Achtung, Etablierte! Am nächsten Koalitionsvertrag arbeiten wir schon



Die Euphorie war groß. In den Feuilletons der deutschen Zeitungen arbeiteten sich echte und selbst ernannte Philosophen, Denker und Schriftsteller an der Frage ab, ob und wie sich die Politik mit dem Umzug aus dem provinziellen Bonn in die einzige deutsche Metropole verändern werde. Alle Ängste, die auch schon bei der allgemeinen Umzugsdebatte seit Anfang der neunziger Jahre eine Rolle gespielt hatten, wurden noch einmal gehegt. Würde Berlin zum Symbol deutscher Großmannssucht, eines neuen nationalen Sendungsbewusstseins werden? Dagegen stand die Hoffnung, dass sich die deutsche Politik endlich aus ihrer Selbstgeißelung befreien, zu einem normalen Umgang mit sich selbst und ihrer internationalen Rolle finden könnte. Irgendwann tauchte der Begriff der „Berliner Republik“ auf und befriedigte das Bedürfnis, dem neuen Deutschland einen Namen zu geben.

Vermeintliche Linke, immertreue Rechte

In dieser Zeit, zur Jahreswende 1998/99, fanden sich im heimeligen Bonn sechs mit der Kanzlerflut in den Bundestag gespülte SPD-Abgeordnete wieder. Schnell entdeckten wir Gemeinsamkeiten, vor allem den Unmut darüber, dass der Koalitionsvertrag von anderen ausgehandelt worden war. Wie also sich Gehör verschaffen, in einer nach 16 Jahren Opposition rauschhaft euphorisierten Fraktion? Dort belagerten die vermeintliche, sich ewig jung fühlende Linke sowie dieimmertreue Rechte einander – alles war irgendwie antiquiert und roch nach den siebziger Jahren. Aber alle waren selbstgewiss und postenbewusst. Nach einigen verqualmten Nächten und vielen Träumereien stand zunächst die politische Seilschaft – das Netzwerk Berlin.


Eine Zeitschrift wurde dann von der Idee zum Projekt. Denn wir brauchten ein Debattenorgan: „Hallo, hier kommen wir!“ Nur ein prägnanter, alle Ansprüche abdeckender Name musste noch her. Der Autor versichert, dass die Idee, das Blatt Berliner Republik zu nennen, weit vor der ersten Erwähnung des Begriffs in gewichtigen Feuilletons geboren wurde (zumindest war er uns mangels Lesegewohnheit wohl nicht zu Gesicht gekommen).


Bonn war für uns nur ein Zwischenschritt auf dem Weg in die große Stadt, die neue Zeit, das einflussreichere Wirken. Berlin also im Kopf, eine neue Zeit vor uns, die mit uns zog und die wir besetzen und bestimmen wollten – das waren wir. Berliner Republik – was hätte näher gelegen? Mit dem unerwartet professionellen Heft steckten wir unser Terrain ab, hinterließen unsere Duftmarke.


Wie sieht nach fünf Jahren Berliner Republik die Bilanz aus? Zum einen: Sicher, die Republik hört noch immer nicht auf uns. Genauso wenig überließ uns die SPD-Spitze 2002 die Ausarbeitung des Koalitionsvertrages (ein Fehler übrigens, wie sich im Nachhinein herausgestellt hat). Aber immerhin: Die Zeitschrift lebt wider Erwarten (und Hoffen einiger) noch immer. Und sie wird sogar immer besser.


Und die Berliner Republik? Die politische, von unserem Kanzler beliebäugelte? Sie hat sich gemausert. Die Revolution wurde zwar nicht gleich ausgerufen, nicht die gesamte Ordnung der schönen alten Bundesrepublik ausgehebelt. Auch das Grundgesetz ist immer noch (fast) das gleiche. Immer noch sitzen mehrere tausend Beamte in ihrem verschlafenen Domizil am Rhein und schreiben Vermerke, die den Abgeordneten wie Botschaften aus der guten alten Zeit vorkommen. Auch die Hin- und Herfliegerei geht weiter. Es haben sich also nicht alle Erwartungen erfüllt.


Doch der Sound der Politik ist in Berlin ein anderer geworden. Die Berichterstattung ist schneller, die Klüngel zwischen den etablierten Mandatsträgern und den sonoren Berichterstattern wurden aufgebrochen durch den anfänglichen Versuch einiger Berliner Tageszeitungen, endlich richtige Überregionale zu werden. Hintergrund und „unter drei“ – das gibt es heute nur noch sehr eingeschränkt. Die Außenpolitik tritt endlich ohne Komplexe auf und vertritt unsere Interessen selbstbewusst, innenpolitisch wiederum ist die Republik endlich in der Neu- und Echtzeit angekommen: Zuwanderungsgesetz, Steuerreform, Hartz IV – es geht was in Deutschland.


Die Berliner Republik, das ist vor allem auch die Republik des Ostens. Schließlich ist die Haupstadt vom Osten umzingelt. Was vorher fremd war und hinten weit entfernt, das liegt jetzt direkt vor der Haustür. Unmerklich also haben wir Ossis uns dem Geschehen genähert, uns praktisch diese hassgeliebte Republik einverleibt und den Namen bestimmt. Selbst die größten Ignoranten, für die sich seit der Wende nichts geändert hatte, müssen nun irgendwie durch diesen unbekannten Korridor der Brüder und Schwestern und sich mit ihm auseinandersetzen – eine Auseinandersetzung freilich, die sich die Bundesregierung mit Hilfe eines Beauftragten vom Leib zu halten sucht.

Endlich ist der Osten vorn

Dennoch: Mit Sicherheit liegt hier die größte Veränderung und wider Erwarten ein Schritt in die Einheit. Die Kolleginnen und Kollegen im Westen haben gemerkt: Auch sie müssen sich ändern. Endlich ist der Osten vorn, denn zumindest diese Erfahrung haben wir ja schon reichlich gemacht.


Die Auseinandersetzung mit den Veränderungen von Wirtschaft und Gesellschaft und deren Einfluss auf die gesamte Bundesrepublik hat die Berliner Republik in den vergangenen Jahren wie kein anderes Blatt immer wieder beleuchtet. Dies nicht nur kurz vor Wahlen und auch nicht nur, wenn Kommission oder irgendwelche Experten ihre (dann doch wieder ignorierten) Berichte zur Kenntnis gaben. In der kontinuierlichen und unaufgeregten Ausleuchtung „Dunkeldeutschlands“ liegt auch der Kern des Erfolgs der Berliner Republik: Sie bietet Platz, den andere nicht haben. Und sie beschäftigt sich auch mit Themen, für die bei anderen kein Platz ist – weil die Schlagzeile nicht knallig genug wäre oder sich nicht genug Zoff herauslesen ließe. So bleibt Ruhe für Analyse, für Diskussion und Meinungsbildung. Mein persönliches Prädikat lautet daher „Besonders wertvoll, unbedingt weiter förderungswürdig“.


Was bleibt? Natürlich, die Hoffnung auf den nächsten Koalitionsvertrag 2006 ff. Achtung, Ihr Etablierten: Wir arbeiten schon daran!

zurück zur Ausgabe