Angst vor dem Volk?

Die Krise der EU ist nicht zuletzt eine Krise des Vertrauens. Die Menschen in den Ländern Europas sind sich nicht sicher, was sie vom Einigungsprojekt noch erwarten können. Gerade auch von Berlin hängt ab, ob das Zutrauen in die EU wieder zunehmen kann

Nach der Bundestagswahl 2017 soll es in der europäischen Politik wieder um Grundsätzliches gehen: Wollen die Mitgliedsstaaten eine neue Phase der Einigungspolitik einleiten? Wie soll die Gemeinschaftswährung weiterentwickelt werden? Gelingt es, die Finanz- und Haushaltsregeln der EU nach dem Austritt Großbritanniens auf eine neue Grundlage zu stellen? Was bedeutet der Brexit überhaupt für die Perspektiven der europäischen Politik? Werden alle Mitglieder weiterhin gemeinsam voranschreiten oder brauchen wir in der EU mehr differenzierte Integration? Was muss getan werden, um die Union demokratischer, sozialer und handlungsfähiger zu machen?

Mit ihrem „Weißbuch zur Zukunft Europas“ hat die Europäische Kommission im März 2017 einen Aufschlag zu der Diskussion gemacht, in der diese (und weitere) Themen auf der Tagesordnung stehen. Die Kommission legte aber nur „Überlegungen und Szenarien“ vor und wollte sich nicht auf ein verbindliches Integrationsmodell für die Zukunft festlegen. Das zeigt, wie offen der Prozess derzeit noch ist. Auch die nationalen Regierungen bleiben bisher vage. Zu unterschiedlich sind die Interessen, zu weit liegen die Vorstellungen über die EU auseinander, und zu wenig berechenbar ist die nähere Zukunft. Die Folge: In Brüssel, in den Hauptstädten und im Europäischen Parlament wird es absehbar zu einer handfesten Auseinandersetzung um die Frage kommen, was die EU sein soll und was nicht.

Die Post-Maastricht-Krise dauert weiter an

In den vergangenen Jahren dürften die Entscheidungsträgerinnen und -träger dabei eines gelernt haben: An der Bevölkerung vorbei sollten diese Diskussionen nicht geführt werden. In nahezu allen Mitgliedsstaaten haben euroskeptische oder europafeindliche Parteien an Zustimmung gewonnen. Gut ein Fünftel der Mitglieder des Europäischen Parlaments gehört solchen Parteien an. Fast überall, wo die Bevölkerung zu Vertragsreformen oder zu konkreten europäischen Projekten befragt wurde, haben die Menschen mit „Nein“ gestimmt. Die Dänen und Schweden votierten gegen die Mitgliedschaft in der Eurozone, die Franzosen und Niederländer gegen den Verfassungsvertrag, die Iren mehrfach gegen verschiedene Vertragsreformen, die Briten sogar für den Austritt aus der EU.

Nicht zuletzt ist die öffentliche Zustimmung zur EU in den vergangenen Jahren merklich gesunken. Die Europaforschung spricht von der „Post-Maastricht-Krise“, die bereits während der Ratifikation des Maastrichter Vertrages in den frühen neunziger Jahren einsetzte und im Grunde bis in die Gegenwart andauert. Das Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und der Brüsseler Politik konnte zuvor als permissive consensus bezeichnet werden – ein Begriff, den Stuart Scheingold und Leon Lindberg bereits 1970 prägten und der sich als „wohlwollendes Desinteresse“ übersetzen lässt. Die Bürger nahmen die europäische Politik als nicht besonders einflussreich für ihr persönliches Leben wahr und gaben ihren Regierungen deshalb weiten Handlungsspielraum.

Das hat sich verändert. Die Integrationsforscher Liesbeth Hooghe und Gary Marks argumentieren, dass die öffentliche Meinung in der Gegenwart einem constraining dissensus gleichkommt – einer Uneinigkeit zwischen den politischen Eliten und der Bevölkerung, die einem Ausbau der europäischen Integration enge Grenzen setzt. Große Sprünge sind in der Zukunftsdebatte der EU deshalb nicht zu erwarten. Eher hat es den Anschein, dass die nationalen politischen Eliten mit großer Nüchternheit bewerten, was angesichts einer skeptischeren öffentlichen Meinung europapolitisch noch durchsetzbar ist und was nicht. Das gilt besonders dann, wenn eine zu integrationsfreundliche Linie die eigenen Wahlchancen schmälern könnte.

Wächst die Sehnsucht nach dem Ausstieg?

Tatsächlich lässt sich eine Zunahme der kritischen Einstellungen an den Daten des Eurobarometer ablesen, das die Europäische Kommission regelmäßig erheben lässt, um die öffentliche Meinung in den Mitgliedsstaaten zu messen. Das Eurobarometer fragt seit 2003 beispielsweise danach, ob die Bürger der EU vertrauen. Betrachtet man die entsprechenden Werte als „Nettovertrauen“ (die Differenz zwischen dem Anteil der Befragten, die der EU „eher vertrauen“ und denjenigen, die ihr „eher nicht vertrauen“), dann zeigt sich, dass die Vertrauenswerte seit 2007 ins Rutschen gerieten: Während der Eurokrise fielen sie auf historische Tiefstände. An diesem Punkt verharren die Werte einstweilen, auch wenn sich zwischenzeitlich eine leichte Erholung abzuzeichnen schien. Die Krise der EU ist also nicht zuletzt eine Vertrauenskrise.

Ein genaueres Bild ergibt sich, wenn neben dem allgemeinen Trend auch die breite Streuung zwischen den Mitgliedsstaaten berücksichtigt wird. Im Herbst 2016 lag das durchschnittliche „Nettovertrauen“ in die EU bei -18 Prozent. Während aber für Litauen (+26), Malta (+24), Rumänien (+11) und acht weitere Länder positive Salden gemessen werden konnten, war das Misstrauen in Italien (-28), Zypern (-35), Tschechien (-37), Frankreich (-39) und Griechenland (-58) besonders stark ausgeprägt. Deutschland spielt eine besondere Rolle: Während das Vertrauen in die EU hierzulande bis 2010 größer war als im Durchschnitt der Mitgliedsstaaten, ist es seitdem geringer. Im Herbst 2016 lag das „Nettovertrauen“ mit dem Wert -16 Prozent nur knapp über dem EU-Durchschnitt.

Ist deshalb zu befürchten, dass weitere Bevölkerungen dem britischen Beispiel folgen und sich für einen Austritt aus der EU aussprechen werden? Die Zahlen sprechen dagegen, denn dem Wahlerfolg euroskeptischer Parteien zum Trotz scheint der Brexit die generelle Zustimmung zur Integration – jedenfalls kurzfristig – stabilisiert zu haben. Der Wunsch, in der EU zu bleiben, hat seit dem Brexit-Referendum fast flächendeckend zugenommen, so auch in Deutschland. Wenngleich 45 Prozent der Deutschen (und damit mehr als je zuvor) in einer Umfrage des Bankenverbandes vom Februar 2017 die EU in einer „ernsten Krise“ sehen und weitere 51 Prozent sagen, dass „größere, aber lösbare Probleme“ bestehen, so ist ein Ausstieg Deutschlands aus der Union sehr unpopulär. 75 Prozent der Befragten gaben an, bei einer solchen Abstimmung für den Verbleib in der EU votieren zu wollen, während nur zehn Prozent für den Austritt stimmen würden. Anhänger von Union (83 Prozent), SPD (87), Grünen (86) und FDP (88) lagen deutlich über dem Durchschnittswert, während sich Anhänger der Linkspartei mit 74 Prozent knapp darunter befanden. Bei den AfD-Anhängern sprachen sich zwar 42 Prozent für einen EU-Austritt aus, aber selbst in dieser Gruppe waren mehr Leute für den Verbleib als für den Austritt.

Mit anderen Worten: Die grundsätzliche Unterstützung des Integrationsprozesses ist in den vergangenen Jahren zwar zurückgegangen, befindet sich aber in den meisten Mitgliedsstaaten immer noch auf einem hohen bis sehr hohen Niveau. Gegenüber konkreten politischen Vorhaben oder gar einer institutionellen Reform, die zu einer Vertiefung der Integration führen würde, herrscht hingegen eine erkennbare Skepsis. Um erneut das deutsche Beispiel zu bemühen: In keinem anderen Mitgliedsstaat trifft eine erneute Erweiterung der EU auf eine derart starke Ablehnung wie in der Bundesrepublik.

Musterknabe Deutschland? Das war einmal

Die Skepsis im Hinblick auf Einzelfragen spiegelt das Ausmaß der „Politisierung“ der EU wider, die eben keineswegs mehr als ein über jeden Zweifel erhabenes Projekt angesehen wird. Die europäischen Themen und Vorhaben werden vielmehr als das wahrgenommen, was sie seit jeher waren: „politische“ Themen und Vorhaben, an denen sich kontroverse Debatten entlang unterschiedlicher Konfliktlinien entzünden können und zu denen sich die politischen Parteien strategisch positionieren. Die Politik spielt deshalb mehr denn je an zwei Tischen – dem europäischen und dem heimischen.

Europäische Politik findet im Schatten einer öffentlichen Meinung statt, die euroskeptischer ist als früher. Das gilt auch für Deutschland. Die Deutschen haben ihren Ruf, „Musterknaben“ der europäischen Einigung zu sein, längst verloren. Das bedeutet nicht, dass die Bundesregierung sich gegen eine Fortsetzung der Integrationspolitik aussprechen würde, ganz im Gegenteil. Aber der deutschen Europapolitik eilt der Ruf voraus, instrumenteller und nüchterner geworden zu sein. Nationale Interessen spielen eine wichtigere Rolle; die EU wird in der politischen Elite eher als ein Rahmen zur Durchsetzung eigener Präferenzen gesehen. An keinem Punkt wurde das in ganz Europa so intensiv diskutiert wie während der Eurokrise, als die Bundesregierung ihr ordnungspolitisches Konzept gegen starken Widerstand durchgesetzt hat.

Jetzt bloß kein Rückzug ins Schneckenhaus

Auch im Hinblick auf den aktuellen Bundestagswahlkampf und die Regierungspolitik nach der Wahl wird entscheidend sein, welche Signale von Deutschland ausgehen, um die EU auf eine neue, stabilere Grundlage zu stellen. Die gedämpfte Stimmung der öffentlichen Meinung hierzulande sollte nicht dazu verleiten, sich ins europapolitische Schneckenhaus zurückzuziehen. Der Brexit hat gezeigt, dass die einseitige Orientierung an parteipolitischen Kalkülen schwere Folgen für den gesamten Kontinent haben kann. Es hängt auch von Berlin ab, ob sich zwischen den europäischen Regierungen und Parlamenten eine neue politische Grundlage für die EU finden lässt, die mittelfristig geeignet ist, wieder mehr Vertrauen für dieses einmalige Projekt hervorzurufen.

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