Ahmed, Arzu, Aylin und die anderen

Wie eine Suche nach Berliner Schulkameraden aus den neunziger Jahren zu erschütternden Einsichten über den Zustand unseres Gemeinwesens führte

Im Jahr 1990 wurden wir in Berlin-Kreuzberg eingeschult. Die Hälfte der Kinder in meiner Klasse hatte Eltern, die nicht aus Deutschland stammten. Wir wurden alle Anfang der achtziger Jahre geboren, meine Mitschüler gehörten zur zweiten Einwan­derergeneration. Ehsans Eltern waren aus Iran geflohen. Die Eltern von Ahmed, Arzu, Elin, Murat, Sibel, Aylin und Hasan waren als „Gastarbeiter“ aus der Türkei nach Deutschland gekommen – und geblieben. Ibrahims Familie hatte Libanon verlassen müssen. Samis Vater war ein afghanischer Anwalt. Cem hatte eine deutsche Mutter und einen türkischen Vater. Julians Vater war Perser, die Mutter deutsch. Dina war die Tochter von Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Anupamas Familie war in Sri Lanka bedroht worden. Genauso unterschiedlich wie die Geschichten der Kinder aus nichtdeutschen Familien waren aber auch die Geschichten der deutschen Kinder in meiner Klasse. Tanjas Mutter war arbeitslos. Die Eltern von Simon betrieben eine Öko-Bäckerei, die von Max einteures Restaurant. Antons Eltern waren Psycholo­gen, die Mutter von Britta Versicherungsangestellte. Unsere Lehrer und Eltern sahen es als Chance, dass die Schüler solch unterschiedliche Hintergründe hatten, dass hier Akademikerkinder und Kinder aus schwierigen Verhältnissen zusammen lernten – und voneinander. Wenn Ahmed wieder mal eine Sechs im Diktat bekam, erklärte ich ihm die Sache mit dem Dativ, und er machte dafür meine Mathe-Hausaufgaben. Wir stritten uns über Lieblingsfarben, Lieblingsvereine, Lieblingsmitschüler, Lieblings­lehrer oder wegen „Mensch ärgere dich nicht“, wir bildeten Grüppchen und waren sicher sehr oft gemein zueinander. Aber eine Sache spielte in unserer Klasse nie eine Rolle: unsere Herkunft. Wir alle kamen aus Berlin.

Erst als der strenge Herr Sontheimer, unser Klassenlehrer für die letzten zwei von sechs Grundschuljahren, uns in einer grauen Nachmittagsstunde mitteilte, welche Oberschul-Empfehlung jeder Schüler bekommen würde, fiel es uns auf. Fast alle „Kartoffelkinder“, wie Ahmed die Kinder deutscher Eltern nannte, sollten Abitur machen, jedenfalls die aus Akademikerfamilien. Und die „Kartoffeln“, deren Noten für das Gymnasium nicht reichten, wurden von ihren Eltern trotzdem aufs Gymna­sium geschickt. Notfalls mit Hilfe eines Anwalts. „Die Ausländer bleiben hier“, sagte Ahmed, dabei ist er in Berlin geboren. Er meinte die Straße, in der wir beide wohnten. Gegenüber lag eine Realschule. Er sollte Recht behalten: Er und sein Bruder und viele der anderen Kinder, deren Nachnamen ich am ersten Schultag noch so lustig fand, weil sie klangen wie die Spezialitäten auf den Speisekarten der zahlreichen Dönerläden im Kiez, kamen nicht mit. Der große Fatih, Sami und Sibel waren die einzigen Kinder mit so genanntem Migrationshintergrund, die eine Empfehlung für das Gymnasium erhielten.

Warum, fragte ich mich nun, hatte ich mit meinem Freund Ahmed nach der Grundschule nichts mehr zu tun? Warum endete selbst eine harmonische, multikulturelle Grundschulklasse in der Segregation? Laut einer aktuellen Studie sind selbst in der zweiten Generation viele Menschen mit türkischen Wurzeln noch nicht in Deutschland „angekommen“. Sie leben zwar hier, sind aber im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben kaum präsent. Rund 30 Prozent der Türken und Türkisch­stäm­migen hierzulande haben keinen Schulabschluss und nur 14 Prozent das Abitur. Die jungen Deutschen mit Migrationshintergrund jedoch, über die gerade im Zuge der unsäglichen Sarrazin-Debatte immerzu geredet wird, werden selten gefragt, wie es ihnen ergangen ist in dieser Heimat, in der so viele nicht heimisch werden.

Die Geschichten meiner Mitschüler, hätten unterschiedlicher nicht sein können. Es gibt türkischstämmige Mitschüler, die studiert haben. Und solche, die von Hartz IV leben. Was alle Nachfahren von Migranten vereint: eine innere Zerrissenheit zwischen der eigenen deutschen Heimat und der türkischen Heimat der Eltern. Der studierte Architekt überlegte gerade, in die Türkei auszuwandern, weil er hierzulande immerzu als „Türke“ gilt. Zugleich weiß er: In der Türkei wird er der „Deutsche“ sein. Und der Hilfsarbeiter am Flughafen träumte von der Rückkehr in die Geburtsstadt seines Vaters, aber als er dort Urlaub machte, merkte er: Ich kenne hier niemanden. Fast jede und jeder, ganz egal, wohin das Leben sie oder ihn verschlagen hatte, sagte mir: Ich bin kein Deutscher, ich bin kein Türke, ich bin Kreuzberger. Die Sehnsucht nach Identifikation war bei jedem zu spüren. Abgesehen von solchen spezifischen Fragen der Nachfahren von Einwanderern zeigte sich in den Gesprächen mit meinen Grundschulfreunden, was auch viele Studien belegen: Es hängt viel vom Elternhaus ab. Der ehemalige Mitschüler, der mir von allen am wenigsten in die deutsche Gesellschaft integriert erschien, war jedenfalls ein Deutscher. Sven, ein Arbeiterkind, einer, der es in der Grundschule schon schwer hatte, der als Problemfall immer weiter gereicht wurde und heute in einer Arbeits­maß­nahme festsitzt. Für Sven und seine Talente hatte nie jemand Zeit.

Hauptschulen qualifizieren heute niemanden mehr

Ich saß dann eines Tages im Rahmen meiner Recherche im Wohnzimmer unseres ehemaligen Klassenlehrers Herr Sontheimer. Er sagte: „Heutzutage höre ich sogar oft von Eltern nichtdeutscher Herkunft, dass ihr Kind unbedingt etwas erreichen soll. Diese Eltern wollen, dass ihr Kind Abitur macht, aber zuhause wird den Kindern dafür nichts mitgegeben, es gibt keine Bücher, keine Museumsbesuche, nichts. Diesen Kindern fehlt es an elementaren Dingen, aber die Eltern erwarten von mir, dass ich ihre Kinder aufs Gymnasium schicke. Viele Kollegen geben deswegen ganzen Klassen eine Gymnasialempfehlung, selbst wenn sie wissen, dass darunter Schüler sind, die auf einem Gymnasium keine Chance haben werden. Aber das kümmert sie nicht, ihr Job ist schließlich nach der sechsten Klasse erledigt. Und das Ergebnis sind überforderte Schüler, die spätestens in der achten Klasse sitzen bleiben, die früher oder später doch auf eine Realschule oder eine Gesamtschule kommen und sich von dieser Niederlage nicht mehr erholen.“

Herr Sontheimer, den wir für einen fiesen Notenfetischisten hielten, hält sich selbst für einen äußerst gerechten Lehrer. Er sagt, ihn störe die „Vorsortierung“ nach schlechten und guten Schülern, die schon in der ersten Klasse beginne. „Aber sie sortieren mit ihrer Benotung doch auch“, sage ich. „Noten sortieren immer“, sagt Herr Sontheimer, „mir sind natürlich die Hände gebunden, ich muss gewisse Kenntnisse abfragen und bewerten, aber ich versuche, jedes Kind gleich zu behandeln. Ich mache keinen Unterschied zwischen guten und schlechten Schülern. Ich bilde nicht nur Gymnasiasten aus, sondern auch Hauptschüler. Es muss doch nicht jeder aufs Gymnasium gehen.“ Herr Sontheimer hat natürlich Recht. Bloß: Das dreigliedrige deutsche Schulsystem orientiert sich noch heute am Ständesystem und wird dem Arbeitsmarkt schon lange nicht mehr gerecht. Deswegen ist ja sogar die CDU-Spitze in diesem Jahr zu der späten Erkenntnis gelangt, dass die Hauptschule abgeschafft gehört, was in vielen Bundesländern bereits passiert ist.

Hauptschulen qualifizieren heute niemanden mehr für einen praktischen Beruf, sondern sind zu Restschulen verkommen, an denen sich Schüler versammeln, die sich schwer tun und mit denen sich die Lehrer noch schwerer tun. Stattdessen solle es nach Vorstellung der CDU neben den Gymnasien bald eine Oberschule geben, die Realschule und Hauptschule vereint. Herr Sontheimer sagt, das gehe ihm nicht weit genug. So würden wieder nur die Verlierer an einer Schule versammelt. Sein Traum wäre eine einzige Oberschule für alle Schüler, mit „individueller Förderung“, was in den Worten der Lehrer immer klingt wie ein wunderbares, fernes Versprechen und wohl heißen soll, dass sie genug Zeit hätten, sich mal alleine mit einem Schüler hinzusetzen. Herr Sontheimer spricht von einem Lernumfeld, das leistungsschwache Schüler motiviert und in dem ihre persönlichen Stärken erkannt werden. „Aber das wird wohl ein Wunsch bleiben. Man sieht das ja schon an den jetzigen Gesamt­schulen, dass dort wieder zwischen Gymnasiasten und Realschülern unterschieden wird, überall wird heute getrennt und kategorisiert.“ Ich frage Herrn Sontheimer, ob „individuelle Förderung“ nicht besser funktioniere, wenn Schüler mit ähnlichen Talenten in kleinen Gruppen zusammen lernen als wenn alle Schüler, schnelle und langsame, möglichst lange gemeinsam in eine Klasse gehen. Aber in Herrn Sont­heimers großem Gesamtschultraum, dessen Erfüllung er wohl nicht mehr erleben wird, gibt es beides: gemischte Klassen und Raum für kleine Gruppen. Und er fragt: „War nicht deine Klasse der Beweis dafür, dass es für alle am Besten ist, wenn alle zusammen die Schule besuchen?“

Ich habe immer gesagt, dass es ein großes Glück für mich war, auf eine bunt gemischte Grundschule gegangen zu sein. Ich sage das auch heute noch. Aber ich habe von den Geschichten meiner ehemaligen Mitschüler gelernt, dass nicht jeder von dieser Durchmischung profitierte. Die Schüler, die in der ersten Klasse nicht mitkamen, hatten auch nach der sechsten Klasse Probleme mitzukommen. Deswegen kamen sie in vielen Fällen nirgendwo an. Diese Schüler stammten aus Elternhäusern, die man bildungsfern nennt und sozial schwach. Es waren vor allem die Kinder nichtdeutscher Eltern. Die Schüler, die in der ersten Klasse zu den Fittesten gehörten, gehörten auch nach der sechsten Klasse zu den Fittesten. Es waren vor allem die deutschen Kinder. Ihnen standen alle Türen offen.

Die Rütli-Schule zeigt, dass es geht. Aber sie ist eine Ausnahme

Die Frage, ob alle Schüler aus unserer Klasse davon profitiert haben, gemeinsam zur Schule gegangen zu sein, ist deshalb nicht so einfach mit einem Ja zu beantworten. Ich selbst habe davon profitiert. Ich habe andere Kulturen, Sitten und Lebenshin­tergründe kennengelernt. Ich bin froh, in so einem multikulturellen Umfeld aufgewachsen zu sein. Aber vielleicht ist das selbstgefällig. Ich konnte dieses Umfeld leicht verlassen. Ich gehörte in diesem Umfeld zu den Privilegierten. Ahmed nicht.

Diverse Studien bemängeln immer wieder, dass Kinder mit Migrations­hinter­grund und Kinder aus sozial schwachen Familien – was oft in Kombination auftritt – im deutschen Schulsystem benachteiligt würden. Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und schulischen Chancen im stark selektiven deutschen Schul­system ist größer als in den meisten anderen Ländern. Die ungleichen Start­voraus­setzungen von Anfang an waren an meiner ehemaligen Grundschule schon zu Zeiten meiner Ein­schulung ein Problem – und es ist in den vergangenen zwanzig Jahren größer geworden. Neuköllns Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky fordert deshalb schon länger eine Kindergarten-Pflicht für Kinder ab einem Jahr. Buschkowsky sagt, nur so könne man die Problemkinder in den Problemkiezen erreichen. Die Lernforschung sagt: Drei Jahre dauert es, bis sich ein Kind in einer Sprache zuhause fühlt. Die meisten türkischstämmigen Eltern aber schicken ihre Kinder nur ein oder zwei Jahre in eine Kita.

Wenn man Herrn Sontheimer fragt, was getan werden müsse, damit alle Schüler in seinen Klassen eine Chance haben, sagt er: „Man muss mehr Geld ausgeben. Deswe­gen wird nichts passieren.“ Man müsste die Vorschule früher beginnen lassen. Die Klassen verkleinern. Die Betreuung nach Unterrichtsende ausbauen. Die Lehrer fortbilden. Sozialpädagogen anstellen. Die Abschlüsse arabischer Erzieher anerkennen. Mehr Lehrer mit Einwandererbiografie anstellen. „Und man muss den Beruf des Grundschullehrers aufwerten“, sagt Herr Sontheimer, „für viele sind wir ja nur halb so viel wert wie ein Gymnasiallehrer. Dabei werden die wichtigsten Weichen in der Grundschule gestellt. Wir haben doch viel mehr Verantwortung!“

Ausgerechnet die Berliner Rütli-Schule ist ein Beispiel dafür, wie der Umbau einer Schule gelingen kann. Die Hauptschule im Problemkiez Neukölln mit 90 Prozent Ausländeranteil machte 2006 bundesweit Schlagzeilen, weil die Lehrer sich öffentlich weigerten, weiter zu unterrichten. Daraufhin schob der Senat ein beispielloses Aufbauprogramm für 24 Millionen Euro an, finanzierte den „Campus Rütli“, eine integrierte Haupt- und Realschule plus gymnasiale Oberstufe, Elternzentrum, Werk­stätten, Mensa, Sporthalle – und Sozialarbeiter. Die Gewalt ist seitdem zurückgegangen. Lehrer unterrichten wieder gern. Die Schule bietet jetzt Perspektiven. Die Schüler nutzen sie. Aber die Rütli-Schule stand im Fokus der Öffentlichkeit. Sie musste saniert werden, sonst hätten sich die verantwortlichen Behörden weiter blamiert. Die Rütli-Schule ist eine Ausnahme.

Überforderung ist schlimm. Unterforderung auch

Nach seinem mehrstündigen Frontalunterricht am Esstisch glaube ich, dass wir alle Herrn Sontheimer ein wenig Unrecht getan haben. Er ist im besten, im alten Sinne ein Sozialdemokrat. „Das Problem ist, dass wir an der Grundschule die Unterschiede nicht aufholen können“, sagt Herr Sontheimer, „wer mit Defiziten eingeschult wird, verlässt auch mit großen Defiziten die Grundschule, selbst nach sechs Grund­schuljahren wie hier in Berlin.“

Vor zwei Jahren veröffentlichte das Institut, für das meine ehemalige Mit­schü­lerin Anna tätig ist, eine Studie, die einen weiteren Aspekt der sozialen Unge­rech­tigkeit an deutschen Grundschulen offenbarte. Die Forscher wiesen nach: Viele Schüler wechseln nach der Grundschule auf eine falsche Oberschule. Rund 30 Pro­zent der Schüler besuchten einen weiterführenden Schultyp über oder unter ihrem Leistungsniveau. Dabei geht es nicht nur um die Überforderung, die Herr Sont­heimer seinen Schülern ersparen will, sondern vor allem um die Unterfor­derung. Und die trifft nur ganz selten Kinder aus Akademikerfamilien: Fast vier Fünftel von ihnen besucht ein Gymnasium. Dagegen besuchten nur ein Drittel der Schüler aus Haus­halten ohne einen solchen Bildungshintergrund ein Gymnasium. Auf Haupt­schulen ergibt sich ein umgekehrtes Bild: Dort lernt jedes vierte Kind aus einem nicht-akademischen Elternhaus – aber nur jedes zwanzigste Kind, dessen Eltern einen Hochschulabschluss haben.

Die Forscher bemängelten in ihrem Resümee, dass die Zuweisungspraktiken fatale Folgen haben: Vielen Kindern würde die Chance auf ein späteres Studium frühzeitig verbaut, sie könnten ihr Potenzial nicht nutzen, ihre Motivation werde nicht gefördert. Die Lösung sei, die Schüler möglichst spät in unterschiedliche Bildungs­wege zu schicken. Nun dauerte unsere Grundschulzeit schon sechs Jahre, länger als in den meisten Bundesländern. Und trotzdem sagt Herr Sontheimer: „Es kann natürlich gut sein, dass manche Oberschulempfehlung von mir nicht richtig war. Natürlich kann ich unter den Bedingungen, in denen ich arbeite, nicht jede Begabung erkennen und auch nicht jedes Defizit.“

Am Ende erzählt Herr Sontheimer, dass nur ein Schüler ihm einen Brief geschrieben habe zum Abschied. Er hat diesen Brief in seinen Akten, selbstverständlich. In krakeliger Schrift steht dort: „Lieber Herr Sontheimer, danke für die Zeit mit Ihnen. Sie waren ein guter Lehrer. Ihr Sven“ Herr Sontheimer sagt, er hoffe, dass Sven die Kurve gekriegt habe auf der Hauptschule. Aber er weiß, dass er Sven nach der Grund­schule auf eine gerade Strecke schicken musste, in eine Sackgasse.

Entsolidarisierung in Echtzeit

Heute ist Kreuzberg auf den ersten Blick viel attraktiver als noch vor zwanzig Jahren. An jeder Ecke gibt es Boutiquen und Latte-Macchiato-Cafés. Einst, als Studenten hier hergezogen, wohnen die jungen Eltern nun in Vier-Zimmer-Wohnungen mit Fisch­grätparkett, trinken einmal im Jahr Caipirinha auf dem „Karneval der Kulturen“, einem Straßenumzug mit exotischen Tänzen aus aller Welt und einer Million Zu­schauern, und freuen sich, in so einem „bunten“ Umfeld zu leben. Kommen ihre Kin­der aber ins schulpflichtige Alter, wird aus der Bereicherung auf einmal eine Bedrohung. Türkische Gemüsehändler, schön und gut, aber türkische Mitschüler? Lieber nicht. Unter den zugezogenen Besserverdienenden herrscht ein Klima der Angst. Die Mittelschicht hat Angst vor dem Abstieg und Angst davor, dass ihre Kinder zu den Verlierern gehören, von denen es in unserer Gesellschaft immer mehr gibt, wenn sie mit weniger privilegierten Kindern zur Schule gehen. In Kreuzberg kann man derzeit der Entsolidarisierung in Echtzeit zusehen. Vier Vorzeige-Grundschulen gibt es dort noch. Sie gelten jedenfalls als Vorzeige-Schulen, weil der Anteil deutscher Schüler dort gen hundert Prozent geht. „Diese Schulen gewinnen den Wettbewerb um die vermeintlich guten Schüler“, sagt mir die Schulleiterin meiner ehemaligen Grundschule. Einen Wettbewerb, an dem sie gar nicht teilnehmen will. Bis zum vergangenen Jahr änderten deutsche Mittelschichts-Eltern sogar zum Schein ihren Wohnsitz, bloß um in den Einzugsbereich dieser anderen Schulen zu kommen. Das ist mittlerweile gar nicht mehr nötig, denn seit dem Schuljahr 2010/2011 gilt in Berlin eine Wahlfreiheit. „Das ist natürlich verheerend“, sagt Frau Schmidtke, „so wird die soziale Trennung noch viel stärker. Diese vermeintlich erfolgreichen Schulen, die gar nicht viel mehr anbieten als wir, gehen direkt in die Kinderläden und bieten den Eltern an, die ganze Gruppe in eine Klasse einzuschulen. Das könnten wir auch machen, aber ich will das nicht. Ich bin ja nicht der Dienstleister für gutverdienende deutsche Eltern, meine Schule soll für alle da sein.“ Aber jetzt ist es so weit gekommen, dass ihre Grundschule nur noch für die da ist, die sonst niemand haben will.

Vor wenigen Jahren antwortete Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowe­reit auf die Frage, ob er seine Kinder, die er nicht hat, auf eine Schule in Kreuzberg schicken würde, mit einem trockenen „Nein“. Er würde „jeden verstehen, der sagt, dass er da seine Kinder nicht hinschickt“, sagte Wowereit. Die Empörung war groß. „Da fühlte ich mich persönlich angegriffen“, sagt Frau Schmidtke, „wir leisten hier engagierte Arbeit und der hat nichts Besseres zu tun, als den ganzen Bezirk zu stigmatisieren.“ Nicht nur das: Der Berliner Senat, dem Wowereit vorsteht, ist für die Schulpolitik zuständig. Offenbar fehlt dem Mann, der politisch dafür verantwortlich ist, dass es in seiner Stadt Schulen gibt, auf die man sein Kind nicht schicken will, der Glaube, dass sich die Situation verbessern lässt. Wowereit hat resigniert. Weil die Empörung groß war, besuchte der Regierende Bürgermeister wenig später zur Ent­schuldigung tatsächlich noch einmal Kreuzberger Schulen. Vorzeigeschulen. Schu­len, die er ursprünglich gar nicht gemeint haben kann. An meiner ehemaligen Grund­schule hat sich Wowereit nicht blicken lassen.

Alle ehemaligen Mitschüler aus nichtdeutschen Familien, die ich im Laufe des vergangenen Jahres getroffen habe, sagten mir, sie wollten ihre eigenen Kinder nicht auf eine staatliche Grundschule in ihrem Bezirk geben. Das sagten nicht nur Eltern aus der türkischen Mittelschicht, sondern auch Eltern, die gar keine Möglichkeit haben, eine Privatschule für den Nachwuchs zu bezahlen. Die Schulpolitik in Berlin hat marode Schulen hinterlassen, auf die niemand mehr sein Kind schicken will. Niemand will zu den Abgehängten gehören, auch nicht die, die den Anschluss längst verloren haben.

Das Versagen des linken Establishments

Ich habe durch die Wiedersehen mit meinen Grundschulfreunden in den vergangenen Monaten gelernt, dass es keine Frage der ethnischen Herkunft ist, ob man erfolgreich durch die Schulzeit kommt, sondern eine Frage der sozialen Herkunft. Zu den sozial Schwachen in meinem Heimatbezirk gehören aber nun mal überwiegend nichtdeutsche Familien. In anderen Teilen Berlins, in den großen Ost-Bezirken beispielsweise, haben sich längst ebenfalls unkontrollierbare Wohnghettos und Schulen gebildet, deutsche Problemschulen. Wer kann, flieht von dort. Das Besondere rund um meine Grundschule ist: Wer kann, flieht nicht von dort. Wer kann, der bleibt. Doch die voranschreitende Gentrifizierung verdrängt die sozial Schwachen zunehmend an den Rand des Bezirks und an den Rand der Stadt. Kreuzberg ist zugleich attraktiver und deprimierender geworden. Es ist ein teurer und geteilter Bezirk in Deutschlands Hauptstadt. Kinder aus wohlhabenden, gebildeten Elternhäusern gehen auf die wenigen guten Schulen. Die anderen auf Schulen wie meine ehemalige Grundschule, die auch mal eine gute Schule war. Man hat heute im Multikulti-Bezirk Kreuzberg eine ethnische Trennung, die eigentlich eine soziale Trennung ist. In der Nachbarschaft, die mal meine war, die mal die Nachbarschaft aller war, verschanzen sich heute einige Wenige in luxuriösen Trutzburgen, während die Menschen, die ohnehin am Rand der Gesellschaft leben, an den Rand der Stadt ziehen müssen.

In den letzten zwanzig Jahren hat sich an der Situation von den meisten Kindern und Kindeskindern der Einwanderer nichts verbessert. Im Gegenteil. Klar, es gibt Erfolgsgeschichten, aber es sind Ausnahmen. Und die Tatsache, dass die erfolgreichen Nachfahren von türkischen Einwanderern den Bezirk verlassen wollen, sobald ihre Kinder zur Schule kommen, zeigt, dass es kein Miteinander mehr gibt, sondern ein Nebeneinander und Gegeneinander. Und das ist auch ein Versagen des linken Establish­ments, dem ich entstamme. Jahrelang hat man die Augen verschlossen vor offensichtlichen Integrationsproblemen. Vor schulischen Problemen. Vor Abschottungs­pro­blemen. Vor Sprachproblemen. Und erst als man selbst betroffen war, weil die eigenen Kinder nun in Kontakt mit Kindern aus weniger privilegierten Familien kommen sollten, hat man etwas unternommen: nämlich die Flucht angetreten.

Ich weiß mittlerweile, dass ich meinen Sohn, wenn er zur Schule geht, nicht auf die nächstbeste Grundschule in Kreuzberg oder Neukölln, da wo wir heute leben, schicken werde. Aber ich würde ihn gerne auf die nächstbeste Schule schicken! Ich erwarte von diesem Land, dass es eine Bildungspolitik betreibt, die keine guten und schlechten Schulen hervorbringt, die nicht frühzeitig zwischen guten und schlechten, verwertbaren und nutzlosen Schüler unterscheidet. Ich finde die Vorstellung schrecklich, dass die Schulklassen heutzutage oft den sozialen Klassen entsprechend aufgeteilt sind. Früher hätte ich deshalb gesagt, dass ich mein Kind auch auf einer Problemschule in Neukölln anmelden würde. Aus Prinzip. Dass mein Kind dort lernen würde, sich durchzusetzen. Jetzt finde ich diese Vorstellung unvorstellbar. Er soll eine unbeschwerte, gute Schulzeit haben, eine Schulzeit, an die er sich gerne erinnern wird. Eine Schulzeit wie ich sie hatte. Er soll nicht aus Prinzip die trübe Suppe auslöffeln, die Jahrzehnte verfehlter Bildungs- und Integrationspolitik seiner Generation eingebrockt haben. Nicht, damit sein Vater ein reines Gewissen hat. Ein Bekannter in München hatte einmal zu mir gesagt, er wolle sein Kind nicht für seine politischen Ideale opfern. Damals habe ich mich über ihn geärgert. Ich kann noch immer nicht fassen, dass er und seine Frau an potenziellen Schulen „ausländisch“ aussehende Kinder auf Klassenfotos gezählt haben. Aber ich ertappe mich jetzt manchmal dabei, wie ich denke, wir sollten rechtzeitig umziehen, bevor unser Sohn eingeschult wird. Manchmal denke ich nun, dass ich meinen Sohn nicht opfern möchte. Ich erschrecke dann vor mir selbst. Und vor der Gesellschaft, in der wir leben. «

Dieser Text basiert auf Patrick Bauers Buch „Die Parallelklasse“. Der Band ist vor kurzem im Luchterhand Literaturverlag erschienen. Er hat 92 Seiten und kostet 14,99 Euro.

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