Apathie und Alltag

Die Gesellschaften des Westens kehren der Politik verächtlich den Rücken zu. Die völlige Abstinenz der jüngeren Generationen bedroht die Grundlagen der Demokratie. Wo nur noch Markt und Marken zählen, stirbt das politische Leben irgendwann aus

Die politischen und publizistischen Klassen überall in Westeuropa beklagen die um sich greifende politische Apathie ihrer Völker. Ein wachsender Teil der Bevölkerung kehrt der Politik den Rücken, verzichtet auf jegliches Engagement und zieht sich selbst von der Teilnahme an Wahlen zurück. Allen voran gilt das für jüngere Wähler. Drastisch demonstriert wurde dieses Phänomen gerade erst beim ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl in Frankreich, ebenso wie jüngst bei der Landtagswahl in Sachsen Anhalt. In Großbritannien ist der Prozess noch weiter vorangeschritten. Nur 59 Prozent der Stimmberechtigten gaben bei den Unterhauswahlen im Juni 2001 ihre Stimme ab. Bei Lokalwahlen in England und Wales ist eine Beteiligung unter 30 Prozent fast die Norm.


Wie ist dieser betrübliche Tatbestand zu bewerten? Oder ist er womöglich gar nicht betrüblich? Es ist möglich, dem Abschied von der Politik sogar Positives abzugewinnen. Die Zeiten großer ideologischer Debatten sind vorüber, wie gerade Verfechter der Neuen Mitte und des Dritten Weges meinen, die bei bestimmten Themen auf die Notwendigkeit einer Politik jenseits von links pochen. Die Bindung an die Parteien hat sich im Verlauf der Nachkriegsdekaden stetig gelockert. Der Prozess hat sich seit dem Ende des Kommunismus noch beschleunigt. Wenn Politik vornehmlich ein Streit ums bessere Mangagement ist und auch so wahrgenommen wird, ist das nicht dazu angetan, politische Leidenschaften auszulösen.


Im Übrigen lässt sich mit gewissem Recht argumentieren, dass politische Apathie ein Zeichen der Zufriedenheit darstellt. Wir leben in Zeiten noch nie erlebten Massenwohlstandes. Historisch hat es kein Zeitalter gegeben, in dem es einer so großen Zahl von Menschen nicht an den Essentials mangelte, in dem sie in so hohem Maße gegen Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter abgesichert waren. Natürlich ist der Zustand der Gesellschaften des Westens nicht perfekt, sicher auch nicht immer gerecht und fair, gleichwohl ist die Tatsache selbst schwerlich zu bestreiten. Für eine Mehrheit der Menschen ist damit das entscheidende Motiv entfallen, sich politisch zu engagieren. Andere Faktoren können für eine niedrige Wahlbeteiligung sorgen - etwa schiere Langeweile, wenn eine Wahl, wie etwa der Laboursieg 2001 schon im voraus entschieden erscheint.

Demokratie gelingt nicht ohne Demokraten

Diese Argumente sind nicht von vornherein zu verwerfen. Doch können sie das Gesamtphänomen der Apathie nicht hinreichend erklären. Auch dürfen Politiker wie Medienvertreter diesen Zustand nicht auf Dauer hinnehmen. Demokratie ohne Demokraten kann es auf Dauer nicht geben. (Es sei denn, wir entschieden uns dafür, möglichst aufgeklärte und benevolente Eliten herrschen zu lassen - wobei diese dann aber alles daran setzen müssten, zumindest für den Erhalt des Rechtsstaates zu sorgen.) Politische Abstinenz, gekoppelt dazu noch mit Verachtung für Politik und Politiker, ist bedrohlich für eine Gesellschaft, in der zugleich die Bereitschaft zu zivilem und sozialem Engagement schwindet.


Was ist der tiefere Grund für diese Entwicklung? Er liegt in der rapiden Ökonomisierung der westlichen Gesellschaften, die sich vornehmlich materiell definieren. Idealistische Ziele oder immaterielle Werte haben an Bedeutung verloren. Eines ist auf Grund der vorhandenen Daten und Erfahrungen unbestreitbar: Auf die jüngeren Generationen schlagen diese Entwicklungen in besonderem Maße durch. Sie leben in Zeiten, in denen sich die wichtigsten Entscheidungen um die richtigen Markenartikel drehen, um das Design von Funktelefonen, um den Sieger bei Big Brother oder um Popidole.


Die Jugendorganisationen von SPD und Labour bekommen das schmerzlich zu spüren. Sie berichten vom totalen Desinteresse der Jugendlichen, die sie für ihre Politik gewinnen wollen. In Bremen versuchten die Jusos alle erdenklichen Mittel einzusetzen: Sie boten digitale Parties und die kostenlose Teilnahme an Online-Chatrooms. Alles aussichtslos. Die meisten Jugendlichen nutzen solche Angebote bereits kostenlos zu Hause. Ist es ein Zufall, dass einer von der Ausrichtung her besonders idealistischen Partei wie den Grünen die Jungwähler weglaufen und diese Partei deshalb langsam dahinsiecht? Die modebewusste und konsumbejahende Stimmung kommt in Deutschland derzeit vor allem der FDP zugute, die sich modern und fortschrittsfreudig als Lifestyle-Partei präsentiert.

Was ist, wenn ganze Generationen verblöden?

Die Medien leiden unter ähnlichen Problemen wie die Politik, vor allem jene Produkte der "Vierten Gewalt", die sich nicht vor allem als Instrumente der Spaßgesellschaft verstehen. Solange die Medien sich als Vermittler von Information und Öffentlichkeit betrachten, ohne die Demokratie nicht existieren kann, müssen sie sich genauso wie die Politik fragen, wie sie junge Menschen mit Informationen erreichen. Auflagen und Einschaltquoten für Nachrichten, Informationen und Beiträge zum tieferen Verständnis von Problemen sind das Gegenstück zu Wahlbeteiligungen und Mitgliedschaften.


Die Einschaltquoten für Nachrichten und Informationssendungen sinken aber gerade bei Jugendlichen und Heranwachsenden. Eine britische Studie enthüllte, warum selbst "jugendgemäß" aufbereitete Information ein Misserfolg ist. Wir müssen uns einer bitteren Erkenntnis stellen: Es sind Generationen nachgewachsen, die sich durch extrem kurze Aufmerksamkeitsspannen und erschreckende Ignoranz auszeichnen. Sie sind völlig unkritisch gegenüber der Werbung, sie erweisen sich zumeist als unfähig, zwischen der politischen Orientierung von Zeitungen zu unterscheiden, die sie ohnehin nur wegen der celebrity news lesen. Gegenüber den Konsumbotschaften dagegen zeichnen sie sich durch ein hohes Maß an naiver Kritiklosigkeit aus. Mehr als die Hälfte der britischen Jugendlichen glaubt, dass in Werbung und Commercials die Wahrheit verkündet wird, dass Prominente die Produkte benutzen für die sie ihr Gesicht hinhalten. Die Jugendlichen sind demnach überhaupt nicht interessiert an raffinierten, intelligent gemachten Commercials, mit denen das britische Fernsehen früher prunken konnte. Sie wollen simple Botschaften. Sie unterscheiden nicht zwischen verschiedenen Sendern oder Kanälen, sondern zwischen Sendeformaten und hangeln sich geschickt vorbei an jeglicher intellektueller Herausforderung oder Information, hin zu den Unterhaltungsangeboten. Noch etwas ist bei den Jugendlichen ausgeprägt: Sie sind sehr schnell gelangweilt. Noch vor einigen Jahren klagten Soziologen und Medienfor-scher über die "Drei-Minuten-Kultur", die sich herausgebildet habe. Heute wäre man glücklich über eine so ausgedehnte Aufmerksamkeitsspanne.

Ist die Mehrheit politisch "verwahrlost"?

Das ist das Ergebnis einer Trackingstudie für fünf britische Medienunternehmen und Werbeagenturen, darunter Carlton TV, Channel 4 und Guardian Papers. Die Untersuchung läuft seit sieben Jahren und wird permanent fortgeschrieben, wodurch sich Veränderungen in Verhalten und Mediennutzung gut feststellen lassen. Der Kommentar von Sid McGrath, Planer der HCCL Werbeagentur: Jugendliche werden nicht mehr herausgefordert ihre intellektuellen Muskeln zu benutzen; es geht nur noch um instant gratification, um augenblickliche Lustbefriedigung.


Die Ergebnisse der Trackingstudie decken sich mit einer empirischen Untersuchung in 14 europäischen Ländern aus dem Jahre 2001. Sie zeigte erstaunlich wenig nationale Abweichungen. Wohl aber gibt es im Hinblick auf Engagement, den Beitritt zu Jugendgruppen oder Vereinen einen Unterschied zwischen Stadt und Land. Auf dem Land ist der gesellschaftliche Auflösungsprozess noch nicht so weit fortgeschritten wie in Städten und Ballungsgebieten.


In Deutschland legte das Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen Ende 2001 das Ergebnis einer Studie über jugendliche Arbeitnehmer vor. Das Fazit: Die Mehrheit ist politisch "verwahrlost", so mangelhaft seien ihre Kenntnisse der Politik. Politisches Bewusstsein fehlte zwei Dritteln der Befragten ebenso wie die Bereitschaft zu gesellschaftlichem Engagement oder zu einer kritischen Haltung. Die meisten konnten nicht zwischen links und rechts unterscheiden. Eine Umfrage unter Jugendlichen, die von der Werbung als Trendsetter eingestuft werden, zeigte ihre Prioritätenskala. Am liebsten schauen sie DVDs, brennen CDs und surfen im Internet. Am unbeliebtesten und völlig out waren Sich-in-der-Politik-engagieren, Bücher lesen und soziales Engagement.

Triviales und Banales auf allen Kanälen

Das alles sind Indizien für die These, dass es die Hyperkommerzialisierung der westlichen Gesellschaften ist, die als der wesentliche Faktor benannt werden muss. Informationsrevolution und mediale Globalisierung haben eines sicherlich bewirkt. Sie haben die Ökonomisierung vorangetrieben - den öffentlichen Diskurs gefördert haben sie nicht. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben sich gerade im Fernsehen, dem prägenden Medium unserer Zeit, Triviales und Banales in rasantem Tempo ausgebreitet. Der amerikanische Soziologe Robert Putnam verweist in seinem Buch Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community auf den Zusammenhang zwischen der Nutzungshäufigkeit des Fernsehens einerseits und dem Nachlassen von zivilem und politischem Engagement andererseits. Zwar lässt die Fernsehfrequenz der Jugendlichen neueren Erkenntnissen zufolge nach. Doch das ist überhaupt kein Grund zur Beruhigung: Sie wandern nur ab in ein anderes, auf Unterhaltung und Kitzel getrimmtes Medium, auf Playstation oder Computerspiele, die sie aus dem World Wide Web herunterladen.


Die Propheten von Digitalisierung und Multikanalfernsehen verhießen uns den Anbruch eines goldenen Zeitalters: Neue Technologien und die Vernetzung der Welt durch das Fernsehen, durch Telekommunikation und Internet würden zu einer unglaublich reichhaltigen Versorgung mit Informa-tionen führen, würden unser Wissen vergrößern und dazu beitragen, das Verständnis zwischen Menschen und Nationen zu fördern. Dieses rosige Bild von der Zukunft erweist sich mehr und mehr als Illusion. Der Fluss der Informationen aller Art ist dramatisch angeschwollen. Vor unseren Augen sind neue globale Strukturen entstanden. Intensität, Umfang und Geschwindigkeit von Information und kulturellem Austausch über Grenzen und Kontinente hinweg haben in ungeheurer Weise zugenommen. Doch was ist der primäre Inhalt, welche Botschaften dringen überhaupt durch?

Bereits Kleinkinder werden konditioniert

Allem voran handelt es sich um die westliche Kommerz- und Trivialkultur. Benjamin Barber prägte dafür den Begriff der McWorld - eine Welt, zusammengehalten durch Kommunikation und Unterhaltung, in der es vornehmlich darum geht, weltweit die Nachfrage nach Gütern und Images zu schaffen. Dafür sorgen die möglichst lückenlose Berieselung durch Logos, Werbung, Sponsorenbotschaften, Jingles, und die omnipräsenten Symbole von Brands, ganzen Produktketten. Das Ziel ist der perfekte Homo oeconomicus, die menschliche Konsummaschine, extrem markenbewusst, doch niemals ganz zufrieden, immer auf der Jagd nach der Erfüllung neuer Bedürfnisse. Ist es angesichts solcher permanenten Gehirnwäsche von Kindern und Jugendlichen verwunderlich, dass sie die Wahl zwischen Nike oder Reebok tausendmal wichtiger finden als die zwischen Schröder und Stoiber? Speziell das Fernsehen, die Medien insgesamt, treiben den Prozess der Entpolitisierung in dem Maß voran, in dem sie zu Instrumenten der Hyperkommerzialisierung geworden sind.


In der schönen neuen Medienwelt sind Commercials folgerichtig zum dominierenden Programminhalt geworden. Eine amerikanische Studie aus dem Jahre 2000 über den Output von 102 regionalen Fernsehkanälen zeigt, dass Nachrichten, Informationssendungen und Dokumentarfilme zusammen genommen deutlich weniger Sendezeit erhalten als Werbung. Europa hinkt nicht mehr weit hinter dieser Entwicklung her. Die Werbeindustrie zielt immer stärker auf Kinder. Bereits Ein- bis Zweijährige werden ins Visier genommen, um sie frühzeitig zu markentreuen Konsumenten zu konditionieren. Auch die hehre BBC leistet ihren Beitrag dazu. Ihre Teletubbies, so niedlich und harmlos sie daherkommen, dienen mittlerweile in mehr als 100 Ländern der Welt dem Zweck, bereits die Aller-kleinsten an den Fernseher zu fesseln, während Eltern die vielfältigen Produkte der Teletubbieindustrie erstehen müssen.


Eine Zielgruppe ist in besonderem Maße im Griff der Gehirnwäsche: Die Fernsehjunkies aus der Underclass, den Schichten am Rande der Gesellschaft. In die Welt der Fernsehjunkies, für die vor allem das Tagesfernsehen mit seinen endlosen Soaps, Bekenntnisshows und Reality TV konzipiert wurde, dringt kein Hauch von Information, von Nachdenklichkeit, von differenzierter Betrachtung oder Information. Das Trashfernsehen für dieses Publikum, zu dem übrigens ein starker Prozentsatz lediger Mütter gehört, behandelt seine Zuschauer wie Eltern, die ihren Kindern nur süßliche Pampe als Nahrung bieten; die Sprösslinge verkümmern körperlich wie geistig. Wer glaubt, das sei ein überzogenes Urteil, schaue sich die wachsende Zahl übergewichtiger, ja fettleibiger Kinder an oder befrage Lehrer nach Denk- und Artikulationsfähigkeit ihrer Schüler.

Dauerkommerz und Demokratie

Systematisch wird in der modernen Welt des rauschhaften Konsum und der Spaßgesellschaft der passive, desinteressierte Bürger herangezüchtet. Was folgt aus alledem? Fünf Punkte sind wichtig:


Erstens, Demokratie und Zivilgesellschaft brauchen mehr als nur gefügige markenbewusste Verbraucher. Sie brauchen Bürger, die informiert sind, autonom in ihren Entscheidungen, fähig zu unabhängigem Urteil. Die Frage ist, wie die beiden Ziele - Dauerkommerz und Demokratie - auf Dauer miteinander zu vereinbaren sind oder ob sie immer stärker miteinander kollidieren werden.


Zweitens, die Medienlandschaft von heute war politisch gewollt. Die Medienpolitik hat die Weichen gestellt hin zur Vielfalt und Konkurrenz für öffentlich-rechtliche Sender. Das Ergebnis wird heute zunehmend auch von Konservativen beklagt.


Drittens, die Medien, so wie wir sie erleben, auch in ihren garstigsten Erscheinungsformen, entsprechen den Instinkten, Wünschen und Bauchgefühlen vieler Menschen. Sonst wären sie keine Massenmedien. Ein Rupert Murdoch, der sich selbst als Befreier der Massen versteht und ihnen gibt, wonach sie verlangen, nämlich Spiele und Unterhaltung, ist in stärkerem Maße Demokrat als der BBC-Gründer Lord Reith, der die Massen informieren, erziehen und unterhalten wollte. Reith steht für die Kultureliten, die das Volk lenken und gängeln wollen.

Die Veredelungserwartung blieb Illusion

Viertens, es ist aufschlussreich, dass die Bereitschaft zu politischem Engagement im internationalen Vergleich bei Deutschen sehr viel weniger ausgeprägt ist als in ärmeren ost- oder südeuropäischen Ländern. Erhebliche Unterschiede treten bei der Antwort auf die Frage auf, ob man bereit sei, ärmeren und älteren Menschen zu helfen oder Geld für gute Zwecke zu sammeln. Hoch ist der Prozentsatz in armen Gesellschaften. Auch das deutet darauf hin, dass ein Zusammenhang zwischen Massenwohlstand und politischer wie sozialer Apathie besteht.


Fünftens, in materiellem Wohlstand sahen die Vordenker der Linken die Voraussetzung für Besserung. Materielles Wohlergehen sollte von Mühsal befreien und einen Prozess individueller und gesellschaftlicher Veredelung bewirken. Marx erwartete, dass die Menschen im Reich der Freiheit Gedichte schreiben, Skulpturen modellieren, Bilder malen oder sonstige Kunsthandwerke ausüben würden. Dass dies in der modernen Spaß-, Drogen- und Konsumiergesellschaft offenkundig nicht eingetreten ist, bedeutet eine schmerzliche historische Lektion, der wir uns stellen müssen. Die Veredelungserwartung hat sich als Illusion erwiesen. Und es ist höchste Zeit, dass wir aus dieser Einsicht Konsequenzen ziehen.

zurück zur Ausgabe