Afghanistan auf dem Prüfstand



Mit Blick auf die langfristigen Aussichten für Afghanistan ist häufig von „vorsichtigem Optimismus“ die Rede. Viel deutet jedoch darauf hin, dass die Betonung dabei für die nähere Zukunft mehr auf „vorsichtig“ als auf „Optimismus“ liegen muss. Die wachsende Zahl getöteter Zivilisten hat die Unterstützung der Afghanen für die internationale Militärpräsenz und die Zentralregierung erheblich schwinden lassen. Zwar befürwortet die Mehrheit der Afghanen deshalb nicht gleich die Rückkehr der Taliban. Doch die Enttäuschung über fehlende Erfolge der Zentralregierung und der internationalen Gemeinschaft seit dem Sturz der Taliban Ende 2001 ist groß.

Über die große Zahl ziviler Opfer zeigen sich westliche Politiker und Nato-Beamte in regelmäßigen Abständen sehr besorgt. Gern beschuldigen sie die Taliban, unbeteiligte Bürger in kriegerische Handlungen zu verwickeln. Als Antwort versprechen sie, die Koordinierung zwischen den Koalitionstruppen und den afghanischen Sicherheitskräften zu verbessern. Dass sich die Taktik der westlichen Militärs bald radikal verändert, ist allerdings mehr als unwahrscheinlich.

Die Sommeroffensive 2007 der Taliban war von besonders vielen Angriffen und Selbstmordanschlägen gekennzeichnet. Wenn es das Ziel der Taliban war, in den nationalen und internationalen Medien „Erfolgsmeldungen“ zu platzieren, so war ihre Strategie durchaus erfolgreich. In Wirklichkeit geht dieser vermeintliche „Erfolg“ jedoch weniger auf die wachsende Stärke der Taliban zurück als darauf, dass ernst gemeintes und unmissverständliches internationales Engagement fehlt. Hinzu kommt die grassierende Ineffizienz und endemische Korruption in der politischen Klasse Afghanistans.

Schon im Jahr 2006 hatte Afghanistan ein außerordentlich schwieriges Jahr erlebt. Die Gewalt in den südlichen und östlichen Teilen des Landes war erheblich angestiegen. Weil die internationalen Truppen ihren Aufgaben in diesen Gebieten offenkundig nicht gewachsen waren, wurden Mitte 2006 zusätzliche Koalitionstruppen nach Afghanistan gesandt, in erster Linie von den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Kanada. Die Taliban konzentrierten ihre Anstrengungen in der Folge ganz bewusst auf die nicht-amerikanischen Nato-Streitkräfte, um die innenpolitische Unterstützung in deren Heimatländern auszuhöhlen. Auch dieses Vorgehen hat im Laufe der Zeit Früchte getragen.

Zwar ist die afghanische Armee größer und effektiver geworden, doch bereitet ihr die direkte Konfrontation mit den Taliban weiterhin Probleme. Afghanische Truppen mögen Kommandeur Dadullah, einen gefürchteten militärischen Führer der Taliban, getötet haben, doch noch immer muss die afghanische Armee von der Nato ausgebildet und unterstützt werden. Auch eine bessere Kommunikation zwischen den internationalen Truppen und dem afghanischen Sicherheitspersonal ist erforderlich. Nicht zuletzt wäre es sinnvoll, an vorderster Front und damit für den Feind deutlich sichtbar, mehr Afghanen einzusetzen, um Spannungen und Feindseligkeiten zu verringern. Diese Strategie könnte besonders in ländlichen Gebieten von Vorteil sein, in denen Ressentiments gegenüber Ausländern verbreitet sind. Aus einem gewöhnlichen Missverständnis kann schnell ein tragischer Gewaltausbruch werden, wenn Unkenntnis über grundlegende kulturelle Empfindlichkeiten herrscht.

Auch bei den Polizeikräften hat sich zu wenig zum Besseren gewandelt. Nach wie vor sind Inkompetenz und Korruption verbreitet, und zwar vor allem auf regionaler Ebene, hauptsächlich im Süden des Landes, wo die örtlichen Verwaltungsbeamten häufig am Drogenhandel beteiligt sind. Afghanistan produziert rund 90 Prozent des weltweiten Opiums, wobei der meiste Mohn in der südlichen Provinz Helmand angebaut wird.

Seit der Invasion westlicher Truppen im Jahr 2001 ist der Drogenhandel sprunghaft angestiegen, vor allem in den Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden. Die vom Westen versprochenen alternativen Einnahmequellen für die Landwirtschaft wurden nie zur Verfügung gestellt. Dadurch wurden die Bauern von der Gnade der örtlichen Kriegsherren abhängig. Die warlords sind nur zu gern bereit, den Mohnanbau finanziell zu unterstützen und wenden dabei nicht selten Gewalt und Zwang an. Parallel wächst die weltweite Nachfrage nach Drogen, vor allem in den westlichen Industrieländern.

Zwar haben die Vereinigten Staaten ihre Hilfen für Afghanistan gesteigert, doch im Vergleich zu den Mitteln für den Irak sind sie äußerst gering. Hinzu kommt, dass einerseits viele Gebiete aufgrund der prekären Sicherheitslage für die internationale Entwicklungshilfe praktisch unzugänglich sind, andererseits aber kaum in die Infrastruktur investiert wird. Besonders stark leiden die Afghanen daran, dass der Gesundheitssektor chronisch unterfinanziert ist und von der Politik komplett vernachlässigt wird. Und das, obwohl das körperliche Wohl der Menschen entscheidend ist, wenn ihre hearts and minds gewonnen werden sollen.

Die Lebenserwartung eines Afghanen beträgt 46 Jahre. Frauen leben im Durchschnitt noch kürzer: Da viele afghanische Frauen ohne qualifizierte medizinische Hilfe Kinder gebären, gehört die Müttersterblichkeit zu den höchsten der Welt. Afghanistans Gesundheitsminister ist trotz zahlreicher Appelle noch immer nicht in der Lage, zwei Hubschrauber für Rettungs- und Nothilfemaßnahmen zu beschaffen, um Arzneimittel und Patienten aus entlegenen ländlichen Provinzen zu transportieren. Kein Wunder, dass in dem Land jedes Jahr hunderte Menschen an leicht heilbaren Erkrankungen sterben.

Die Zustände werden dadurch unnötig verkompliziert, dass die westlichen Truppen dazu neigen, die Welt schablonenhaft in schwarz und weiß einzuteilen und sämtliche Regierungsgegner als Terroristen, Taliban, Al-Kaida, Staatsfeinde oder deren Sympathisanten zu brandmarken. Ausländische Soldaten greifen besonders dann gern auf solche Vorurteile zurück, wenn sie in den ländlichen Gebieten verzweifelt versuchen, die Nuancen der lokalen Kultur zu verstehen.

Genau deshalb ist eine bessere „Netzwerkanalyse“ notwendig: ein genaueres Verständnis davon, wie die Stämme und Clans vernetzt sind, die das tägliche Leben der afghanischen Bevölkerung bestimmen, vor allem in ländlichen Regionen und in den kriegsgeplagten Gebieten im Süden und Osten Afghanistans. Mehr Wissen über Komplexität und innere Dynamik der Stammesstrukturen, eine intelligente Beurteilung der Bedürfnisse und Sorgen der afghanischen Bürger sowie eine darauf aufbauende Politik würden die Wirklichkeit und die Wahrnehmung des afghanischen Volkes beträchtlich verändern.

Präsident Karzai: Wohlmeinend, doch zunehmend ineffektiv

Grundsätzlich sind die Afghanen auch weiterhin stolz darauf, ein repräsentatives Regierungssystem zu haben, das noch work in progress ist. Es wäre naiv zu glauben, politische Veränderungen könnten nach 30 Jahren gewalttätiger Konflikte über Nacht stattfinden. Noch naiver wäre zu erwarten, es würde zu einer bloßen Nachbildung einer Demokratie westlichen Stils kommen. Vielmehr vollzieht sich der Wandel schrittweise und innerhalb des komplizierten historischen Kontextes der afghanischen Gesellschaft. Diese ist noch immer tief in ihren Traditionen verankert, wurde jedoch durch jahrelange, von in- und ausländischen Kräften ausgelöste Unruhen entwurzelt und erheblich verändert. Dass die Afghanen trotz enormer Hindernisse und Herausforderungen Fortschritte erzielt haben, zeigt die Beweglichkeit und den Stolz dieses Volkes, das beharrlich für eine bessere Zukunft kämpft und dabei die Einzelinitiative stärker wertschätzt als die Abhängigkeit von internationaler Hilfe.

Viele schätzen den afghanischen Präsidenten Hamid Karzai als Mann mit guten Absichten, doch gilt er zunehmend als ineffektiv. Der Staatschef ist dem Druck ausländischer Mächte und konkurrierenden Forderungen afghanischer Gruppen zugleich ausgesetzt, einschließlich der unterschiedlichen Fraktionen im Parlament und der mächtigen Stammesführer in den Provinzen. Kurz gesagt: Er meint es gut, kann jedoch nicht viel tun. Die jüngsten Anschläge mit zahlreichen Todesopfern haben bei vielen Afghanen dieses Gefühl weiter verstärkt und die Unterstützung für den Präsidenten unterminiert.

In fragilen Staaten ist es für einen Staatschef von Vorteil, ein Gefühl der Fairness auszustrahlen, aber auch eine gewisse Aura der Unbesiegbarkeit, der Allwissenheit und der Allgegenwart zu besitzen. Solche Charaktereigenschaften einer Einzelperson können in hohem Maße zur nationalen Einheit und zum Nationalgefühl beitragen. Theoretisch braucht Afghanistan einen Führer nach dem Vorbild Kemal Atatürks, der in der Lage sein müsste, inmitten turbulenter Umstände nationale Einheit zu schaffen und einen demokratischen Wandel zu vollziehen. In Wirklichkeit wird diese Aufgabe jedoch von verbreitetem Sektierertum und Gruppenbildungen erschwert. So verringern sich die Chancen auf einen nationalen Retter erheblich. Nein, in Afghanistan ist kein Atatürk am Horizont zu erkennen.

Afghanistans Parteiensystem ist nicht gefestigt

Innerhalb immer engerer politischer Grenzen und physischer Sicherheitsbeschränkungen versucht Präsident Karzai, sich so gut wie möglich zu bewegen. Aufgrund der Anschlagsgefahr reist er jedoch nur selten in die Provinzen, weshalb er der „Bürgermeister von Kabul“ genannt wird. Doch auch in der Hauptstadt ist er stets gefährdet. Dass er die Regionen kaum besucht, beeinträchtigt seine Glaubwürdigkeit bei der afghanischen Bevölkerung umso mehr – eine Situation, die möglicherweise durch effektivere Kampftruppen verbessert werden könnte. Kurzum: Im Wesentlichen spielt Präsident Karzai die Rolle des obersten Vermittlers und Aufsehers über die konkurrierenden Cliquen und Gruppen. Ungeachtet seiner Charakterstärke oder rhetorischen Fähigkeiten dürfte auch jeder Nachfolger aufgrund der beschriebenen Zwänge ähnlich eingeschränkt sein.

Afghanistans Parteiensystem ist noch immer nicht gefestigt, und es ist unwahrscheinlich, dass es sich in absehbarer Zukunft vollständig konsolidiert. Auch weiter werden wechselnde Koalitionen und Ad-hoc-Zweckbündnisse die politische Landschaft beherrschen. Erst kürzlich wurde eine neue Partei gegründet, die sich – ideologisch vollkommen inkohärent – aus ehemaligen Feinden und Verbündeten zusammensetzt und Karzai das Leben zusätzlich schwer machen dürfte. Er könnte daraus allerdings auch politisches Kapital schlagen, indem er deren interne Gegensätze im Sinne einer Strategie des divide et impera geschickt ausnutzt. Realistisch betrachtet wird Karzai in seiner verbleibenden Amtszeit jedoch letztlich gezwungen sein, sich mehr oder weniger durchzuwursteln.

Afghanistans Patronagesystem wird im Parlament und besonders auf den regionalen Ebenen fortbestehen. Dieses System basiert auf „Geschäftemachen“ sowie „Geben und Nehmen“. Damit unterscheidet es sich gar nicht von Praktiken in anderen Teilen der Welt – mit dem Unterschied, dass viele Afghanen als normales Geschäftsgebaren betrachten, was im Westen als Korruption gilt. Es wird noch lange dauern, bis sich in der afghanischen Gesellschaft westliche Standards wie Transparenz und Rechenschaftspflicht durchgesetzt haben und entsprechende gesellschaftliche Institutionen entstanden sind. Möglicherweise wird dies auch gar nicht oder nur in begrenztem Maße geschehen. Internationale Geldgeber sollten diese Realitäten berücksichtigen und eine gewisse Flexibilität an den Tag legen – gleichzeitig jedoch stetig auf langfristige Verbesserungen hinwirken. Nur so können irgendwann veränderte Standards etabliert werden.

Die größte langfristige Bedrohung für den Erfolg des Westens in Afghanistan ist und bleibt der vielleicht nicht mehr reparable Legitimitätsverlust der Zentralregierung. Zu Beginn hatte die afghanische Bevölkerung hohe Erwartungen an die neue Regierung. Doch die öffentliche Unterstützung ist enorm gesunken, weil die Regierung viele Zusagen nicht eingehalten hat, weil umfassendes internationales Engagement fehlt und Korruption sowie Ineffizienz verbreitet sind. Die internationale Gemeinschaft könnte ihr Engagement auf den meisten Sektoren durchaus noch verstärken, aber das würde Afghanistan bestenfalls mehr Zeit verschaffen. Letztlich steht und fällt die Zukunft des Landes damit, ob die Zentralregierung in der Lage ist, ihre Zusagen einzuhalten oder wenigstens diesen Eindruck zu vermitteln.

Die afghanische Öffentlichkeit muss sich zudem auf ein langfristiges und beständiges Engagement der internationalen Gemeinschaft verlassen können. Viele Afghanen haben noch lebhafte Erinnerungen daran, dass sie nach dem sowjetischen Rückzug und dem Aufstieg der Taliban verraten wurden. Wie sehr steht die internationale Gemeinschaft heute hinter Afghanistan? Zwar variiert der Unterstützungsgrad zwischen verschiedenen westlichen Staaten. Doch zusammen genommen sind die Anzeichen nicht besonders ermutigend – vor allem nicht für die afghanische Zivilbevölkerung.

In vielen Nato-Staaten schwindet die Unterstützung

Beispielsweise war es äußerst mühevoll, zusätzliche Mittel und Lieferungen aus den Nato-Staaten für Afghanistan zu erhalten. In den Parlamenten und in der Öffentlichkeit zahlreicher Nato-Staaten führte man heftige Debatten darüber. In Italien brach darüber fast die Regierungskoalition auseinander. In Deutschland wurden nach der Tötung deutscher Soldaten bei Selbstmordanschlägen in Kunduz Stimmen laut, die den Rückzug forderten. Im niederländischen Parlament wurde um die Entscheidung gerungen, Soldaten in den konfliktgeplagten Süden Afghanistans zu entsenden. Im kanadischen Parlament und in den kanadischen Medien lösten Todesfälle unter kanadischen Soldaten Ärger aus. In Großbritannien diskutierte man darüber, dass die eigenen militärischen Ressourcen durch Einsätze auf der ganzen Welt erschöpft seien.

Obgleich in Afghanistan 37 Nationen ihren Beitrag leisten, reichen die Anstrengungen und Ressourcen für die Mission nach wie vor nicht aus. Auch müssen an allen Fronten die Lasten gerechter verteilt werden. Noch immer sind die amerikanischen, britischen und kanadischen Truppen im Süden und Osten Afghanistans in die schwersten Kämpfe verwickelt.

Aufgrund der abnehmenden öffentlichen Unterstützung in vielen Nato-Staaten besteht die Gefahr, dass die nationalen Parlamente die militärischen Mandate über die kommenden Jahre hinaus nicht verlängern. Viele führende Politiker haben es schlicht versäumt, sich auf einen direkten Dialog mit der Öffentlichkeit einzulassen und die Bedeutung und das Ausmaß der Afghanistan-Mission zu erklären. Dieses Versagen hat seinen Grund vor allem in der Angst der Politiker, bei Wahlen abgestraft zu werden. Doch auch wenn Staaten wie Italien und Deutschland nach zwei blutigen Weltkriegen starke pazifistische Strömungen entwickelt haben: In einer globalisierten Welt, die nach den Anschlägen vom 11. September mit wachsenden nichtkonventionellen Bedrohungen konfrontiert ist, sind diese Mentalitäten keine Entschuldigung mehr für Zögerlichkeit und Tatenlosigkeit.

Darüber hinaus erschweren Kräfte aus anderen, zumeist angrenzenden Ländern die Lage in Afghanistan erheblich. Es besteht kaum Zweifel, dass zahlreiche Gruppen der Taliban und der Terrororganisation Al-Kaida von pakistanischem Boden aus operieren, besonders aus der rauen, bergigen Grenzregion. Fraglich bleibt, in welchem Maße die pakistanische Regierung Kontrolle über diese Gebiete ausübt, in welchem Umfang sie die Gefahr bekämpft und ob lokale Stämme oder staatliche Stellen sie dabei in irgendeiner Form aktiv oder passiv unterstützen.

Möglicherweise überschätzen die Vereinigten Staaten die Handlungsmöglichkeiten des pakistanischen Präsidenten Pervez Musharraf, besonders angesichts gegensätzlicher Interessen und Loyalitätsverhältnisse in den pakistanischen Geheimdiensten. Andererseits spielt Musharraf möglicherweise seine Einflussoptionen öffentlich herunter. Er tut gerade genug, um das amerikanische Gütesiegel als „Partner im Krieg gegen den Terror“ zu behalten und sein politisches Überleben zu sichern. Aber er zieht die Grenze, wo sich seine Beziehungen zu seinen religiösen Widersachern, die ihn als einen Handlanger der Amerikaner betrachten, verschlechtern könnten. Um mehr zu bewegen, müsste Musharraf zusätzliches politisches Kapital und Ressourcen investieren, doch über beides verfügt er derzeit nur begrenzt. Im Gegenteil wird seine Herrschaft zunehmend in Frage gestellt, wie die jüngsten Entwicklungen zeigen.

Wahrscheinlich werden die Taliban darüber hinaus auch von den militanteren Teilen der iranischen Geheimdienste unterstützt, jedoch in weit geringerem Maße als die Aufständischen im Irak. Umzingelt von Amerikanern – mit Afghanistan im Osten und Irak im Westen –, haben sich iranische Regierungsbeamte entschieden, über Druck und Gewalt von Dritten Widerstand zu leisten. Ihr Ziel ist nicht die Rückkehr der Taliban, die eingeschworene Feinde des Iran sind. Vielmehr wollen sie sicherstellen, dass die Streitkräfte der Amerikaner und ihrer Bündnispartner beschäftigt sind, heftig kämpfen müssen und sich eine blutige Nase holen.

Das Interesse an Afghanistan ist zu gering

In der amerikanischen Öffentlichkeit dominieren vor der Präsidentschaftswahl im November dieses Jahres innenpolitische Themen, gelegentlich geht es um den Irak oder um Pakistan. Afghanistan hingegen wird aus verschiedenen Gründen weiterhin wenig Beachtung finden: Im Vergleich zum Irak werden hier wenige amerikanische Soldaten getötet, und die Höhe der eingesetzten Steuergelder ist relativ gering. Hinzu kommt, dass die Afghanen den ausländischen Truppen im Allgemeinen positiv gegenüberstehen und an den Frontlinien nur zu gern Verantwortung übernehmen. Deshalb ist dieser Konflikt weniger kontrovers als jener im Irak. Wer sich nicht für Außenpolitik interessiert, für den ist der Einsatz in Afghanistan zu einem „Krieg von gestern“ geworden. Wer ein gewisses Interesse aufbringt, für den ist er der „andere“ Krieg geworden: Ab und zu wird eine markante Bemerkung über ihn gemacht, um die Gegensätze zum Irak-Krieg herauszustellen. Und nur sporadisch taucht er in den Schlagzeilen auf, wenn die Taliban wieder einmal ein grausiges Selbstmordattentat oder einen perfiden Anschlag verübt haben.

Die Politiker der Vereinigten Staaten – egal welcher Couleur – stehen in der Verantwortung, eine größere Debatte über den Konflikt in Afghanistan anzustoßen. Wir brauchen eine grundsätzliche und von Kenntnissen geprägte Diskussion, die über banale Statements und farbenfrohe Rhetorik hinausgeht. Was in Afghanistan auf dem Spiel steht, hat Folgen für die nationale Sicherheit, für die internationale Stabilität und für zukünftige Generationen in den Vereinigten Staaten. Manche müssen erneut daran erinnert werden, dass die Anschläge des 11. September 2001 größtenteils von afghanischem Boden ausgingen. Die Probleme dort bestehen weiterhin und stellen eine regionale und internationale Bedrohung dar.

Die politisch Verantwortlichen haben die Aufgabe, einen ungefähren Zeitplan für die Operation und ihr Ausmaß abzustimmen. Dabei muss betont werden, dass der Kampf in Afghanistan (und in anderen Teilen der Welt) Verpflichtungen und Ressourceneinsatz für mindestens eine Generation mit sich bringen wird. Mangelnde Unterstützung in der amerikanischen Innenpolitik wird die afghanische Öffentlichkeit sehr entmutigen. Diese muss mit Worten und vor allem mit Taten davon überzeugt werden, dass die Unterstützung der Vereinigten Staaten nachhaltig sein wird.

Das Ziel muss sein, kurzfristig Zeit zu gewinnen, um langfristig die Eigenständigkeit und vollständige Kontrolle der Afghanen auf allen Gebieten zu erreichen, besonders auf dem Gebiet der Sicherheit. Diese Aufgabe erscheint nach dreißig Jahren Krieg enorm, aber ein Erfolg ist möglich.

Um die öffentliche Unterstützung in den Vereinigten Staaten aufrecht zu erhalten, müssen die verantwortlichen Politiker nicht nur sporadisch, sondern regelmäßig Fortschrittsberichte vorlegen, vor allem hinsichtlich der zivilen Entwicklung. Die Menschen wollen für ihre Steuergelder einfach Resultate sehen. Als besonders große Herausforderung wird sich dabei erweisen, dass es in der amerikanischen Regierung an Fachkenntnissen über nichtmilitärische Dinge mangelt und ins Ausland entsandte Experten dort typischerweise nur kurz verweilen.

Selbst wenn Mittel für Hilfsprogramme zur Verfügung stehen, gibt es zu wenige Fachleute, die diese Maßnahmen in Sektoren wie Landwirtschaft und Bildung, Gesundheit und Rechtsstaatlichkeit effizient durchführen können. Wird ein qualifizierter Experte gefunden, bleibt er meist nicht länger als ein Jahr bis zum nächsten Ortswechsel. Viele Hilfsprogramme werden durch Mangel an Kompetenz und fehlende Kontinuität stark behindert. Eine bessere technische Ausbildung und längere Einsatzzeiten in problematischen Ländern dürften eine günstigere langfristige Entwicklung und mehr Wachstum gewährleisten.

Die amerikanische Öffentlichkeit und die Mitglieder der kämpfenden Streitkräfte, vor allem des Heeres und der Marineinfanterie haben sich stark voneinander entfernt. Viele Soldaten meinen, die Normalbürger nähmen ihre Realitäten überhaupt nicht wahr: die direkten Gefechte, verlängerte Dienstzeiten, Belastungen des Familienlebens und die daraus resultierenden Folgen. Es ist durchaus verständlich, dass viele Amerikaner den Auslandseinsätzen skeptisch gegenüberstehen – nach der Enttäuschung der Erwartungen, die die Architekten des Irak-Krieges geweckt hatten. An dieser Stelle spielt verantwortliche politische Führung eine entscheidende Rolle, um erstens die schwerwiegenden Folgen eines möglichen Scheiterns in Afghanistan darzulegen; zweitens mitzuhelfen, die Glaubwürdigkeit der Mission wiederherzustellen; drittens die öffentliche Unterstützung für die Streitkräfte zurückzugewinnen; und viertens die afghanischen Öffentlichkeit Amerikas langfristiger Absichten zu versichern. Außerdem müssen die politisch Verantwortlichen betonen, dass es sich die Vereinigten Staaten und ihre Bündnispartner angesichts eines unberechenbaren Pakistan im Osten Afghanistans und eines immer selbstbewusster agierenden Iran im Westen nicht leisten können, Afghanistan zu verlieren.

Ein Scheitern in Afghanistan würde die Glaubwürdigkeit der Vereinigten Staaten und ihr Prestige als Weltmacht weiter beschädigen und das Land noch größeren internationalen Bedrohungen aussetzen. Für die Nato wiederum würde ein Scheitern in Afghanistan das Ende des erfolgreichsten Militärbündnisses in der Geschichte bedeuten. Damit würde ein Scheitern in Afghanistan die transatlantischen Beziehungen und die internationale Stabilität ernsthaft gefährden, da die Nato ein Kernelement der weltweiten Sicherheit bleibt.

Für das afghanische Volk würde ein Scheitern eine weitere tragisch verpasste Chance bedeuten. Sollte die Mission nicht gelingen, wird die Geschichtsschreibung festhalten, dass die Beharrlichkeit und das Engagement beim Wiederaufbau der Nation nach dreißig Jahren Konflikt nicht mit einer internationalen Gemeinschaft zu vereinbaren war, die zu viele Versprechungen machte und zu wenige davon einhielt.

Letztlich wäre ein Scheitern in Afghanistan eine kollektive Niederlage für alle direkt oder indirekt Beteiligten – mit beunruhigend unvorhersehbaren Folgen. Das unterstreicht, weshalb in und für Afghanistan deutlich mehr Effizienz und Engagement erforderlich sind. Notwendig ist die langfristige Selbstverpflichtung der internationalen Gemeinschaft – in erster Linie der Vereinigten Staaten und ihrer Nato-Bündnispartner –, in Afghanistan nicht aufzugeben. Bleibt diese Selbstverpflichtung aus, werden die Folgen für die regionale Stabilität und die Weltordnung schwer wiegen.

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