten.

Das zynischste Dokument der These, dass uns die Arbeit ausgehe, war der Zukunftsbericht der Länder Sachsen und Bayern.5 Im Bericht der hoch wissenschaftlich zusammengesetzten Zukunftskommission wird unter anderem erörtert, ob die hohe Arbeitslosigkeit im Osten Deutschlands auch etwas mit der höheren Erwerbsneigung der ostdeutschen Frauen zu tun habe und ob man – wohlgemerkt: zum Umgang mit der Arbeitslosigkeit – das ehrenamtliche Engagement der Arbeitslosen fördern solle.

Mehr Arbeit durch mehr Mitbewerber

Richard Layard hingegen argumentiert: Wenn sich zwei Arbeitssuchende für einen Arbeitsplatz bewürben und nur der eine erhielte ihn, dann verbliebe der andere natürlich arbeitslos. Aber jemand der eine Beschäftigungsmöglichkeit verschlossen fände, werde sich nach einer anderen Beschäftigungsmöglichkeit umsehen. Wenn der erfolglose Bewerber im Übrigen für solche Arbeitsplätze prinzipiell infrage gekommen wäre, werde er sich weiter als nachgefragter Arbeitnehmer auf freie Stellen bewerben. Gleiches gelte, wenn ein Arbeitnehmer, der sonst ohne Arbeit geblieben wäre, einen anderen ersetze und der andere dann auf Arbeitssuche gehe. Die Arbeitgeber könnten auf mehr geeignete Arbeitsuchende zurückgreifen und ihre freien Stellen besetzen. Oft wachse die tatsächliche Zahl der Beschäftigten durch die Tätigkeit der erfolgreichen Bewerber, die zuvor arbeitslos waren. Das allein verändere die Zahl der Beschäftigten.6

Die Zahl der Arbeitsplätze korrespondiert relativ schnell mit dem effektiven Arbeitsangebot. Sie wird vor allem von der Zahl der beschäftigungsfähigen Menschen begrenzt. Ein verändertes Angebot an beschäftigungsfähigen Arbeitskräften verändert auch die Zahl der Arbeitsplätze. Ländervergleiche zeigen, dass die Zahl der Arbeitsplätze am schnellsten ansteigt, wo die Arbeitsbevölkerung am stärksten wächst. Ähnliches gilt für die Erwerbsquote. Wo die Erwerbsquote zunimmt, vergrößert sich die Arbeitslosigkeit keineswegs. Die Zahl der Arbeitsplätze steigt auch mit der Zahl der effektiv dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte. Das kann in allen internationalen Vergleichen nachvollzogen werden. Drei Beispiele: In Spanien lag 1993 die Erwerbsquote bei 46,6 Prozent und die Arbeitslosigkeit bei 18,6 Prozent; bis 2003 war die Erwerbsquote auf 59,7 Prozent gestiegen und die Arbeitslosigkeit auf 11,3 Prozent gefallen. Im selben Zeitraum stieg in Irland die Erwerbsquote von 51,7 auf 65,4 Prozent, während die Arbeitslosigkeit von 15,6 auf 4,6 Prozent fiel. In den Niederlanden wiederum stieg die Erwerbsquote von 63,6 auf 73,5 Prozent, wohingegen die Arbeitslosigkeit von 6,2 auf 3,8 Prozent sank.7

Frappierend ist, dass sich diese Erkenntnis, für welche die Statistiken reichlich Nachweise liefern, noch kaum durchgesetzt hat. Dagegen erfreut sich die Überzeugung ungebrochener Popularität, dass ein wachsendes Arbeitskräfteangebot Arbeitslosigkeit verursache – obgleich sich dieser Zusammenhang überhaupt nicht belegen lässt. Das sollte nachdenklich stimmen.

Was Skeptiker nachdenklich stimmen sollte

Nachdenklich stimmt manche Skeptiker vielleicht auch, dass sie für Teilbereiche des Arbeitsmarktes der hier vorgetragenen Argumentation selbst oft schon einmal gefolgt sind:


• Viele sagen, dass das Wirtschaftswachstum der Vereinigten Staaten zu einem Teil auf die Zuwanderung in das Land zurückzuführen ist. Das stimmt und lässt sich belegen. Eindrucksvoll hat das der Bericht der unabhängigen Kommission Zuwanderung getan.8

• Viele sagen, dass sich eine hohe Frauenerwerbsquote wie etwa in Schweden oder Dänemark keineswegs in höherer Arbeitslosigkeit niederschlägt, sondern im Gegenteil mit niedrigerer. Das stimmt und lässt sich belegen. Die hohe Frauenerwerbsquote in Schweden von 71,5 Prozent korrespondiert mit einer Arbeitslosenrate von 5,6 Prozent. Beim skandinavischen Nachbarn Dänemark sieht es ähnlich aus: Hier beträgt Erwerbsquote der Frauen 70,5 Prozent, die Erwerbslosenquote hingegen nur 5,6 Prozent.9

• Viele sagen, dass eine hohe Erwerbsquote älterer Menschen – Deutschland hat eine sehr niedrige – keineswegs zu höherer Arbeitslosigkeit führt. Das stimmt und lässt sich belegen. In Schweden und Dänemark sind 68,6 beziehungsweise 60,2 Prozent der 55 bis 64-Jährigen erwerbstätig, und die Arbeitslosigkeit liegt in beiden Ländern bei 5,6 Prozent.10


Wer der hier vorgetragenen Argumentation bezogen auf einzelne Bereiche des Arbeitsmarktes zustimmt – und das sind sehr viele auch unter den Skeptikern –, sollte sich einen Ruck geben und vom Teil auf das Ganze schließen: Ein größeres effektives Arbeitskräfteangebot führt auch zu mehr Arbeitsplätzen. Das effektive Arbeitskräfteangebot zu erhöhen ist genau das Ziel der auf Arbeitsvermittlung ausgerichteten Neuorientierung der Arbeitsmarktpolitik.



Anmerkungen

1 Werner Eichhorst, Eric Thode und Frank Winter, Benchmarking Deutschland 2004: Arbeitsmarkt und Beschäftigung, Bericht der Bertelsmann Stiftung, Berlin 2004.
2 Vgl. OECD Employment Outlook 2004.
3 Vgl. Richard Layard, S. Nickell und R. Jackman, Unemployment: Macroeconomic Performance and the Labour Market, Oxford 1991.
4 Richard Layard, Good Jobs and bad Jobs, Paper presented to the OECD Ministers of Employment, 29. September 2003.
5 Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen (Hrsg.), Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland, Bonn 1997.
6 Richard Layard, Preventing long-term unemployment: An economic analysis, in: D. Snower und G. de la Dehesa (Hrsg.), Unemployment Policy, Cambridge 1997.
7 Vgl. Eurostat 2004.
8
Unabhängige Kommission Zuwanderung, „Zuwanderung gestalten – Integration fördern“, Kapitel II, 6.2: Auswirkungen von Zuwanderung auf das Wirtschaftswachstum und den Arbeitsmarkt, Juli 2001.
9 Zahlen von 2003, vgl. Eurostat 2004.
10 Zahlen von 2003, vgl. Eurostat 2004.

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