Erdrutsch im Norden

Landtagswahlen I: In Schleswig-Holstein erlitt die SPD am 27. September eine historische Niederlage und verlor mehr als 13 Prozent der Stimmen - auch weil sich ihr Wahlkampf darauf beschränkte, schwarz-gelbe Zumutungen anzuprangern

Eine „schwere Niederlage“ sei das Ergebnis der Landtagswahl in Schleswig-Holstein, der 27. September ein „bitterer Tag“ für die Sozialdemokratie, das Resultat „glasklar“ eine Katastrophe. Weil in den vergangenen Jahren schon zu viele SPD-Spitzenkandidaten mit ähnlichen Worten das Abschneiden ihrer Partei kommentieren mussten, hatte der schleswig-holsteinische SPD-Vorsitzende Ralf Stegner am Wahlabend Schwierigkeiten, dem Ausmaß des Wahldebakels sprachlichen Ausdruck zu verleihen. Die Erfahrung zweistelliger Verluste hatte die Partei schließlich bereits mehrfach gemacht, auch im nördlichsten Bundesland hatte die SPD bei den Kommunalwahlen 2003 schon einmal 12,9 Prozent verloren. Da die SPD bei den Bundestagswahlen am gleichen Tag ein Ergebnis erreichte, das selbst Pessimisten nicht erwartet hatten, richtete sich die Aufmerksamkeit ohnehin stärker auf die Verschiebungen in Berlin und ihre Auswirkungen auf die Regierungsbildung im Bund.

Ein durchgeschütteltes Land

Nur ein weiteres Glied in einer Kette von Verlusten also, das zudem noch ganz dem Bundestrend folgt? Nicht ganz. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, wie außergewöhnlich der Ausgang der schleswig-holsteinischen Landtagswahl tatsächlich war. Denn immerhin ist das dortige Parteiensystem regelrecht durchgeschüttelt worden. Im Landtag sitzen jetzt gleich sechs Fraktionen, eine derart starke Fragmentierung des Parlaments hatte es bislang nur in Sachsen gegeben. Vor allem aber haben die Wähler den Parteien Rekordergebnisse beschert – nach oben und nach unten. Die SPD verlor 13,2 Prozent der Stimmen und erreichte mit 25,4 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis in der Geschichte des Landes. Eine alte Gewissheit sozialdemokratischer Wahlkämpfe hat damit ganz nebenbei ihre Gültigkeit verloren: Hohe Wahlbeteiligungen nutzen nicht mehr automatisch den Genossen, denn mit 72,8 Prozent lag sie diesmal 6,3 Prozentpunkte höher als bei der letzten Landtagswahl 2005.

It’s the Überhangmandate, stupid!

Aber auch die CDU verlor 8,7 Prozentpunkte und kommt nur noch auf 31,5 Prozent - ein Wert, den die Christdemokraten nur einmal, im Jahr 1950, unterschritten haben. Im Gegenzug konnten FDP (14,9 Prozent) und Grüne (12,4 Prozent) ihre Wähleranteile mehr als verdoppeln und erreichten das mit Abstand beste Ergebnis ihrer Geschichte. Weiterhin von „kleinen“ Parteien zu sprechen, verbietet sich da fast von selbst. Der von der Sperrklausel befreite Südschleswigsche Wählerverband (SSW) war mit 4,3 Prozent so stark wie seit 1950 nicht mehr, und selbst die Linkspartei, die in Schleswig-Holstein so zerstritten und organisatorisch schwach aufgestellt ist wie in kaum einem anderen Landesverband, schaffte aus dem Stand 6,0 Prozent.

Dass CDU und FDP eine Regierung bilden konnten, verdanken sie dem schleswig-holsteinischen Wahlrecht. Dieses bescherte ihnen eine Mehrheit von drei Sitzen, obwohl sie zusammen weniger Stimmen erhielten als die übrigen vier Landtagsparteien: Weil die SPD in den Wahlkreisen flächendeckend einbrach, konnte die CDU zahlreiche Überhangmandate gewinnen, die nur teilweise ausgeglichen wurden. Nur noch in Kiel und Lübeck gelang es den Sozialdemokraten, sechs Direktmandate zu erzielen. Zum Vergleich: Vor vier Jahren waren noch 15 von 40, im Jahr 2000 sogar 41 von 45 Wahlkreisen an die SPD gefallen. Nachteilig für die SPD wirkte sich vor allem aus, dass nur wenige Wähler von Grünen und Linkspartei ihre Erst- und Zweitstimmen gesplittet haben. Mehr als 85 Prozent von ihnen gaben die Erststimme den Kandidaten der Partei, die sie auch mit der Zweitstimme wählten. Ein stärker taktisches Wahlverhalten hätte CDU und FDP die Mehrheit gekostet. Dennoch hätte es die SPD der Macht nicht näher gebracht, sondern im Landeshaus würde vermutlich ein Jamaika-Bündnis oder eine vom SSW unterstützte Koalition regieren.

Das lenkt den Blick auf das schwierige Verhältnis der Parteien untereinander. Am 27. September gingen zwei zutiefst zerstrittene Partner einer Großen Koalition an den Start, die zwar in vielen Bereichen erstaunlich tragfähige Kompromisse ausgehandelt hatte, die sich aber zu keinem Zeitpunkt auf eine gemeinsame politische Botschaft zu verständigen vermochte. Im Gegenteil: Beide Parteien bemühten sich um Abgrenzung. Ralf Stegner setzte offenbar darauf, bei der turnusgemäßen Wahl im Frühjahr 2010 die Wähler einsammeln zu können, die von einer schwarz-gelben Koalition enttäuscht gewesen wären. Dass er die Regierungspolitik einerseits zu vertreten hatte, sich andererseits aber sogleich von ihr distanzierte, bot freilich mehrfach Anlässe für die in Umfragen seit langem stabil führenden Christdemokraten, das Bündnis zu beenden. In der Schlussphase löste eine Regierungskrise die nächste ab. Als sich der Unmut in der CDU gegen den Ministerpräsidenten zu wenden drohte, zog Peter Harry Carstensen - die Möglichkeit eines Urnengangs am Tag der Bundestagswahl vor Augen – die Reißleine. So hart war der persönliche Streit zwischen Carstensen und Stegner, dass an eine Fortsetzung einer Großen Koalition nach der Wahl von vornherein nur unter Verzicht auf die beiden Spitzenpersonen zu denken war. Während die CDU auf ein Bündnis mit der FDP setzte, blieben der SPD kaum mehr als rechnerische Möglichkeiten. Der SSW lehnte eine Regierungsbildung mit der Linkspartei ab, Rot-Grün hatte erkennbar keine Aussicht auf eine eigene Mehrheit, eine Ampelkoalition wurde von der FDP strikt abgelehnt. Diese hätte mit jener Partei zustande kommen müssen, deren Konzepte die SPD im Wahlkampf am stärksten verurteilte. Die fehlende Koalitionsperspektive blieb eine strategische Schwäche der SPD-Kampagne, zumal sich der Spitzenkandidat seinerseits nicht klar für oder gegen eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei bekennen wollte.

Die SPD verlor in alle Richtungen

Sind die Rekordergebnisse lediglich der vorgezogenen Landtagswahl nach einer Großen Koalition im Land (und im Bund) geschuldet? Oder werden die Landtagswahlen dereinst als „Erdrutschwahlen“ in die Geschichte eingehen, die den Beginn einer dauerhaften strukturellen Veränderung im Parteiengefüge des Nordens markierten? Für letzteres sprechen die zum Teil dramatischen Bewegungen innerhalb, aber auch zwischen den politischen Lagern. So haben diesmal noch etwas mehr als 400.000 Bürger die SPD gewählt, im Jahr 2000 waren es noch über 630.000, bei der letzten Landtagswahl immerhin 550.000. Nach den Berechnungen von Infratest-dimap verloren die Sozialdemokraten am 27. September in alle Richtungen, am stärksten in Richtung der Grünen (51.000 Stimmen) und der Linkspartei (31.000 Stimmen). Aber auch FDP, SSW und CDU konnten der SPD Wähler abnehmen.

Halbierung bei den jungen Frauen

Die stärksten Einbußen verzeichnete die Partei bei ihrer Stammklientel. Bei Arbeitern und Angestellten liegt sie nur noch auf der Höhe des Gesamtergebnisses, der Anteil ist damit um 20 Prozentpunkte eingebrochen. Bei den Frauen verlor die SPD mit 16 Prozentpunkten weit stärker an Zuspruch als bei den Männern (minus 11 Prozent). Bei den 18- bis 24-jährigen Frauen haben beispielsweise im Jahr 2005 noch 42 Prozent für die SPD gestimmt, im Jahr 2009 nur noch 21 Prozent. Aufschlussreich ist auch das Wahlverhalten der Jüngeren: Bei den 25- bis 34-Jährigen erreichte die CDU 27 Prozent, die SPD 18 Prozent, die FDP 17 Prozent und die Grünen 14 Prozent der Stimmen. Die längerfristigen Bindungen, die den Verlust der Sozialdemokraten bei den Wählern im Alter über 60 Jahren auf acht Prozentpunkte beschränkten, sind bei den jüngeren Wählern offenbar nur schwach ausgeprägt. Sie aber werden in spätestens fünf Jahren darüber entscheiden, ob sich der Trend dieser Landtagswahl verfestigt oder nicht.

Bei den Bundestagswahlen am gleichen Tag haben die Schleswig-Holsteiner ähnlich gewählt wie bei den Landtagswahlen. Dennoch wäre es zu kurz gegriffen, das Ergebnis lediglich mit einem Hinweis auf den Bundestrend zu erklären. So gelang es der brandenburgischen SPD am 27. September, aus einer Großen Koalition heraus noch Stimmen hinzuzugewinnen, besonders bei den jungen Wählern, bei den Arbeitern und den Angestellten. Deshalb sind die Ursachen für den sozialdemokratischen Niedergang auch im Land zu suchen. Der Wahlkampf der schleswig-holsteinischen SPD konzentrierte sich auf den Wert der sozialen Gerechtigkeit und stellte die Zumutungen schwarz-gelber Politik in den Mittelpunkt. Zur langfristigen Entwicklung des Landes, zur drückenden Verschuldung oder zum Kampf gegen die Arbeitslosigkeit war die Kampagne hingegen eher sprachlos oder verlagerte sich auf Allgemeinplätze. Das fiel nur deshalb nicht so stark auf, weil der Wahlkampf der CDU fast vollständig ohne Inhalte auskam, sondern ganz auf die Person des Ministerpräsidenten zugeschnitten war. Die Daten von Infratest-dimap aus der heißen Wahlkampfphase zeigen, dass die Wähler der CDU auf den Feldern Wirtschaft und Arbeitsplätze große Kompetenzen zuschrieben. Die SPD führte bei der sozialen Gerechtigkeit. Beim Thema Bildung – nach Ansicht der Wähler das wichtigste Thema – rangierte sie aber nur knapp vor den Christdemokraten. Als dynamische Kraft mit überzeugenden Konzepten für die Gestaltung des Landes wurden die Sozialdemokraten trotz der offenkundigen Schwäche der CDU nicht wahrgenommen. Auf die Frage, ob eine Regierung unter Führung der SPD die Probleme des Landes besser lösen könne, antworteten 23 Prozent mit Ja, aber 62 Prozent mit Nein. Dieser Wert spiegelt indes nicht nur die Schwäche der SPD wider, sondern eine generelle Skepsis gegenüber der Gestaltungskraft der Politik. Dass die Mehrheit der Befragten keiner Partei (mehr) zutraut, die Krise der HSH-Nordbank oder die Staatsverschuldung in den Griff zu bekommen, dürfte auch auf das Erscheinungsbild der Kieler Streitkoalition zurückzuführen sein.

Welche Verantwortung der Spitzenkandidat Ralf Stegner für das Abschneiden der SPD trägt, wird in der Landespartei derzeit kontrovers diskutiert. In Umfragen rückte er kurz vor der Wahl immer enger an Peter Harry Carstensen heran, der allerdings für einen Amtsinhaber außerordentlich schwache Zustimmungswerte hatte. Wenn in der schleswig-holsteinischen SPD gegenwärtig über die Konsequenzen aus dem Wahldebakel diskutiert wird, dann geht es daher auch um die Frage, in welcher personellen Aufstellung die Partei die Herausforderungen der kommenden Jahre angehen wird. Groß genug sind sie in jedem Fall.

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