Angst zerfrisst die Bürgertugend

Deutschland geht es wieder besser. Und trotzdem dominiert weiter die Angst. Früher fürchtete man sich vor Atomtod und Waldsterben, heute vor dem individuellen Abstieg. Was hilft, sind demokratische Partizipation und gemeinsinniges Handeln

Von „deutscher Angst“ und deutschen Selbstzweifeln zu reden, hat eine lange Tradition. Fast könnte man meinen, auch kollektiv- oder (früher hätte man gesagt:) „völkerpsychologisch“ legen die Deutschen Wert auf einen Sonderweg. Schon der im 19. Jahrhundert oft beschworene „deutsche Tiefsinn“ hatte stets einen Hang zum Dramatischen. Die reizbarsten unter den deutschen Denkern von Nietzsche bis Spengler – selbst übrigens beide völlig lebensalltagsuntauglich – wollten die Hemmschwellen deutscher machtgeschützter Innerlichkeit mit aller Gewalt überwinden, vor allem außenpolitisch. Sie forderten mit lauten Fanfarenstößen eine Wendung zur Tat und trafen dabei den Nerv weiter Teile eines Bürgertums, das seine politische Ohnmacht im Kaiserreich wenigstens gedanklich zu kompensieren suchte. In Sachen Großsprecherei gab es jedenfalls kein Verzagen. Schwierig wurde es nur, wenn es um die Praxis ging. Spenglers „Realismus“ hatte mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun, mit seiner Synthese von „Preußentum und Sozialismus“ war der „Untergang des Abendlandes“ schwer aufzuhalten.

Die Jahre der NS-Diktatur, die Angst und Verzagtheit nicht kannten, lehrten nach 1945 eine neue Demut. Als „Lust am Untergang“ beschrieb Friedrich Sieburg in den fünfziger Jahren den verklemmten, selbstmitleidigen intellektuellen Biedersinn der Nachkriegsepoche. Ökonomisch und materiell freilich gab es in den bundesrepublikanischen Gründerjahren vor allem Optimismus und stetige Wachstumserwartung. Im ideologisch festgelegten Koordinatensystem des Kalten Krieges verkümmerte semantisch allerdings der Sinn fürs Politische. Im antitotalitären, vor allem antikommunistischen Konsens der Adenauer-Ära schien es wenig Alternativen zu geben. Wenn die fünfziger Jahre mit gutem Recht als ein Jahrzehnt der Liberalisierung beschrieben werden, dann bezieht sich das vor allem auf das Ausleben privater Freiheit – und eine geistige Öffnung nach Westen, die sich auf eine damals überschaubare Akademikergeneration beschränkte.

Legitimation durch Gelingen?

Unterschwellige Angst machte sich vor allem bei denjenigen breit, die der Verwandlung von Ex-NSDAP-Parteigenossen zu Bundesbürgern in einer Atmosphäre des „kommunikativen Beschweigens“ (Hermann Lübbe) nicht trauten und einen Rückfall in die Barbarei fürchteten. So schienen zwei Wahrnehmungen in der alten Bundesrepublik unvermittelt nebeneinander zu existieren. Eine Seite betonte selbstbewusst die ökonomische und politische Erfolgsgeschichte. Die Grundlagen des politischen Systems und seine geistigen Voraussetzungen mussten nicht eigens geprüft oder diskutiert werden, denn die „geglückte Demokratie“ (Edgar Wolfrum) war durch ihr Gelingen schon legitimiert; demokratische Politik war auch ohne moralische Emphase der Bürger machbar. Die andere Seite blieb in Skepsis gegenüber der geistig-moralischen Grundierung der zweiten deutschen Demokratie befangen.

Aus dieser kritischen Perspektive fehlte für eine demokratische politische Kultur noch das moralische Bewusstsein, das sich nur in der offenen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit hätte bilden können. Während die affirmative Position soziomoralische Ressourcen als quantité négligeable vernachlässigte, setzten die Kritiker der „BRD“ die Moral absolut – falsches bürgerliches Bewusstsein wurde zur Ausdrucksform des Spätkapitalismus. Hinsichtlich der sittlichen und emotionalen Disposition des Bürgers in der Demokratie fehlte beiden Anschauungen Maß und Mitte – insofern verkümmerte auch das Vokabular einer klassischen politischen Tugendlehre, zu deren Bestand Begriffe wie Verantwortung, Leidenschaft und common sense in selbstverständlicher Weise gezählt hatten. Diese semantischen Verluste blieben nicht ohne Folgen, denn sie führten dazu, dass Emotionen des Politischen – eben auch Ängste – nicht mehr beschreibbar wurden, in sozialtechnischen Leerformeln untergingen und nicht mehr als soziale Realitäten eingefangen werden konnten.

Die neue Sehnsucht nach der Wirklichkeit

Nach Jahrzehnten hoch aggregierter Theoriekonstruktion und -dekonstruktion, nach Jahren lustvoll-sinnlicher, aber auch beliebiger cultural turns scheint es inzwischen eine neue Sehnsucht nach Wirklichkeit zu geben, auch nach ihrer angemessenen Beschreibung. Jenseits von hybridem Könnensbewusstsein und Glauben an social engineering richtet sich die Aufmerksamkeit wieder auf die Lebenswelt. Besonders die Sozialphilosophie und die politische Philosophie entdecken wieder, dass sich die Theorie nicht nur um Strukturen, sondern um den Menschen drehen sollte. Während sich die Linke lange mühte, auf dem Reißbrett gerechte Gesellschaftsmodelle zu entwerfen, konterten die Konservativen stets mit institutionellen Vorschlägen, um vom Staat her Regierbarkeit wieder herzustellen. Welche Bedürfnisse, aber auch welche Kompetenzen die Bürger denn mitbringen und wie dies im Politischen seinen Niederschlag finden soll – diese Fragen fristeten ein Schattendasein.

Überhaupt beschäftigten sich die Eliten des prosperierenden Wirtschaftswunderlands wenig mit außerrationalen oder emotionalen Elementen der Politik. Diese traten eher eruptiv ins Bewusstsein, etwa als studentische Proteste der Achtundsechziger oder mit Blick auf die Anti-Atomkraft- und der Friedensbewegung. Hier motivierten Emotionen bestimmte Politisierungsprozesse, die sich außerhalb des eingespielten Parteiensystems zu artikulieren hatten. Ängste vor Katastrophenszenarien, aber auch Hoffnungen auf eine Überwindung des bundesrepublikanischen Status quo und auf die Verwirklichung diffuser utopischer Vorstellungen führten die Menschen in ein politisches Engagement, das bewusst Gefühle und subjektive moralische Gesinnung als Argument gelten ließ und damit gegen die Dominanz des Kosten-Nutzen-Kalküls aufbegehrte.

Als Gesellschaftsplanung möglich schien

Bis in die siebziger Jahre hinein dominierte partei- und elitenübergreifend ein technokratisches Denken, das vorrangig objektive Sachzwänge und Problemlösungen im Auge hatte. Es war von Zuversicht getragen. Gesellschaftsplanung schien möglich. Die Großprojekte des sozialen Wohnungsbaus, der Stadt- und Verkehrsplanung dieser Zeit bieten uns immer noch abschreckende Zeugnisse dieses Machbarkeitsdenkens, das auf Effizienz und Fortschrittsvertrauen basierte. Der Soziologe Helmut Schelsky, einer der einflussreichsten Intellektuellen seiner Zeit, brachte 1961 in aller Schärfe eine solche Vorstellung vom Ende der Politik zum Ausdruck: Die Idee der Demokratie verliere „ihre klassische Substanz“, denn „an die Stelle des politischen Volkswillens tritt die Sachgesetzlichkeit, die der Mensch als Wissenschaft und Arbeit selbst produziert“. Für Schelsky wie für viele andere stand fest: „Die moderne Technik bedarf keiner Legitimität; mit ihr herrscht man, weil sie funktioniert.“ Diese eiskalte Version der Moderne räumte Gefühlen des Unbehagens ebenso wenig Raum ein wie sie dem Einzelnen Gestaltungs- und Partizipationsspielräume zugestand. Im modernen Staat gab es für die Technokraten – zumindest theoretisch – nur noch informiertes Verwaltungshandeln und die Durchführung des ohnehin Fraglosen. Dass der Mensch einmal als ein zoon politikon vorgestellt wurde, von dieser Sichtweise hatte man sich verabschiedet.

Die Wirklichkeit hatte allerdings für die Vordenker des technokratischen Establishments zwei Überraschungen parat: Zum einen gaben sich die Bürger auf lange Sicht nicht mit der Befriedigung materieller Bedürfnisse zufrieden. Die Erfahrung zeigte, dass es immer eine ausreichend hohe Zahl von Bürgern gab, die – gut aristotelisch – in gemeinschaftlicher politischer Entscheidungsfindung und schließlich im politischen Handeln ein unersetzliches Gut sehen. Die Lösung gesellschaftlicher Probleme – ohnehin in letzter Konsequenz illusionär – ist für sie nicht immer das Entscheidende; wichtiger kann in bestimmten Situationen die Beteiligung am politischen Prozess dorthin sein. Zum anderen zeigte sich die Industriegesellschaft in ihren „Superstrukturen“ krisenanfälliger, als sich das viele in den sechziger Jahren vorstellen konnten. Neue, unvorhergesehene Gefahren weckten Ängste, deren Diffusität ein ganz neues Mobilisierungspotenzial barg – ökologische und nukleare Katastrophenszenarien trugen dazu ebenso bei wie die unvorhergesehene Transformation der Arbeitsgesellschaft, die neuen Herausforderungen des Globalisierungsprozesses und nicht zuletzt die Zerschlagung keynesianischer Steuerungseuphorie.

Den Bürger „mitnehmen“? Geht nicht mehr

Doch Ängste sind in der Politik kein guter Leitfaden, schon gar nicht, wenn sie sich an Extremen ausrichten und einen gewissen Außerordentlichkeitsbedarf geltend machen. Der Philosoph Odo Marquard hat treffend – und ein wenig provokant – auf die Verlaufsmuster solcher kollektiven Bewusstseinsbildungen hingewiesen, die jeden Fortschritt begleiten. Sie orientierten sich am Schema des Freudschen Angsttraumes: „Wenn die Kultur immer mehr Bedrohliches besiegt, wird – als Bedrohlichkeitsersatz – die Kultur selber zum Bedrohlichen ernannt. ... Dann – und das ist einer der großen Angstgründe unserer Zeit – bekommt man vor demjenigen Angst, das einem die Ängste erspart, just weil es einem die Ängste erspart.“

Es wäre nun zu einseitig, wenn man den Schwarzen Peter allein den gegenkulturellen Strömungen und der von ihnen „gepflegten Panik“ (Marquard) zuschöbe. Eben weil sich die liberale Demokratie zum Ziel setzt, den Ausnahmezustand und damit jede Form extremer Angst oder auch fanatischen Heilsglaubens zu vermeiden, weist das Aufkommen solcher kollektiven Gefühlsphänomene auf bestimmte Defizite des politischen Diskurses hin. Anscheinend gelingt es der Politik nicht mehr, die Bürger auch emotional zu erreichen oder „mitzunehmen“, wie man heute – in Verkennung aller republikanischen Ideale – gern sagt. Das technokratische Aushandeln von Pendlerpauschalen, Bürgerprämien und Mehrwertsteuerprozenten macht vergessen, dass das Politische einstmals in der Lage war, zur Beteiligung zu animieren und zur kreativen Ausübung eines Amtes zu motivieren.

Der Einzelne und seine Lohnsteuerkarte

Heute sind es nicht mehr die apokalyptischen Visionen von Supergau, Atomtod und ökologischer Katastrophe, die das Bewusstsein bestimmen – obwohl die Umweltprobleme und Technikrisiken global gewiss nicht abgenommen haben. Auch die Bedrohung des fundamentalistischen Terrors hat sich im Alltagsbewusstsein kaum niedergeschlagen. Die Ängste haben sich bei den Bürgern eher individualisiert, denn der Einzelne denkt nicht mehr an die Weltrettung oder den Standort Deutschland, sondern an die eigene Lohnsteuerkarte. Es sind die viel beschriebenen individuellen Abstiegsängste, um die sich die Sorgen der Bürger drehen und die sich in einem gewachsenen Sicherheitsbedürfnis ausdrücken. Dies ist die Bewusstseinshaltung, die den oft monierten Reformstau der „blockierten Republik“ (Paul Nolte) mit bestimmt. Auf die Verlustängste der Bürger nimmt die Politik besondere Rücksicht, wie die neuerliche Betonung des Sozialen in beiden Volksparteien zeigt. Nur präsidiale Ruck- und Aufbruchreden durchbrechen dieses sozialharmonische Sehnsuchtsvokabular bisweilen.

Ein Problem dürfte sein, dass die politische Rhetorik und eben auch die lange gepflegte politische Theorie des Wohlfahrtsstaates inhaltlich verkümmert sind. Mit den seit jeher eingeübten Formeln scheint sich gar nichts anderes als soziale Sicherheit mehr ausdrücken zu lassen. Diese künstliche Verengung hat ihren Preis. Sie bekommt das Politische im Sinne Hannah Arendts gar nicht in den Blick. Arendt war die Beschränkung der Politik auf soziale und wirtschaftliche Fragen zutiefst suspekt. Für sie begann die politische Freiheit erst, wenn der Bereich der materiellen Notwendigkeiten verlassen werden konnte. Entscheidend blieb für Arendt das „Zwischen-den-Menschen“, wo Bürger eine Öffentlichkeit bilden und sich zum freien gemeinsamen Handeln entschließen, wo es um Solidarität und Freundschaft als politische Tugend geht, kurzum: der politische Raum, in dem eine emotionale Saite zum Schwingen gebracht wird. Sie leitet die Idee der politischen Freiheit aus dem menschlichen Miteinander ab, ohne das der Mensch „weltlos“ bliebe. Das Politische geht bei ihr nicht in sozialtechnischer und ökonomischer Lenkung der staatlichen Apparaturen auf. Arendt blieb skeptisch, ob ein konsequent durchgehaltener Wachstums- und Fortschrittskurs die Probleme einer Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit auszugehen droht, lösen kann. Trotzdem war sie fern von Resignation. Sie wollte für das Politische wieder begeistern, auch in der repräsentativen Demokratie. Nicht nur in romantischer Verklärung der griechischen Polis brach Arendt eine Lanze für die erlebbare Bürgergesellschaft. Sie erinnert daran, dass das Politische nicht nur als Last, sondern auch als kreative Lust empfunden werden kann, als Mut zum ständigen Neuanfang.

Die Entwöhnung der Bürger vom Politischen

Das ist mit größeren Risiken verbunden als die einseitige Pflege von sozialen Sicherheitsbedürfnissen. In der Pflege individualisierter Abstiegsängste zeigen sich demgegenüber die schleichende Entwöhnung der Bürger vom eigentlich Politischen und der offensichtlich eingetretene Phantasiemangel hinsichtlich der Möglichkeiten demokratischer Handlungsspielräume. Die Ängste haben den Urheber gewechselt. Waren es in der Bonner Republik überwiegend die moralischen Bedenken einer intellektuellen Elite, die ängstlich vor dem Rückfall in quasifaschistische Zustände warnte, oder die überwiegend akademisch geprägten Protestkulturen, die versuchten, der schweigenden Mehrheit ihre Ängste plausibel zu machen, so fordern heute vor allem die liberalen und risikofreudigen Meinungsführer zur Überwindung von Sicherheitsbedürfnissen, zur Eigenverantwortung und zur Reform des überlasteten Wohlfahrtsstaats auf. Ein Großteil der Leitartikler und engagierten Publizisten versteht ihre Rolle heute nicht weniger pädagogisch als die Neue Linke vor drei bis vier Jahrzehnten: Es geht auch ihnen darum, der breiten „ängstlichen“ Mehrheit der Bevölkerung zum richtigen Bewusstsein zu verhelfen. Derartige sozialtherapeutische Versuche sind legitim. Sie sollten sich allerdings nicht nur auf Verhaltenslehren in der riskanten Moderne der Globalisierung beschränken. Sie sollten auch eine Veränderung der politischen Kultur mit reflektieren.

Das Rezept gegen die Angst heißt Handeln

Ein alter liberalkonservativer Bundesrepublikaner, der Philosoph Hermann Lübbe, hat in den letzten Jahren immer wieder auf die „Demokratisierungszwänge“ in der immer komplexer werdenden medialisierten Welt hingewiesen. Denn je mehr Entlastungen uns die moderne Welt bringt, je urteilskompetenter wir in der Mediendemokratie werden, umso freier werden die Menschen zur Entscheidung, umso offensichtlicher wird die Notwendigkeit demokratischer Partizipation, die den common sense zur Geltung bringt. Lübbe geriet nie in den Verdacht, basisdemokratischen Utopien anzuhängen. Das ist auch gar nicht nötig, um einzusehen, dass Bürgerbeteiligung sinnvoll ist, wenn der Einzelne über die unmittelbaren Probleme seiner Lebenswelt mitentscheiden kann. Demokratische Partizipation und gemeinsinniges Handeln sind aber nur möglich, wenn die Auswirkungen des eigenen Engagements spürbar werden und wenn sich das diffuse Angstgefühl vor der Herrschaft anonymer bürokratischer Sachzwänge verliert. Anstatt sich auf wohlfahrtsstaatliche Lenkung und Zukunftsplanung für den Bürger zu beschränken, dürften die Mandatsträger und Repräsentanten des Staates ruhig etwas mehr Vertrauen in die Kraft allgemeiner bürgerlicher Interessen und Leidenschaften entwickeln. Denn das beste Rezept für kollektive Angstbewältigung sollte in der Pflege der bürgerlichen Tugenden des Politischen liegen, um die Selbstheilungskräfte eigener Handlungsmöglichkeiten freizusetzen.

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