Am Ende siegen immer die Revisionisten

Europas Sozialdemokraten geht es miserabel. Beim Gedanken an die Blüte von New Labour und Neuer Mitte müssten sogar jene Linken nostalgisch werden, die den damaligen Reformkurs für Verrat hielten. Die Sozialdemokratie sollte sich darauf besinnen, dass Mehrheiten nur in der Mitte zu gewinnen sind

D üstere Zeiten für Progressive: Wohin man auch schaut in Europa, ja in der westlichen Welt, überall steht es miserabel um die Sozialdemokratie. Einzig „bürgerliche“ Regierungen schaffen es hier und da, die politische Faustregel außer Kraft zu setzen, dass Regierungen in Austeritätszeiten grundsätzlich abgewählt werden. Der sozialdemokratische Niedergang hat selbst die einst als uneinnehmbar geltenden Hochburgen in Skandinavien erreicht. Das Schicksal, das in Norwegen kürzlich erst Jens Stoltenberg ereilte, droht bald auch den dänischen Sozialdemokraten unter Helle Thorning-Schmidt.

Bei dem Gedanken an die letzte Blütezeit von Mitte-Links müsste selbst jenen Sozialdemokraten wehmütig ums Herz werden, die sich stets nach einem „linkeren“ Kurs sehnten und jahrelang kaum ein gutes Haar an Neuer Mitte, Drittem Weg und holländischem Poldermodell ließen. Viele von ihnen diffamierten die diversen Variationen der Reformsozialdemokratie als „Verrat“ an den hehren Werten und Zielen der Partei. Sie ignorierten die dringende Mahnung des früheren schwedischen Premiers Göran Persson, der die überragende Bedeutung einer verantwortungsvollen Finanzpolitik für den langfristigen Erfolg sozialdemokratischer Parteien unterstrich.

Die bittere Wahrheit ist, dass die Sozialdemokratie bereits vor der Finanz- und Schuldenkrise 2008 ins Schleudern geraten war. Der Dritte Weg hatte schon 2008, als die Krise so richtig losbrach, seine Strahlkraft verloren. Die Gründe dafür sind bekannt, werden aber nicht von allen verstanden: In Deutschland wurden notwendige Reformen verspätet angepackt und kamen der Regierung Schröder nicht mehr zugute. Stattdessen konnte Angela Merkel die Lorbeeren einheimsen.

Die Krise des Kapitalismus hilft der Linken nicht

In Großbritannien wiederum ließen die Labour-Regierungen von Blair und Brown die Einwanderung unkontrolliert anschwellen – eine Hypothek, unter der die Partei noch heute leidet. Zugleich stieg die Zahl untätiger Empfänger von Sozialleistungen immer weiter an, zuletzt auf mehr als fünf Millionen. Zudem schnellten in der letzten Phase von Labour die staatlichen Ausgaben und die Neuverschuldung in die Höhe, schon bevor Bankencrash und Rezession dazukamen. Gewiss gab es noch andere Gründe, allen voran das unattraktive Spitzenpersonal – ein dauerhaftes, wachsendes Problem.

Endgültig als Illusion erwiesen hat sich die Erwartung vieler linker Sozialdemokraten, die Krise des Kapitalismus werde ihren Parteien neuen Auftrieb geben. In den linken Flügeln von SPD und Labour herrschte zeitweise unverhohlene Genugtuung. Neue Mitte und Dritter Weg – mitsamt ihrer Annahme, das Marktprinzip und soziale Gerechtigkeit ließen sich auf produktive Weise miteinander vereinbaren – seien passé, hieß es. In jenen Jahren wurde „Neoliberalismus“ als Kampfbegriff geboren und verwendet – vor allem mit dem Ziel, die Reformer, die „Revisionisten“ des Dritten Weges abzuwatschen und an den Rand zu drängen.

Die Aufrufe gegen den vermeintlichen Irrweg des „Neoliberalismus“ waren zugleich Versuche, sozialdemokratische Erfolge abzutun, ganz so als ob in der Dekade progressiver Dominanz nach 1997/98 Staatsausgaben und Sozialprogramme nicht enorm ausgeweitet und zugleich nützliche Reformen durchgesetzt worden wären. Der Staat, dessen „Rückkehr“ Linke so lautstark beschworen und herbeisehnten, war in Wahrheit nie verschwunden gewesen, sondern gewachsen: In Großbritannien stieg die Staatsquote zwischen 1998 und 2008 von 38 auf 42 Prozent.

Die existenzielle Frage lautet: Welche Funktion erfüllt die Sozialdemokratie überhaupt noch? Des Weiteren müssen sich Sozialdemokraten fragen, wie und mit wem sie wieder mehrheitsfähig werden können. Anderenfalls ist die Sozialdemokratie dazu verdammt, die Rolle eines Mehrheitsbeschaffers in Großen Koalitionen zu spielen – wenn sie nicht sogar in eine Minderheitspartei mutiert, die mit radikaleren Gruppierungen im linken Lager um Wähler konkurriert.

Klar ist: Die bisherige Strategie der Sozialdemokratie, um aus ihrem Tief herauszugelangen, war nicht erfolgreich. In Deutschland war diese Strategie eine Mischung aus Linksschwenk und dem Prinzip Hoffnung. Man distanzierte sich von Schröders Reformen, so wie sich jetzt Ed Miliband in Großbritannien vom Blairismus abgrenzt, und setzte darauf, dass sich nach einer Flaute bessere Zeiten von selbst wieder einstellen, wenn man nur die Wut auf Banker und gierige Bosse richtig schüre. Dass sich dies in Deutschland als Fehler erwies, hält Labour unter Ed Miliband nicht davon ab, dasselbe zu wiederholen. Auf dem jüngsten Parteitag servierte der Labourchef eine kräftige Portion linken Populismus und kündigte für den Fall eines Wahlsieges an, die Strompreise einzufrieren. Anscheinend ist er überzeugt, die Zeit für eine Rückkehr zu Instrumenten wie Preiskontrollen und Wirtschaftslenkung sei gekommen.

Die steigenden Strompreise in Großbritannien wie auch (beträchtlich höher noch) in Deutschland gehen auf eine Energiepolitik zurück, der sich diese Länder am entschlossensten von allen EU-Staaten verschrieben haben und die ausgerechnet Ed Miliband als Minister für Klima und Energie selbst konzipiert hatte: hohe Subventionen für wenig effiziente erneuerbare Energieträger wie Wind und Solar, die nicht genug, dafür aber enorm teuren Strom produzieren. Dies zwingt dazu, energieintensive Industrien mittels Subventionen wettbewerbsfähig und im Lande zu halten. Kurz gesagt, es handelt sich um eine Energiepolitik, die die große Mehrheit, darunter vor allem die sozialdemokratische Stammklientel, zugunsten von Land- und Hausbesitzer sowie Industriekonzernen zur Kasse bittet. Gegen dieses Stück sozialer Umverteilung sollten sich eigentlich Sozialdemokraten aller Flügel wehren.

Ohne Fortschrittsoptimismus keine Zukunft

Eine grüne Klimapolitik, das wurde in Deutschland bereits bei der Bundestagswahl sichtbar, dürfte den Popularitätsverfall der SPD noch beschleunigen. Die Sozialdemokratie ist gut beraten, sich aus der grünen Umklammerung zu lösen und einen vernünftigeren Weg in Klima- und Energiepolitik einzuschlagen. In der SPD – ebenso bei Labour – gibt es genügend Politiker, die ihre skeptische Haltung gegenüber grünen Radikalrezepten nicht an die große Glocke hängen, die jedoch ahnen, dass die grüne Strategie nicht gut gehen kann.

Am Desaster der Energiewende haben alle Parteien ihren Anteil. Einer neuen Großen Koalition sollte es leichter fallen, die Fehler zu korrigieren. Dass sich das Klimathema nicht zur Mobilisierung der Massen eignet, wie einige führende progressive Köpfe ursprünglich geglaubt hatten, sollte sich herumgesprochen haben. Ed Miliband schlug im Jahr 2007 gar die Einführung personalisierter Karbonkredite für jeden Bürger vor, was riesige staatliche Datensammlungen, einen bürokratischen Albtraum und einen autoritären Staat nach sich gezogen hätte.

Solche Ideen entpuppen sich als wirkungsvolles Rezept, um Wähler zu vergraulen. Gerade machen Deutschlands Grüne diese schmerzliche Erfahrung, ebenso wie Labour in Australien. Die Wähler werden grüne Positionen immer weniger honorieren, erst recht nicht, wenn sie mit Gängelung verbunden sind. Sie werden noch weniger willens sein, wenn sich die dräuend prognostizierte Erwärmung nicht wahrnehmbar einstellt, worauf der jüngste Report des Weltklimarates hindeutet. Kurzum: Der Zeitpunkt scheint gekommen, sozialdemokratische Positionierungen neu zu überdenken, was auch zu neuen politischen Bündnisoptionen führen könnte.

Pessimisten sagen, die Sozialdemokratie habe ausgedient und werde nun nicht mehr benötigt. Ralf Dahrendorf prophezeite das „Ende des sozialdemokratischen Zeitalters“ bereits in den siebziger Jahren. Seither sind die Gesellschaften vielfältiger und mittelschichtsgeprägter geworden, während die klassische Industriearbeiterschaft weiter geschrumpft ist.

Umso dringlicher ist es, die breiten Mittelschichten anzusprechen und Mehrheiten im Zentrum zu gewinnen, ohne die klassische Klientel zu verprellen. Sozialdemokraten wie Schmidt, Blair und Schröder hatten dies beherzigt und ihren Kurs gegen eine oft maulig-nostalgische Basis durchgesetzt. Den meisten Mitgliedern sozialdemokratischer Parteien war ein reformerischer Kurs nie geheuer. Sie sehnen sich nach den Gewissheiten der Opposition, die keine Kompromisse und Abstriche von hehren Zielen verlangt.

Mangelnder Realismus hat sich in der Geschichte der Sozialdemokratie oft als ihr schwächster Punkt erwiesen. Darum ging es im Kern bei dem Streit zwischen Revisionisten und Utopisten, von Bernstein und Kautsky bis hin zum Streit über Godesberg oder New Labours Abschied von „Clause 4“, die zur Vergesellschaftung aller Produktion verpflichtete. Am Ende haben stets die Revisionisten gesiegt, auch wenn es oft einer langen Phase oppositioneller Machtlosigkeit bedurfte, bis ihre Parteien wieder zur Vernunft kamen.

Es war stets das Anliegen sozialdemokratischer Politik, das Los der großen Zahl zu verbessern. Verbunden damit war ein optimistischer Blick in die Zukunft – das Vertrauen auf technologisch-wissenschaftlichen Fortschritt, ohne den sich eine gerechtere Gesellschaft nicht verwirklichen lässt. Diese Überzeugung ist den Sozialdemokraten abhanden gekommen. Sie müssen sie wiedergewinnen und sich von Kräften verabschieden, die die Moderne mit kulturpessimistisch gefärbtem Missfallen betrachten. Diese deutsche Geistestradition ist der Sozialdemokratie historisch fremd. Sie wird Sozialdemokraten auch in Zukunft nicht gut zu Gesicht stehen.

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